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Mit einigem Erstaunen betrachtete Rowley das lila Kuvert in seiner Hand. Wer von seinen Bekannten besaß solches Briefpapier? Und wo war es in der heutigen Zeit überhaupt zu haben? Der Krieg hatte mit Erzeugnissen dieser Art mehr oder weniger aufgeräumt.

Lieber Mr Rowley,

entschuldigen Sie, dass ich mich auf diese Weise an Sie wende, aber ich hoffe, Sie werden meine Kühnheit entschuldigen, wenn Sie hören, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Es gehen Dinge vor, von denen Sie unbedingt unterrichtet sein müssen.

Rowley unterbrach die Lektüre, um einen verständnislosen Blick auf die Unterschrift zu werfen.

Ich knüpfe an unser Gespräch von vor einigen Tagen an, als Sie sich nach einer gewissen Person erkundigten. Wenn es Ihnen möglich wäre, im »Hirschen« vorbeizukommen, erzähle ich Ihnen gerne Näheres. Wir alle hier haben uns damals empört, als Ihr Onkel starb und sein Geld an Fremde fiel. Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Zeilen nicht übel, aber ich hielt es für sehr wichtig mich an Sie zu wenden.

Mit bestem Gruß,

Beatrice Lippincott

Ratlos starrte Rowley auf den Bogen in seiner Hand. Was sollte das heißen? Wie ließen sich diese Zeilen auslegen? Die gute Bee! Sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Seinen ersten Tabak hatte er im Laden ihres Vaters gekauft und später manche Stunde mit ihr hinterm Ladentisch vertrödelt. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen. Während einer fast einjährigen Abwesenheit Bees von Warmsley Vale hatten böse Zungen behauptet, sie habe irgendwo ein uneheliches Kind zur Welt gebracht. Vielleicht war es nur Gerede, vielleicht entsprach es der Wahrheit. Heute jedoch genoss sie allgemeines Ansehen.

Rowley warf einen Blick auf die Uhr. Er zog es vor, sich unverzüglich auf den Weg zum »Hirschen« zu machen. Er wollte wissen, was hinter diesen Andeutungen Beatrices steckte.

Es war kurz nach acht Uhr, als er die Tür zur Wirtsstube aufstieß. Rowley grüßte diesen und jenen Gast, ging aber geradewegs zur Theke, wo er sich ein Glas Bier bestellte. Beatrice lächelte ihm zu. »Guten Abend, Mr Rowley.«

»Guten Abend, Beatrice. Vielen Dank für Ihren Brief.«

»Ich habe gleich Zeit für Sie. Nur einen Moment.« Rowley nickte und trank dann langsam sein Bier, während Beatrice die bestellten Getränke ausgab. Sie rief über die Schulter nach Lilly, und bald darauf kam das Mädchen und löste sie ab. »Wollen Sie bitte mit mir kommen, Mr Rowley?« Sie führte ihn durch einen Korridor zu einer Tür, auf der »Privat« stand. Das kleine Zimmer dahinter war mit Plüschmöbeln und Porzellanfigürchen voll gepfropft. Auf einer Sessellehne thronte neckisch ein bereits ziemlich mitgenommener Pierrot aus buntem Seidenstoff.

Beatrice stellte das plärrende Radio ab und deutete auf einen Sessel.

»Ich bin sehr froh, dass Sie meiner Aufforderung gefolgt sind, Mr Rowley, und ich hoffe wirklich, Sie nehmen mir mein Schreiben nicht übel. Das ganze Wochenende habe ich mir den Kopf zerbrochen und überlegt, was ich tun soll, aber ich habe das Gefühl, Sie müssen einfach wissen, was hier los war.«

Beatrice fühlte sich glücklich und völlig in ihrem Element. Außerdem kam sie sich sehr wichtig vor.

Rowley fragte mit sanftem Drängen:

»Und was war los?«

»Sie erinnern sich doch an Mr Arden, nicht wahr? Den Herrn, nach dem Sie sich neulich erkundigt haben, Mr Rowley.«

»Ja, natürlich.«

»Am nächsten Abend kam Mr Hunter und fragte nach ihm.«

»Mr Hunter?«

Rowley richtete sich interessiert auf.

»Ja, Mr Rowley. ›Nummer 5 im ersten Stock‹, sagte ich, und Mr Hunter ging gleich die Treppe hinauf. Ich war etwas überrascht, wenn ich ehrlich sein soll, denn dieser Mr Arden hatte kein Wort davon erwähnt, dass er irgendjemanden in Warmsley Vale kenne, und ich war überzeugt gewesen, er sei hier in der Gegend völlig fremd. Mr Hunter machte einen ziemlich nervösen Eindruck, so, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen, aber ich achtete noch nicht weiter darauf.«

Sie schaltete eine Pause zum Atemholen ein, und Rowley ließ ihr Zeit. Er drängte sie nicht. Das war nicht seine Art.

Würde in ihre Worte legend, fuhr Beatrice fort:

»Kurz darauf musste ich im Zimmer Nummer 4 die Bettwäsche und die Handtücher wechseln. Zwischen Nummer 4 und Nummer 5 gibt es eine Verbindungstür, aber in Nummer 5 steht ein großer Schrank davor, so dass man die Tür nicht sieht. Im Allgemeinen ist diese Tür geschlossen, aber zufällig war sie an jenem Abend ein kleines bisschen offen, wieso und warum und wer sie geöffnet hat, ist mir allerdings schleierhaft.«

Wieder verzichtete Rowley darauf, etwas zu sagen; er nickte nur.

Er zweifelte nicht daran, dass die gute Beatrice hinaufgegangen war und die Tür geöffnet hatte, um zu lauschen.

»Und so konnte ich einfach nicht anders als hören, was nebenan gesprochen wurde. Ich sage Ihnen, Mr. Rowley, ich fiel aus allen Wolken. Sie hätten mich mit einer Feder umwerfen können – «

Dazu wäre schon eine Feder von einigen Kilo Gewicht nötig gewesen, dachte Rowley amüsiert.

Er lauschte mit unbeteiligtem, beinahe ausdruckslosem Gesicht Beatrices Wiederholung des Gesprächs zwischen den beiden Männern. Als sie ihren Bericht beendet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an.

Doch sie musste mehrere Minuten warten, bevor Rowley sich aufraffte.

»Vielen Dank, Beatrice«, sagte er. »Vielen Dank.«

Und mit diesen Worten ging er zur Tür und verschwand. Beatrice blieb wie versteinert sitzen. Das hatte sie nicht erwartet. Irgendeinen Kommentar zu dem eben Gehörten hätte Mr Rowley, ihrer Meinung nach, schon abgeben können.



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