19


Hercule Poirot faltete die letzte der zahlreichen Zeitungen zusammen, nach denen er seinen Diener George geschickt hatte. Nur sehr wenig war deren Berichten zu entnehmen. Die Untersuchung des Gerichtsarztes hatte ergeben, dass der Mann durch mehrere kräftige Schläge auf den Kopf ermordet worden war. Dieser Mr Arden schien vor kurzem aus Kapstadt gekommen zu sein.

Poirot legte die letzte Zeitung auf einen säuberlich ausgerichteten Stoß bereits gelesener Blätter und überließ sich seinen Gedanken. Die Sache interessierte ihn. Wäre nicht Mrs Lionel Cloades kürzlicher Besuch bei ihm gewesen, hätte er vielleicht die erste, knapp gefasste Notiz über den Mord übersehen. Doch da gab es noch eine andere Begebenheit in Zusammenhang mit dem Namen Cloade, der ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Der langweilige Major Porter hatte an jenem nun schon einige Zeit zurückliegenden Tag im Club prophezeit, es könnte eines Tages irgendwo ein Mr Enoch Arden auftauchen. Hercule Poirot hätte in diesem Augenblick gern mehr über diesen Enoch Arden gewusst, der in Warmsley Vale eines gewaltsamen Todes gestorben war.

Der Detektiv erinnerte sich, dass er Inspektor Spence von der Polizei in Oastshire flüchtig kannte, und er erinnerte sich weiter, dass der junge Mellon irgendwo in der Nähe von Warmsley Vale wohnte und ein Bekannter Jeremy Cloades war.

Während er noch erwog, den jungen Mellon anzurufen, wurde Hercule Poirot von seinem Diener gestört, der meldete, ein Mr Rowley Cloade wünsche Monsieur Poirot zu sprechen.

»Aha«, stieß der Meisterdetektiv befriedigt aus. »Führen Sie ihn herein.«

Ein gut aussehender, doch etwas verwirrt wirkender junger Mann betrat das Zimmer. Er schien nicht recht zu wissen, wie er die Unterredung beginnen sollte.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Mr Cloade?«, erkundigte Poirot sich höflich.

Rowley Cloade musterte sein Gegenüber abschätzend. Der Schnurrbart, die Gamaschen und die glänzenden Lackschuhe flößten ihm wenig Vertrauen ein.

Hercule Poirot entging der Blick nicht, und die Bestürzung in den Augen des jungen Mannes amüsierte ihn.

»Ich fürchte, ich werde Ihnen erst einmal erklären müssen, wer ich überhaupt bin«, begann Rowley unbeholfen. »Mein Name wird Ihnen nichts sagen – «

»Ihr Name ist mir völlig geläufig«, unterbrach Poirot ihn. »Ihre Tante hat mich vor einer Woche aufgesucht.«

»Meine Tante?«

Das Erstaunen Rowleys war so offensichtlich echt, dass Poirot seine anfängliche Vermutung, die beiden Besuche könnten miteinander in Zusammenhang stehen, fallen ließ.

»Mrs Lionel Cloade ist doch Ihre Tante? Oder irre ich mich?«

Rowley schien – falls dies möglich war – noch erstaunter dreinzublicken.

»Tante Kathie?«, fragte er mit ungläubiger Stimme. »Meinen Sie nicht eher Mrs Jeremy Cloade?«

Poirot schüttelte verneinend den Kopf.

»Aber was um alles in der Welt kann Tante Kathie – «

»Eine spiritistische Eingebung führte sie zu mir, wenn ich die Dame richtig verstanden habe«, erklärte Poirot.

»Ach, du lieber Himmel!« Rowley schien zugleich erleichtert und amüsiert. »Sie ist ganz harmlos«, versicherte er dann.

»Wirklich?«

»Was meinen Sie damit?«

»Gibt es überhaupt ganz harmlose Menschen?«

Rowley starrte Poirot fassungslos an. Der seufzte leise.

»Sie kamen doch sicher aus einem bestimmten Grund zu mir«, versuchte er dann das Gespräch in Gang zu bringen.

