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Als Poirot am Abend dieses Tages in den »Hirschen«, zurückkehrte, blies ein scharfer Ostwind. Fröstelnd betrat der Detektiv die – wie stets – verlassen und öde daliegende Halle.

Er stieß die Tür zum Salon auf, aber das nur noch glimmende Feuer im Kamin und der unangenehme Geruch erkalteter Zigarrenasche waren wenig verlockend.

Poirot durchschritt die Halle und öffnete die Tür mit der Aufschrift: »Nur für Gäste.«

Hier knisterte ein behagliches Feuer im Kamin, aber in einem der Sessel hatte sich eine alte Dame von Achtung gebietendem Umfang niedergelassen, und der empörte Blick, den sie dem Eindringling zuwarf, war so durchdringend, dass Poirot sich nur widerstrebend näherte.

»Dieser Salon ist für die Gäste des Hotels reserviert«, belehrte sie ihn mit zürnender Stimme.

»Ich gehöre zu den Gästen des Hotels«, klärte Poirot sie höflich auf.

Die alte Dame überdachte das Gehörte einen Augenblick, bevor sie ihre Attacke wieder aufnahm.

»Sie sind ein Ausländer«, war ihre nächste, keineswegs freundliche Feststellung.

»Jawohl.«

»Meiner Meinung nach sollten sie alle zurückgehen«, trompetete die alte Dame.

»Zurückgehen? Wohin?«, erkundigte sich Poirot verständnislos.

»Dorthin, woher sie gekommen sind.«

Und mit etwas gedämpfter Stimme und verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln fügte sie hinzu:

»Ausländer!«

»Das dürfte schwer sein.«

Poirot behielt seinen zurückhaltend höflichen Ton bei.

»Unsinn«, wies die alte Dame ihn zurecht. »Dafür haben wir schließlich den Krieg geführt. Dafür haben wir gekämpft, dass jeder wieder dahin zurückgeht, wohin er gehört, und dort bleibt.«

Poirot verzichtete auf eine Diskussion über dieses heiß umstrittene Thema. Er hatte längst festgestellt, dass jeder eine andere Auffassung darüber hatte, »wofür der Krieg ausgefochten« worden war.

Ein Weilchen herrschte ziemlich feindselig anmutendes Schweigen.

»Ich weiß nicht, wozu das alles noch führen soll«, nahm nach einiger Zeit die alte Dame das Gespräch wieder auf. »Ich komme jedes Jahr für einen Monat her. Mein Mann starb hier vor sechzehn Jahren. Er liegt hier begraben. Und sooft ich komme, ist es schlimmer bestellt um dieses Hotel. Das Essen ist bald ungenießbar. Wiener Schnitzel! Dass ich nicht lache. Schnitzel! Das hat es früher nicht gegeben, solchen Firlefanz. Rumpsteak oder Filetsteak, aber nicht gehacktes Pferdefleisch!«

Poirot nickte in betrübtem Einverständnis.

Die alte Dame hüstelte und überließ sich dann mit ungezügelter Energie ihrem Ärger, froh, in Poirot einen Zuhörer gefunden zu haben.

»Und wie die Frauen heutzutage rumlaufen! In Hosen! Du lieber Himmel, sie würden darauf verzichten, könnten sie sich von hinten sehen. Und wie sie sich gebärden, es ist eine Schande. Laufen jedem Mannsbild nach, das sie nur von weitem sehen. Keine Röcke mehr, wie sich’s gehört, kein ordentliches Benehmen mehr. Und was tragen sie auf dem Kopf? Keinen Hut, Gott bewahre, nein, irgendein buntes Stück Tuch wickeln sie sich um ihr gefärbtes Haar. Dazu schmieren sie sich Schminke ins Gesicht und lackieren sich nicht nur die Fingernägel, sondern auch noch die Fußnägel. Pfui Teufel! Als ich jung war, führte man sich anders auf.«

Poirot musterte die erzürnte, grauhaarige alte Dame verstohlen. Es schien ihm unvorstellbar, dass sie einmal jung gewesen sein sollte.

»Steckte doch neulich eines von diesen frechen Dingern den Kopf da zur Tür herein. Einen orangenen Schal um den Kopf geschlungen, Hosen an und das Gesicht ein einziger Farbfleck von Rouge und Puder. Ich hab ihr einen Blick zugeworfen! Nur einen Blick! Aber sie hat sofort verstanden und ist verschwunden.«

Ein Schnauben der Entrüstung wurde eingeschaltet. Dann ging es weiter.

