Im »Hirschen« war es üblich, die Gäste zu der von ihnen gewünschten Stunde zu wecken, indem man mit der Faust an die betreffende Tür hämmerte und mit erhobener Stimme mitteilte, dass es halb acht Uhr, oder acht Uhr oder wie spät es eben gerade war, sei. Wünschten die Gäste vor dem Aufstehen eine Tasse Tee, so wurde ein Tablett mit viel Geklirr und Gepolter auf die Matte vor der Tür gestellt.
An jenem bestimmten Mittwoch hämmerte Gladys, das Stubenmädchen, an die Tür von Nummer 5, trompetete, dass es acht Uhr fünfzehn sei, und knallte das Tablett mit dem Tee mit solcher Wucht auf die Matte, dass die Milch überschwappte und um das Milchkännchen einen kleinen See bildete. Gladys ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, weckte weitere Gäste und ging dann ihren sonstigen Morgenarbeiten nach.
Gegen zehn Uhr fiel ihr auf, dass Nummer 5 das Teetablett noch nicht hereingeholt hatte. Sie klopfte mehrmals kräftig an die Tür, wartete ein paar Sekunden und trat, als keine Antwort zu hören war, kurzerhand ein.
Nummer 5 gehörte nicht zu der Sorte Leute, die sich verschliefen, und ihr war gerade eingefallen, dass sich vor dem Fenster dieses Zimmers ein bequemes Flachdach befand. Wer weiß, vielleicht hatte sich der Gast mit einem eleganten Sprung aus dem Staub gemacht, ohne seine Rechnung zu bezahlen.
Doch der Mann, der sich Enoch Arden nannte, hatte keinen Sprung über das Flachdach gemacht. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden in der Mitte des Zimmers, und selbst ohne die geringsten medizinischen Kenntnisse zu besitzen sah Gladys, dass der Mann tot war.
Sie stieß einen schrillen Schrei aus, rannte auf den Korridor hinaus und rief aus Leibeskräften:
»Miss Lippincott… Miss Lippincott… oooh…«
Beatrice Lippincott saß in ihrem Privatzimmer und hielt Dr. Lionel Cloade ihre verletzte Hand hin – sie hatte sich geschnitten –, die der Arzt eben verband.
Gladys riss die Tür auf.
»O Miss Lippincott…«
»Was ist denn passiert?«, fuhr der Arzt sie an.
»Was gibt’s denn, Gladys?«, erkundigte sich Beatrice.
»Der Herr von Nummer 5, Miss… Er liegt in der Mitte vom Zimmer… tot!«
Dr. Cloade starrte erst Gladys an und dann Miss Lippincott. Miss Lippincott starrte ihrerseits zuerst Gladys an und dann Dr. Cloade.
Schließlich stieß Dr. Cloade brummig aus: »Unsinn!«
»Tot wie eine Maus, die im Wasser schwimmt«, beharrte Gladys, und mit einer gewissen Genugtuung über den ihr noch verbliebenen Trumpf fügte sie hinzu:
»Er is’ übern Kopf geschlagen worden.«
Der Arzt meinte: »Vielleicht wäre es besser, wenn ich…«
»Ja, bitte, Dr. Cloade, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie das möglich sein sollte«, entgegnete Beatrice fassungslos.
Zu dritt machten sie sich auf den Weg, voran Gladys. Dr. Cloade betrat das Zimmer, warf einen Blick auf den am Boden liegenden Mann und kniete dann neben der gekrümmten Gestalt nieder.
Als er sich wieder erhob, schien er wie verwandelt.
»Benachrichtigen Sie die Polizei«, befahl er mit fester Stimme. Beatrice Lippincott verließ stumm das Zimmer. Gladys folgte ihr auf dem Fuß.
»Glauben Sie, dass er ermordet worden ist, Miss?«, flüsterte sie mit beinahe erloschener Stimme.
»Halten Sie den Mund, Gladys«, wies Beatrice sie zurecht und nestelte erregt an ihrem Haarknoten herum. »Etwas als Mord zu bezeichnen, bevor man sicher ist, dass es sich wirklich um Mord handelt, ist Verleumdung, und man kann Sie für solch dummes Gerede vor Gericht bringen.« Etwas milder setzte sie hinzu: »Gehen Sie in die Küche, und stärken Sie sich mit einer Tasse Tee.«
»O ja, Miss, ich kann’s gebrauchen. Mir ist ganz übel von dem Anblick. Ich bring Ihnen auch eine Tasse.«
Ein Angebot, das Beatrice Lippincott nicht ablehnte.