In Rowleys Augen schlich sich wieder der besorgte Ausdruck.

»Es ist eine ziemlich lange Geschichte, fürchte ich – «

Das fürchtete Poirot ebenfalls. Rowley Cloade machte nicht den Eindruck eines Mannes, der sich kurz, knapp und sachlich zu einem bestimmten Thema äußern konnte. Also lehnte sich der Meisterdetektiv in seinem Sessel zurück und schloss halb die Augen.

»Gordon Cloade war mein Onkel«, hub Rowley an, aber schon wurde er unterbrochen.

»Über Gordon Cloade weiß ich Bescheid.«

»Umso besser, dann brauche ich Ihnen nichts über ihn zu erzählen. Er heiratete ein paar Wochen vor seinem Tod eine junge Witwe namens Underhay. Seit Gordons Tod lebt sie in Warmsley Vale, zusammen mit ihrem Bruder. Wir waren alle der Meinung, ihr erster Mann sei in Afrika an Sumpffieber gestorben. Nun scheint dies aber nicht der Fall zu sein.«

»Ah«, Poirot richtete sich aus seiner lässigen Stellung auf. »Und was veranlasst Sie zu dieser Vermutung?«

Rowley schilderte das Erscheinen Mr Enoch Ardens in Warmsley Vale.

»Sie haben vielleicht in den Zeitungen darüber gelesen…«

»Ja, ich bin im Bilde«, versicherte Poirot.

Rowley fuhr fort. Er schilderte seinen ersten Eindruck von diesem Arden, wie ein Brief Beatrice Lippincotts ihn sodann in den »Hirschen«, bestellt und was er über das von Beatrice belauschte Gespräch zwischen David Hunter und dem Fremden vernommen hatte.

»Wie weit man das, was sie behauptet, gehört zu haben, für bare Münze nehmen kann, ist natürlich fraglich«, fügte er vorsichtig hinzu. »Möglich, dass sie ein bisschen übertrieben oder gar falsch verstanden hat.«

»Hat Miss Lippincott der Polizei von diesem Gespräch erzählt?«, erkundigte sich Poirot.

Rowley nickte.

»Ich riet ihr dazu.«

»Ich verstehe nicht ganz, Mr Cloade, was Sie zu mir führt. Wünschen Sie, dass ich in dieser Mordaffäre Nachforschungen anstelle? Ich nehme an, es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich um Mord handelt.«

»Diese Seite der Sache interessiert mich nicht«, erklärte Rowley. »Das ist die Arbeit der Polizei. Ein Mord war es, das steht fest. Nein, ich möchte, dass Sie herausfinden, wer der Mann in Wirklichkeit war.«

Poirots Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Wer war er denn, Ihrer Vermutung nach, Mr Cloade?«

»Ich meine… nun ja… Enoch Arden ist doch schließlich kein Name. Das war doch sozusagen ein Pseudonym, von Tennyson entlehnt. Ich habe das Gedicht nachgelesen. Es geht um einen Mann, der zurückkommt und entdeckt, dass seine Frau einen anderen geheiratet hat.«

»Sie vermuten, dass Enoch Arden in Wirklichkeit Robert Underhay war?«, fragte Poirot ohne Umschweife.

»Möglich, dass er’s war«, entgegnete Rowley bedächtig. »Dem Alter und der Figur nach hätte er’s sein können. Ich hab mehr als einmal mit Beatrice darüber gesprochen. Der Fremde sagte, Robert Underhay ginge es schlecht, er brauche dringend Geld für ärztliche Pflege. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass er sich selbst meinte. Anscheinend ließ er eine Bemerkung fallen, es sei doch wohl kaum in David Hunters Interesse, wenn Robert Underhay plötzlich in Warmsley Vale auftauchen würde – mehr oder weniger ein Hinweis darauf, dass er sich unter falschem Namen eingeschrieben hat aus Rücksicht auf Hunter und seine Schwester.«

»Befand sich irgendein Ausweis unter den Sachen des Mannes?«

Rowley schüttelte den Kopf.

