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»Wann fahren wir nach London zurück, David? Und wann nach Amerika?«

David Hunter warf seiner Schwester über den Frühstückstisch hinweg einen überraschten Blick zu.

»Wozu die Eile? Gefällt es dir hier denn nicht?«

Sein Blick umfasste den Raum, während er sprach. Furrowbank war auf einem Hügel erbaut, und durch die hohen Fenster hatte man einen herrlichen Blick über die träumende englische Landschaft. Ein sanft abfallender Abhang war mit Tausenden von Narzissen bepflanzt. Sie waren beinahe verblüht, aber der Schimmer der goldgelben Blüten hob sich noch in starkem Kontrast vom Grün des Rasens ab.

Geistesabwesend ihr Brot zerkrümelnd, sagte Rosaleen:

»Du hast selbst gesagt, wir würden so bald wie möglich nach Amerika gehen.«

»Ja, aber es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Man bekommt nur sehr schwer Plätze. Wir können keine wichtigen Geschäfte vorgeben, also müssen wir warten. Das sind Folgeerscheinungen des Krieges.«

Die Gründe, die David anführte, klangen – obwohl sie den Tatsachen entsprachen – ihm selbst wie Ausflüchte in den Ohren. Ob Rosaleen wohl denselben Eindruck hatte? Warum hatte sie sich plötzlich in den Kopf gesetzt, nach Amerika zu fahren?

»Du hast gesagt, wir brauchten nur für kurze Zeit hier zu bleiben«, murmelte Rosaleen mit gesenktem Kopf.

»Was hast du gegen Warmsley Vale?«, fragte David. »Furrowbank ist doch herrlich. Heraus mit der Sprache: Was passt dir hier nicht?«

»Sie passen mir nicht, sie, die Cloades. Keiner von ihnen.«

»Und mir bereitet es gerade ein ganz besonderes Vergnügen, ihre erzwungene Höflichkeit zu beobachten und dabei zu sehen, wie sie der Neid und die Missgunst innerlich zerfressen. Lass mir mein Vergnügen, Rosaleen.«

Rosaleen schaute verwirrt auf.

»Du solltest nicht so reden, David. Es gefällt mir nicht, was du da sagst.«

»Sei doch vernünftig, Mädchen. Wir sind genug herumgestoßen worden, du und ich. Die Cloades waren immer auf Samt und Seide gebettet. Sie haben sich’s auf Kosten vom lieben Onkel Gordon wohl sein lassen. Kleine Schmeißfliegen, die als Parasiten von der großen Schmeißfliege gelebt haben. Ich hasse diese Sorte Menschen. Ich habe sie immer gehasst.«

»Nicht doch, David.« Rosaleen war zutiefst erschrocken. »Es ist schlecht, andere Menschen zu hassen. Das darf man nicht.«

»Ach, du Unschuldslamm! Bildest du dir ein, sie hassen dich nicht?«

»Sie waren nicht unfreundlich zu mir«, wandte Rosaleen zweifelnd ein.

»Aber sie würden was darum geben, könnten sie sich’s leisten, unfreundlich zu dir zu sein.« Er lachte. »Hätten sie nicht Angst um die eigene Haut, wärst du vielleicht längst eines Morgens mit einem Messer im Rücken aufgefunden worden.«

Rosaleen schauderte.

»Schrecklich! Wie kannst du nur so etwas sagen, David?«

»Vielleicht nicht gerade ein Messer. Eher traue ich ihnen Strychnin in der Suppe zu.«

Rosaleens Lippen begannen zu zittern.

David wurde wieder ernst.

»Mach dir keine Gedanken, Rosaleen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin da. Ich passe schon auf dich auf.«

»Aber wenn es wahr ist, was du sagst… dass sie uns hassen, meine ich…« Rosaleen suchte hilflos nach Worten. »Dann wäre es doch erst recht besser, wir gingen weg von hier. Nach London, dort wären wir sicher vor ihnen.«

»Das Leben auf dem Land tut dir gut, Rosaleen. Du weißt, wie nervös dich London gemacht hat.«

»Die Bomben… als London bombardiert wurde…« Sie schloss die Augen. »Nie werde ich das vergessen, nie!«

»Natürlich wirst du das vergessen. Nimm dich zusammen, Rosaleen. Es ist vorbei mit den Bombardierungen.«

Er stand auf, nahm Rosaleen bei den Schultern und rüttelte sie sanft.

»Der Arzt hat gesagt, Landluft und Landleben für geraume Zeit würden dir gut tun. Deshalb will ich nicht mit dir nach London.«

»Ist das der wirkliche Grund, David? Ich dachte… vielleicht…«

»Was hast du gedacht?«

»Ich dachte, du willst vielleicht ihretwegen hier bleiben.«

»Ihretwegen?«

»Du weißt schon, wen ich meine. Das Mädchen von neulich Abend. Die beim Frauenhilfsdienst war, in Ägypten und überall.«

Davids Gesicht wurde plötzlich abweisend.

