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Lynn trat aus dem Haus und schaute zum Himmel empor. Die Sonne ging eben unter; der Himmel war von einem glasigen Leuchten überzogen. Eine bedrückende Ruhe lag über der Landschaft. Es war die Ruhe vor einem Sturm.

Sie durfte ihren Entschluss nicht mehr länger hinausschieben. Sie musste Rowley reinen Wein einschenken. Ihm zu schreiben, wäre feige gewesen. Sie war ihm eine offene Aussprache schuldig.

Dies bedeutet den Abschied von meinem bisherigen Leben, sagte Lynn zu sich selbst. Denn das Leben mit David würde einem Spiel gleichen. Sie hatte ihre Wahl getroffen und war doch nicht froh darüber. David heiraten, hieß einem Abenteuer entgegengehen. Und das Abenteuer konnte ebenso gut glücklich wie traurig enden. Vor wenigen Stunden hatte David sie angerufen.

»Ich dachte, ich dürfte dich nicht an mich ketten, Lynn. Aber ich war ein Narr. Ich bringe es nicht über mich, von dir wegzugehen. Wir fahren nach London, besorgen uns eine Lizenz und heiraten auf der Stelle. Und Rowley teilen wir die Neuigkeit erst mit, wenn du Mrs David Hunter bist.«

Aber damit war sie nicht einverstanden gewesen. Sie wollte selbst mit Rowley sprechen, und nun war sie auf dem Weg zu ihm.

Rowley öffnete ihr die Tür und trat erstaunt einen Schritt zurück.

»Lynn! Warum hast du nicht vorher angerufen und gesagt, dass du kommst. Um ein Haar hättest du mich nicht angetroffen.«

»Ich muss mit dir reden, Rowley. Ich werde David Hunter heiraten.«

Sie hatte empörten Protest, Wut, jede nur denkbare heftige Reaktion erwartet, nur nicht die, die sie jetzt erlebte.

Rowley sah sie einen Augenblick stumm an. Dann drehte er sich um und stocherte mit dem Schürhaken die Glut im Kamin auf. Erst dann wandte er sich wieder ihr zu.

»Du heiratest David Hunter? Und warum?«

»Weil ich ihn liebe.«

»Das ist nicht wahr. Du liebst mich.«

»Ich habe dich geliebt, Rowley, bevor ich wegging. Aber vier Jahre sind eine lange Zeit. Und ich habe mich geändert. Nicht nur ich, auch du hast dich geändert.«

»Nein, ich habe mich nicht geändert. Ich bin hier geblieben, habe tagaus, tagein das gleiche Leben geführt. Ein schönes, sicheres Leben ohne Gefahren, wie?«

Die Adern an seiner Stirn schwollen. Langsam stieg ihm das Blut ins Gesicht, und in seine Augen trat ein Ausdruck zügellosen Zorns.

»Rowley – «

»Sei ruhig. Jetzt rede zur Abwechslung einmal ich. Ich bin um alles gekommen, was mir zugestanden hätte. Ich habe nicht für mein Vaterland kämpfen dürfen; ich habe meinen besten Freund im Krieg verloren, und ich habe mein Mädchen, meine Braut, in der Uniform umherstolzieren sehen, während ich der Tölpel war, der auf seiner Scholle hockte und in dumpfer Ergebenheit seinen Acker pflügte. Mein Leben war die Hölle, Lynn. Und seit du zurück bist, ist es schlimmer als die Hölle, Lynn. Seit ich an jenem Abend bei Tante Kathie euch zwei beobachtet habe, David und dich, wie ihr euch angeschaut habt. Aber merk dir eins: Er soll dich nicht haben. Wenn ich dich nicht haben kann, soll niemand dich haben.«

»Rowley – «

Lynn hatte sich erhoben und ging langsam, Schritt um Schritt, rückwärts zur Tür. Dieser Mann war nicht länger Rowley Cloade. Er war wie ein wildes Tier.

Rowley war neben ihr. Seine Hände schlossen sich um ihre Kehle.

»Ich habe zwei Menschen ermordet«, klang es an ihr Ohr. »Glaubst du, ich werde davor zurückschrecken, einen dritten Mord auf mein Gewissen zu laden?«

Seine Hände umschlossen ihre Kehle fester. Es flimmerte vor Lynns Augen, dann wurde alles schwarz, sie war dem Ersticken nahe…

Und da, plötzlich, hustete jemand leise. Ein kurzes, gekünsteltes Husten.

In der Tür stand Hercule Poirot, ein um Entschuldigung bittendes Lächeln spielte um seine Lippen.

»Ich hoffe, ich störe nicht?«, sagte er höflich.

Einen Augenblick schien die Atmosphäre zum Zerreißen gespannt. Dann sagte Rowley mit müder Stimme:

»Sie sind im richtigen Augenblick gekommen. Es stand auf Messers Schneide.«

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