»Über seine Identität liegen nur die Aussagen der Leute vom ›Hirschen‹ vor – dass er sich unter dem Namen Enoch Arden eingetragen habe.«

»Er besaß überhaupt keine Papiere?«

»Nein. Eine Zahnbürste, ein Hemd und ein Paar Ersatzsocken – das waren seine gesamten Habseligkeiten. Kein Ausweis, kein Papier.«

»Das ist interessant, sehr interessant«, murmelte Poirot.

»David Hunter behauptet, einen Brief von dem Fremden erhalten zu haben«, fuhr Rowley fort. »Der Mann habe sich als Freund Robert Underhays ausgegeben und geklagt, wie schlecht es ihm gehe. Auf Rosaleens Bitte hin sei Hunter in den ›Hirschen‹ gegangen und habe dem Mann mit einer Kleinigkeit unter die Arme gegriffen. So erzählt David Hunter die Geschichte, und ich wette, dass er nicht davon abgeht.«

»Und David Hunter hatte den Mann nie vorher gesehen?«

»Angeblich nicht. Hunter und Underhay kannten sich jedenfalls nicht. Das steht fest«, erklärte Rowley.

»Und Rosaleen Cloade?«

»Auf Veranlassung der Polizei hat sie sich den Toten angesehen. Sie erklärte, der Mann sei ihr völlig fremd.«

»Eh bien«, sagte Poirot. »Damit ist Ihre Frage ja beantwortet.«

»Der Meinung bin ich nicht«, widersprach Rowley unverblümt. »Wenn der Tote Robert Underhay ist, bedeutet dies, dass Rosaleens Ehe mit meinem Onkel nicht gültig war und ihr demzufolge kein Cent vom Geld Gordon Cloades gehört. Glauben Sie, dass sie unter diesen Umständen die Identität des Toten preisgeben würde?«

»Sie trauen Ihr nicht?«, lautete Poirots Gegenfrage.

»Ich traue keinem von ihnen.«

»Es gibt doch sicher noch mehr Leute, die sagen könnten, ob der Tote Robert Underhay ist oder nicht?«

»Das ist ja eben der Haken. Es scheint sehr schwierig zu sein, jemanden zu finden, der darüber Auskunft geben kann. Und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Sie sollen jemanden aufspüren, der Robert Underhay kennt oder kannte.«

»Und wieso wenden Sie sich da gerade an mich?«

Rowley sah verwirrt aus.

In Poirots Augen trat ein amüsiertes Funkeln.

»Hat Sie vielleicht auch eine spiritistische Eingebung zu mir geführt?«

»Um Himmels willen! Nein!«, wehrte Rowley entsetzt ab. »Ein Freund hat mir von Ihnen erzählt. Sie seien Spezialist in solchen Dingen, hat er gesagt. Ich nehme an, es kostet eine Menge Geld, solche Nachforschungen anzustellen, und ich bin nicht gerade reich, aber ich glaube, in diesem Fall könnten wir es – ich meine, die Familie – mit vereinten Kräften schaffen, die Summe auf zutreiben. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie den Auftrag annehmen wollen.«

»Ich denke, dass ich Ihnen behilflich sein kann«, entgegnete Hercule Poirot langsam.

Seine kleinen grauen Zellen arbeiteten. Namen aus der Vergangenheit, Begebenheiten und Begegnungen fielen ihm ein.

»Könnten Sie heute Nachmittag noch mal bei mir vorbeischauen, Mr Cloade?«, erkundigte er sich.

»Heute Nachmittag?«, fragte Rowley erstaunt. »Aber in so kurzer Zeit werden Sie doch kaum etwas herausgefunden haben!?«

»Ich kann nicht dafür garantieren, es besteht jedoch eine Möglichkeit.«

In Rowleys Augen lag ein Ausdruck derart fassungsloser Bewunderung, dass Poirot schon übermenschliche Charakterstärke hätte besitzen müssen, um nicht der Versuchung zu erliegen, sich geschmeichelt zu fühlen.