»Sie gehörte nicht zu den Gästen des Hotels. Diese Sorte wohnt zum Glück noch nicht hier. Was hatte sie dann im Zimmer eines Mannes zu suchen, frage ich Sie? Widerlich ist das, jawohl. Ich habe mich bei der Lippincott beschwert, aber die ist nicht viel besser als der Rest. Die läuft eine Meile weit, wenn es um ein Mannsbild geht.«

Ein Anflug von Interesse erwachte in Poirot.

»Sie kam aus dem Zimmer eines Mannes?«, erkundigte er sich.

Die alte Dame spann nur zu gern ihr Lieblingsthema weiter.

»Aus dem Zimmer eines Mannes, jawohl. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Aus Nummer 5.«

»Wann war das, Madame? Ich meine, an welchem Tag?«

»Am Tag, bevor die Geschichte mit dem Mord hier das Unterste zuoberst kehrte. Ich begreife nicht, wie so etwas in einem anständigen Hotel geschehen kann.«

»Und um welche Tageszeit war es?«, forschte Poirot behutsam weiter.

»Tageszeit? Abend war es. Spät am Abend obendrein. Nach zehn Uhr. Ich bin meiner Sache ganz sicher, denn ich gehe jeden Abend um Viertel nach zehn zu Bett. Und an jenem Abend, gerade wie ich die Treppe hinaufgehe, kommt dieses Frauenzimmer aus Nummer 5 heraus, ohne sich im geringsten zu schämen. Starrt mich an, dreht sich dann um und unterhält sich mit dem Mann bei offener Tür.«

»Sie haben ihn gesehen oder sprechen gehört?«

»Gesehen nicht, aber gehört. ›Mach, dass du wegkommst, ich hab genug von dir.‹ Das hat er gesagt. Eine schöne Art, mit Frauen umzugehen, ist das, aber diese Sorte will ja nichts anderes.«

»Und Sie haben diese Beobachtung nicht der Polizei mitgeteilt?«, fragte Poirot mit leisem Vorwurf.

Ächzend erhob sich die alte Dame. Poirot mit einem stählernen Blick abgrundtiefer Verachtung bedenkend, sagte sie:

»Ich habe noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Ich und die Polizei!«

Zitternd vor Empörung, das Haupt stolz erhoben, verließ sie den Salon.

Poirot überließ sich ein Weilchen seinen Gedanken, bevor er sich aufmachte, um Beatrice Lippincott zu suchen.

»Sie meinen die alte Mrs Leadbetter«, antwortete sie auf seine Frage nach der alten Dame. »Sie kommt jedes Jahr her. Ganz unter uns: Sie ist eine Plage. Sie stößt die anderen Gäste manchmal schrecklich vor den Kopf mit ihrer rücksichtslosen Kritik. Und sie will einfach nicht einsehen, dass sich die Zeiten, und damit die Moden, geändert haben. Sie ist an die achtzig, da kann man natürlich auch nicht mehr viel Einsicht verlangen.«

»Aber sie ist noch bei klarem Verstand?«

»Klarer als einem manchmal lieb ist«, erwiderte Beatrice lachend.

»Wissen Sie, wer die junge Dame gewesen sein könnte, die den Ermordeten am Dienstagabend besucht hat?«

Beatrice sah ihn verständnislos an.

»Ich hatte keine Ahnung, dass Mr Arden überhaupt Besuch von einer Dame bekommen hat. Wie sah sie aus?«

»Sie hatte einen orangefarbenen Turban um den Kopf geschlungen, trug Hosen und war ziemlich stark geschminkt, wenn ich recht unterrichtet bin. Sie muss am Dienstagabend um Viertel nach zehn bei Arden im Zimmer gewesen sein.«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, Mr Poirot.«

Hercule Poirot machte sich auf den Weg zu Inspektor Spence, den er von der neuen Entdeckung unterrichtete.

»Cherchez la femme«, sagte Spence. »Immer das Gleiche.«

Er holte den Lippenstift hervor, der in Zimmer Nummer 5 gefunden worden war.

»Es sieht also doch so aus, als ob ein Außenseiter mit der Sache zu tun hat«, meinte er. »Dieser abendliche Besuch einer Frau schaltet David Hunter als Täter aus.«

»Wieso?«, erkundigte sich Poirot.