»Lynn? Lynn Marchmont?«

»Sie gefällt dir.«

»Lynn Marchmont? Sie ist mit Rowley verlobt. Mit diesem temperamentlosen Daheim-Bleiber Rowley, diesem gutmütigen, langweiligen Ochsen.«

»Ich habe euch beobachtet, wie ihr zusammen gesprochen habt«, spann Rosaleen ihren Faden weiter.

»Ach, hör doch schon auf, Rosaleen!«

»Ihr habt euch seither gesehen, nicht wahr?«

»Ja, ich habe sie gestern oder vorgestern in der Nähe der Farm getroffen, als ich ausritt.«

»Und du wirst sie wieder treffen.«

»Natürlich werde ich sie wieder treffen! Das lässt sich gar nicht vermeiden in diesem Nest. Du kannst keine zwei Schritte tun, ohne über einen Cloade zu stolpern. Wenn du dir einbildest, ich hätte mich in Lynn Marchmont verliebt, dann bist du auf dem Holzweg. Sie ist eine eingebildete Person mit einem unverschämten Mundwerk. Weit entfernt von meinem Typ.«

»Bist du sicher, David?«

»Jawohl.«

»Ich weiß, du hältst nichts vom Kartenlegen.« Sie lächelte halb entschuldigend. »Aber die Karten lügen nicht. Und da war ein Mädchen, das Unruhe ins Haus bringt. Ein Mädchen, das übers Meer kommt. Und außerdem war ein dunkler Fremder da, der sich in unser Leben drängt und Gefahr mit sich bringt. Und die Todeskarte – «

»Du und deine dunklen Fremden!« David lachte laut auf. »Lass dich nicht mit dunklen Fremden ein, das ist mein gut gemeinter Rat für dich. Wie kann man nur so abergläubisch sein.«

Noch lachend schlenderte er aus dem Haus ins Freie, aber kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, verfinsterte sich sein Gesicht, und die schwarzen Brauen zogen sich zusammen.

Rosaleen sah ihm nach, wie er quer durch den Garten auf ein Tor zuging, durch das man auf einen schmalen öffentlichen Weg kam. Dann stieg sie in ihr Zimmer hinauf und stellte sich vor den Schrank. Nie wurde sie müde, ihren neuen Nerzmantel zu betasten und zu streicheln und sich voller Staunen der Freude hinzugeben, ein so herrliches Kleidungsstück zu besitzen. Sie befand sich noch in ihrem Schlafzimmer, als das Mädchen Mrs Marchmont meldete.

Adela saß steif auf einem der Stühle im Salon. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepresst; ihr Herz schlug doppelt so schnell wie sonst. Seit Tagen kämpfte sie mit dem Entschluss, Rosaleen aufzusuchen und um Hilfe anzugehen, aber getreu ihrer Natur zögerte sie jedes Mal von neuem, wenn sie endlich meinte, genügend Mut für das Unternehmen gefasst zu haben. Was sie zusätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, war, dass Lynns Einstellung sich sonderbarerweise verändert hatte, und Mrs Marchmont nun im ausgesprochenen Gegensatz zum Willen ihrer Tochter handelte, als sie sich zu guter Letzt doch aufraffte, bei Gordon Cloades Witwe Erlösung aus ihrer finanziellen Bedrängnis zu erbitten.

Ein weiterer Brief der Bank hatte Mrs Marchmont veranlasst, zur Ausführung des längst gehegten Plans zu schreiten. Es blieb ihr gar keine andere Wahl. Lynn war schon frühzeitig aus dem Haus gegangen, und als Mrs Marchmont David Hunter erspähte, wie er den Fußweg entlangschlenderte, schien der Moment gekommen. Auf keinen Fall wollte sie mit David zu tun haben. Rosaleen allein würde viel leichter zu einer Anleihe zu bewegen sein. Darüber war sich Adela Marchmont im Klaren.

Trotz allem war sie entsetzlich nervös, während sie in dem sonnenüberfluteten Salon wartete. Doch als Rosaleen eintrat und auf ihrem Gesicht das von Mrs Marchmont stets als »leicht blöd«, bezeichnete Lächeln lag, wurde ihr etwas wohler zumute.

Ob sie erst nach dem Schock des Bombardements so geworden ist oder schon immer so war? Mrs Marchmont stellte sich diese Frage nur stumm, während ihre Augen auf der eintretenden Rosaleen ruhten.

»Oh, guten Morgen«, sagte Gordon Cloades Witwe unsicher. »Was gibt es denn?«

»Was für ein herrlicher Morgen«, eröffnete Mrs Marchmont mit betonter Frische die Unterhaltung. »Meine Frühtulpen sind alle schon draußen. Ihre auch?«

Die junge Frau schaute ihren Besuch verlegen an.

»Ich weiß nicht.«

Was fing man nur mit einem Menschen an, der weder über Hunde noch über Gärten zu reden verstand, diese beiden eisernen Bestandteile jeder Konversation auf dem Lande, dachte Adela unbehaglich.

