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Eine Woche später entstieg dem Zug, der um fünf Uhr zwanzig nachmittags in Warmsley Heath hält, ein Mann mit einem Rucksack.

Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig warteten mehrere Golfspieler auf den Gegenzug. Der hoch gewachsene, bärtige Mann mit dem Rucksack gab seine Fahrkarte ab und trat auf den Platz vor dem Bahnhof. Ein paar Minuten stand er unschlüssig da, dann fiel sein Blick auf das Schild mit dem Hinweis: »Fußweg nach Warmsley Vale«, und er machte sich auf den Weg.

In Long Willows hatte Rowley sich eben eine Tasse Tee gebraut, als ein Schatten über den Küchentisch fiel und ihn veranlasste, aufzublicken.

Falls er erwartet hatte, das Mädchen vor der Tür sei Lynn, so dauerte seine Enttäuschung nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie Erstaunen Platz machte, denn die weibliche Gestalt war Rosaleen Cloade.

Sie trug ein Kleid aus gestreiftem, grob gewebtem Leinen, eines dieser einfach aussehenden Stücke, die mehr kosten, als Rowley sich jemals hätte träumen lassen.

Bisher hatte er Rosaleen nur in eleganten Modellen gesehen, die sie trug wie ein etwas unsicheres Mannequin. Das grün und orange gestreifte Leinenkleid verwandelte sie zu ihrem Vorteil. Es unterstrich ihre blauen Augen und die dunklen Haare. Selbst ihre Stimme schien von der Verwandlung angesteckt und natürlicher zu sein als sonst.

»Es ist solch ein herrlicher Nachmittag«, erklärte sie. »Da habe ich einen Spaziergang gemacht. David ist in London«, fügte sie hinzu.

Sie sagte es beinahe schuldbewusst. Dann nahm sie eine Zigarette aus ihrer Tasche und bot auch Rowley eine an. Er nahm ihr das kostbar aussehende goldene Feuerzeug aus der Hand und brachte es mit einer Bewegung zum Brennen. Als Rosaleen sich über die Flamme beugte, fielen ihm ihre langen, seidigen Wimpern auf, und er dachte: Gordon wusste, was er tat…

»Ein hübsches Kälbchen haben Sie da auf Ihrer Wiese«, sagte Rosaleen. Erstaunt über ihr Interesse an ländlichen Dingen, begann Rowley über die Farm zu erzählen. Ihr Interesse war nicht geheuchelt. Rowley fand bald heraus, dass sie vom Farmwesen allerhand verstand. Melken und Buttern waren ihr vertraute Begriffe.

»Sie gäben ja eine prächtige Farmersfrau ab, Rosaleen«, erklärte er lachend.

»Wir hatten eine Farm… in Irland… bevor ich hierher kam.«

Ihr Gesicht überschattete sich.

»Bevor Sie zur Bühne gingen?«

»Es ist noch nicht lange her«, meinte Rosaleen. »Ich erinnere mich noch an alles. Wenn es sein müsste, könnte ich jetzt, auf der Stelle, Ihre Kühe melken, Rowley.«

Das war eine neue Rosaleen. Ob David Hunter wohl mit der Offenbarung der ländlichen Vergangenheit seiner Schwester einverstanden gewesen wäre? Rowley bezweifelte das. Irischer Landadel, das war der Eindruck, den David zu erwecken wünschte. Rosaleens Version kam der Wahrheit näher, davon war er überzeugt. Hartes Bauernleben, dann die Versuchung des Theaters, die Tournee nach Südafrika, Heirat, darauf Trennung, dann ein Weilchen zielloses Umherirren und endlich neuerliche Heirat mit einem Millionär in New York…

»Würde Ihnen ein Rundgang über die Farm Freude machen?«, fragte Rowley.

»O ja!« Ihre Augen leuchteten richtig auf.

Amüsiert von ihrem eifrigen Interesse führte Rowley sie herum. Doch als er schließlich vorschlug, nun für sie beide Tee zu machen, sah sie plötzlich schuldbewusst drein und meinte, es sei höchste Zeit für sie, heimzukehren. Sie schaute auf ihre Uhr und rief entsetzt:

»Mein Gott, wie spät es schon ist! David kommt mit dem 5-Uhr-20-Zug zurück. Er wird sich wundern, wo ich stecke.«

Und schüchtern fügte sie hinzu: »Es war ein schöner Nachmittag, Rowley.«

Rowley sah ihr nach, wie sie eilig den Weg nach Hause einschlug. Sie hatte wirklich einen schönen Nachmittag verbracht. Ausnahmsweise hatte sie sein dürfen, wie sie war, ungekünstelt und natürlich, ein einfaches, hübsches Mädchen aus ländlicher Umgebung. Sie hatte Angst vor David, daran war nicht zu zweifeln. David regierte in dieser Gemeinschaft. Und heute war er fort, und sie hatte ihre Freiheit genossen wie ein Dienstbote, der einmal in der Woche Ausgang hat. Die reiche Mrs Gordon Cloade!