»Der junge Mann hat sich endlich bequemt, über seinen Aufenthalt am fraglichen Tag Rechenschaft abzulegen«, erwiderte Spence. »Hier ist sein Bericht.«

Er reichte Poirot ein Blatt Papier.

Verließ London um 4 Uhr 16 mit dem Zug nach Warmsley Heath, hieß es da. Ging über den Fußpfad nach Furrowbank.

Er sei noch mal hergekommen, um ein paar Sachen, die er in Furrowbank vergessen hatte, zu holen, warf der Inspektor erklärend ein. »Ein paar Briefe, sein Scheckbuch und etwas Wäsche.«

Verließ Furrowbank um 7 Uhr 52, bin dann spazieren gegangen, da ich den 7-Uhr-20-Zug verpasst hatte und der nächste Zug erst um 9 Uhr 20 ging.

»Welche Richtung schlug er bei seinem Spaziergang ein?«, fragte Poirot.

Der Inspektor zog seine Notizen zu Rate und beschrieb dann die von David Hunter angegebene Route.

»Als er oben am Hügelkamm entlangspazierte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich nun beeilen müsse, wollte er den späten Zug nicht auch noch verfehlen. Er rannte zum Bahnhof, erwischte den Zug gerade noch und kam um 10 Uhr 45 in London an. Um elf Uhr war er in seiner Londoner Wohnung, was von Mrs Cloade bestätigt wird.«

»Und welche Bestätigung haben Sie für den Rest seiner Angaben?«

»Herzlich wenig. Rowley Cloade und einige andere sahen ihn in Warmsley Heath ankommen. Das Personal von Furrowbank hatte Ausgang. Er hatte natürlich seinen eigenen Schlüssel. Es sah ihn dort niemand, aber die Mädchen entdeckten später anscheinend einen Zigarettenstummel in der Bibliothek und fanden auch im Wäscheschrank eine unerklärliche Unordnung vor. Einer der Gärtner arbeitete noch spät im Garten und sah ihn von weitem. Und oben beim Wäldchen traf ihn Miss Marchmont, als er zum Bahnhof hinunterrannte.«

»Hat jemand ihn beim Einsteigen in den Zug gesehen?«

»Nein, aber er rief kurz nach seiner Ankunft in London von dort aus Miss Marchmont an. Um fünf Minuten nach elf.«

»Sie haben den Anruf kontrolliert?«

»Ja. Vier Minuten nach elf Uhr wurde Warmsley Vale Nummer 36 – das ist die Nummer der Marchmonts – von London aus verlangt.«

»Sehr interessant«, murmelte Poirot.

Spence hielt sich weiter an sein Notizbuch und ging methodisch alle Angaben durch.

»Rowley Cloade verließ Arden fünf Minuten vor neun. Zehn Minuten nach neun sieht Miss Marchmont David Hunter am Waldrand oben. Selbst wenn wir annehmen, dass er den ganzen Weg vom ›Hirschen‹ bis zum Waldrand hinauf gerannt ist, kann er nicht genügend Zeit gehabt haben, sich mit Arden zu streiten, ihn zu ermorden und dann noch zum Waldrand hinaufzulaufen. Aber abgesehen davon, stehen wir jetzt sowieso wieder am Anfang unserer Untersuchungen. Denn durch die Aussage der alten Dame wissen wir, dass Arden um zehn nach zehn noch am Leben war. Entweder wurde der Mord von der Frau mit dem orangenen Schal, die den Lippenstift verlor, begangen, oder es ist ein uns noch Unbekannter bei Arden eingedrungen, nachdem die Frau ihn verlassen hatte. Wer es auch gewesen sein mag, er hat jedenfalls die Zeiger der Armbanduhr absichtlich zurückgestellt auf zehn Minuten nach neun.«

»Eine Tatsache, die für David Hunter außerordentlich belastend geworden wäre, hätte er nicht das Glück gehabt, auf dem Weg zum Bahnhof Lynn Marchmont zu treffen. Andere Zeugen hätte er nicht gehabt«, warf Poirot ein.

»Woran denken Sie, Monsieur Poirot?«, fragte Spence, von seinen Notizen aufblickend.

»Eine Begegnung am Waldrand… später ein Telefonanruf… und Lynn Marchmont ist mit Rowley Cloade verlobt… Ich gäbe viel darum, wüsste ich, was in diesem Telefongespräch gesagt wurde.«

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