»David ist leider nicht da…«, begann Rosaleen hilflos. Ihre Stimme erstarb gegen Ende des Satzes, als wüsste sie nichts mehr hinzuzufügen, aber auf Adela Marchmont hatten ihre Worte eine alarmierende Wirkung. David konnte jeden Augenblick zurückkehren. Sie musste die Gelegenheit beim Schopf packen. Sie nahm einen Anlauf und platzte heraus:

»Ich bin hergekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«

»Hilfe? Ich soll helfen? Ihnen?«, stammelte Rosaleen.

»Ja. Sehen Sie, für uns ist alles sehr, sehr schwer geworden. Gordons Tod hat unser aller Situation von einem Tag zum anderen grundlegend verändert.«

Du blödes Ding! dachte sie. Musst du mich anstarren, als ob du keine Ahnung hättest, wovon ich rede? Du warst doch selbst ein Habenichts…

Hass gegen Rosaleen glomm in ihr auf. Sie hasste die junge Frau, weil sie, Adela Marchmont, hier in Gordons Salon saß und um Geld winselte. Ich kann es nicht, dachte sie verzweifelt. Ich bringe es einfach nicht fertig!

Im Bruchteil einer Sekunde flogen die vielen Tage und Nächte qualvoller Überlegungen und bedrückender Sorgen an ihr vorüber. Und dann sagte sie, aus Ärger darüber, dass sie hier sitzen und um Geld betteln musste, gereizter, als es ihre Absicht war:

»Es handelt sich um Geld.«

»Geld?«, wiederholte Rosaleen.

Ihr Ton war von naivem Staunen erfüllt, als sei Geld das Letzte, worüber zu hören sie erwartet hatte.

Adela fuhr fort zu reden, und die Worte überstürzten sich.

»Ich habe mein Konto auf der Bank überzogen, und zu Hause liegen unbezahlte Rechnungen – notwendige Reparaturen –, und selbst meinen dringendsten Verpflichtungen bin ich noch nicht nachgekommen. Es hat sich alles so erschreckend verringert, sogar mein Einkommen, meine ich. Die Steuern fressen alles auf. Und Gordon half uns immer. Mit dem Haus, verstehen Sie? Er hat immer alle Reparaturen bezahlt und das Dach ausbessern und die Wände streichen lassen, und was es eben so gab. Außerdem hat er jedes Vierteljahr der Bank eine gewisse Summe für mich überwiesen. Und immer wieder hat er mich beruhigt, mir keine Sorgen zu machen, und darum habe ich das natürlich auch nie getan. Solange er lebte, war das alles recht schön und gut, aber – «

Adela hielt inne. Sie war zutiefst beschämt, und zugleich fühlte sie sich von einer Zentnerlast befreit. Das Schlimmste war überstanden. Lehnte Rosaleen ab, so lehnte sie eben ab. Es ließ sich nichts daran ändern.

Rosaleen schaute völlig fassungslos drein.

»Ach, du lieber Gott«, stammelte sie hilflos. »Ich hatte ja keine Ahnung… ich werde mit David reden.«

Die Hände um die Stuhllehne gekrampft, stieß Adela verzweifelt hervor: »Könnten Sie mir nicht einen Scheck geben? Jetzt, meine ich, sofort?«

»Doch, natürlich.«

Rosaleen hatte sich von ihrer Verwirrung noch nicht erholt. Sie erhob sich hastig, trat zum Schreibtisch und stöberte in verschiedenen Schubladen, bis sie endlich ein Scheckbuch fand.

»Soll ich… ich meine… wie viel?«

»Wäre es möglich – fünfhundert Pfund?«

»Fünfhundert Pfund«, wiederholte Rosaleen gehorsam und begann zu schreiben.

Wie leicht war das gewesen! Ein Kinderspiel! Bestürzt wurde Adela sich bewusst, dass sie eher Ärger als Dankbarkeit über die Leichtigkeit ihres Sieges empfand.

Rosaleen trat mit dem ausgefüllten Scheck auf Adela zu. Nun war sie die Unsichere. Adela fühlte sich der Situation vollkommen gewachsen.

Sie nahm den Scheck entgegen. Mit kindlicher Schrift war quer über das rosa Papier geschrieben: Mrs Marchmont. Fünfhundert Pfund. Rosaleen Cloade.

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Rosaleen. Vielen Dank.«

»Ach… nicht doch… ich meine… ich hätte von selbst…« Mit dem Scheck in ihrer Handtasche fühlte sich Adela Marchmont wie ein anderer Mensch. Die junge Frau hatte sich wirklich sehr entgegenkommend gezeigt. Die Unterhaltung über Gebühr auszudehnen, war jedoch überflüssig. Es schien Rosaleen nur peinlich zu sein. Adela verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg. Draußen vor dem Haus begegnete ihr David. Mit einem freundlichen »guten Morgen«, ging sie an ihm vorüber.



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