Er lächelte grimmig, als er ihr nachsah. Kurz bevor Rosaleen den Zaun auf halber Höhe des Hügels erreichte, kletterte ein Mann darüber. Im ersten Augenblick meinte Rowley, David zu sehen, doch dann erkannte er, dass der Mann größer und stärker war. Rosaleen trat zurück, um den Mann vorbeizulassen, dann sprang sie über den Zaun und rannte den Rest der Strecke.

Rowley stand noch eine Weile in Gedanken versunken da. Eine fremde Stimme riss ihn aus seinen Träumen.

Ein hoch gewachsener Mann mit einem Filzhut auf dem Kopf und einem lässig über die Schulter geworfenen Rucksack stand auf dem Fußweg jenseits des Gatters.

»Ist dies der Weg nach Warmsley Vale?«, erkundigte sich der Fremde.

»Ja, halten Sie sich nur immer an den Pfad. Quer über dieses Feld dort, dann kommen Sie zur Landstraße. Da wenden Sie sich nach rechts, und in ein paar Minuten sind Sie mitten im Dorf.«

Hunderte von Malen hatte er die gleiche Auskunft erteilt.

Die nächste Frage war nicht so üblich, doch beantwortete Rowley sie, ohne ihr weitere Beachtung zu schenken.

»Im ›Hirschen‹ oder im ›Glockenhof‹. Sie sind beide gleich gut – oder gleich schlecht, wie man’s nimmt. In einem von beiden Hotels kriegen Sie sicher ein Zimmer für die Nacht.«

Rowley betrachtete sich den Fragesteller genauer. Der Mann war auffallend groß, hatte blaue Augen, ein von der Sonne gebräuntes Gesicht und einen Bart. Er sah nicht schlecht aus, wenn auch etwas derb und draufgängerisch. Er gehörte jedenfalls nicht zu den Menschen, die gleich auf den ersten Blick vorbehaltlos Sympathien erwecken.

Wahrscheinlich kommt er von Übersee, dachte Rowley. Ihm schien, als spräche der Fremde mit einem Akzent, der ein wenig an die Kolonien erinnerte. Sonderbar, aber das Gesicht kam ihm nicht völlig fremd vor.

»Können Sie mir sagen, ob es hier in der Nähe ein Haus namens Furrowbank gibt?«

»Ja, dort oben auf dem Hügel«, erwiderte Rowley. »Sie müssen daran vorbeigekommen sein, wenn Sie zu Fuß vom Bahnhof hergegangen sind.«

»Das große, neu aussehende Haus auf dem Hügel? Das ist es also.«

Der Mann wandte sich um und schaute zu Furrowbank hinauf.

»Es muss eine Menge kosten, so ein Anwesen zu unterhalten.«

Allerdings, dachte Rowley, und es ist unser Geld! Ärger überflutete ihn einen Moment und ließ ihn vergessen, dass er sich in

Gesellschaft eines Fremden befand. Als er sich wieder zusammenriss, fiel ihm der sonderbare Ausdruck in den Augen des Mannes auf, der immer noch das Haus auf dem Hügel anstarrte.

»Wohnt dort nicht eine gewisse Mrs Cloade?«, fragte er.

»Stimmt«, bestätigte Rowley. »Mrs Gordon Cloade.«

Die Brauen des Fremden zogen sich erstaunt in die Höhe. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seinen Mund.

»Ach, Mrs Gordon Cloade. Da hat sie ja Glück gehabt.« Er nickte Rowley zu. »Danke für die Auskunft«, und den Rucksack zurechtschiebend, setzte er seinen Weg nach Warmsley Vale fort.

Rowley wandte sich langsam wieder seinem Haus zu. Wo hatte er dieses Gesicht nur schon gesehen? Der Gedanke ließ ihn nicht los.

Gegen halb zehn Uhr am Abend des gleichen Tages erhob sich Rowley vom Tisch, der von einer Unzahl Formulare bedeckt war, warf einen Blick auf Lynns Bild auf dem Kamin und verließ dann nachdenklich das Haus.

Zehn Minuten später stieß er die Tür zur Wirtsstube des Hotels »Zum Hirschen«, auf. Beatrice Lippincott nickte ihm hinter der Theke zu. Bei einem Glas Bier tauschte Rowley die üblichen Bemerkungen über das Wetter, die Fehler der augenblicklichen Regierung und die Ernte aus. Nach einem Weilchen gelang es ihm, sich näher an Beatrice heranzupirschen und sie leise zu fragen:

»Ist heute nicht ein Fremder angekommen? Großer Mann. Verbeulter Hut.«

»So gegen sechs Uhr ist ein Gast gekommen. Der könnte es sein, Mr Rowley.«

»Den meine ich. Er kam bei mir vorbei und fragte nach dem Weg.«

»Er scheint hier in der Gegend nicht bekannt zu sein«, bemerkte Beatrice.

»Ich war neugierig, wer es wohl sein könnte.«

Er lächelte Beatrice an, und Beatrice lächelte, zurück.

»Nichts leichter als das, Mr Rowley, wenn Ihnen daran liegt, es zu wissen.«

Sie holte unter der Theke ein großes, in braunes Leder gebundenes Buch hervor, in das die ankommenden Gäste eingeschrieben wurden. Die letzte Eintragung lautete:

Enoch Arden. Kapstadt. Britischer Staatsangehöriger.



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