»Man hat so seine Methoden«, sagte er mit unnachahmlich würdevoller Schlichtheit.

Es war die richtige Antwort gewesen. Der ungläubige Ausdruck in Rowleys Augen verwandelte sich in Respekt.

»Natürlich… ich verstehe… obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie Sie so etwas fertig bringen«, stammelte er.

Poirot verzichtete darauf, seinen Besucher aus seiner Unwissenheit zu erlösen. Stattdessen wartete er, bis Rowley gegangen war, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, schrieb ein kurzes Briefchen und beauftragte seinen Diener George, die Nachricht in den Coronation Club zu bringen und dort auf Antwort zu warten.

Die Antwort fiel sehr zufriedenstellend aus. Major Porter dankte Monsieur Hercule Poirot für seine freundlichen Zeilen und drückte seine freudige Bereitwilligkeit aus, Monsieur Poirot und dessen Freund am Nachmittag des gleichen Tages um fünf Uhr in seiner Wohnung in Campdon Hill zu empfangen.

Um halb fünf war Rowley Cloade zur Stelle.

»Wie steht’s, Monsieur Poirot? Hatten Sie Glück?«

»Selbstverständlich, Mr Cloade. Wir machen uns gleich auf den Weg zu einem alten Freund von Robert Underhay.«

»Was?« Rowley meinte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Aber das ist ja kaum zu glauben! Vor ein paar Stunden habe ich Ihnen die Sache erst erzählt, und schon haben Sie einen Freund Underhays entdeckt? Phantastisch!«

Poirot machte eine abwehrende Handbewegung und versuchte, bescheiden dreinzuschauen. Er hütete sich, Rowley darüber aufzuklären, wie einfach seine Methode in diesem Fall gewesen war.

Major Porter bewohnte den oberen Stock eines kleinen, wenig gepflegten Hauses. Das Zimmer, in welches man die beiden Herren führte, war ringsum mit Bücherregalen voll gestellt. Über den Regalen hingen billige Drucke, meist Szenen aus der Welt des Sports darstellend. Auf dem Boden lagen zwei einst sehr gute, doch nun vom Gebrauch dünn gewordene Teppiche.

Der Major erwartete die Herren.

»Tut mir wirklich Leid, Monsieur Poirot, aber ich kann mich nicht erinnern, Ihnen schon mal begegnet zu sein. Im Club, sagen Sie? Vor längerer Zeit? Ihr Name ist mir selbstverständlich bekannt.«

»Und dies ist Mr Rowley Cloade«, stellte Poirot vor.

Major Porter machte eine steife Bewegung mit dem Kopf, was seiner Art einer höflichen Begrüßung entsprach.

»Freut mich«, sagte er wohlerzogen. »Bedaure unendlich, Ihnen nicht einmal ein Glas Sherry anbieten zu können, aber das Lager meines Weinlieferanten wurde von Bomben getroffen. Das einzige, was ich im Haus habe, ist etwas Gin, miserable Qualität allerdings, meiner Meinung nach. Wie steht es mit einem Glas Bier?«

Man einigte sich auf Bier. Der Major bot Poirot eine Zigarette an.

»Sie rauchen ja nicht«, bemerkte er, zu Rowley gewandt. »Gestatten die Herren, dass ich meine Pfeife anzünde?« Und nachdem er mit einiger Mühe diese Prozedur vollzogen hatte, sagte er: »Und nun: Worum handelt es sich?«

»Sie haben vielleicht in den Zeitungen Berichte über den Tod eines Mannes in Warmsley Vale gelesen?«, begann Poirot.

Porter schüttelte den Kopf.

»Möglich, erinnere mich aber nicht daran.«

»Der Name des Mannes war Arden. Enoch Arden.«

Porter schüttelte abermals den Kopf.

»Der Mann wurde mit eingeschlagenem Schädel in seinem Zimmer im Hotel ›Zum Hirschen‹ gefunden.«

»Warten Sie…«, der Major runzelte nachdenklich die Stirn. »Doch, mir scheint, ich habe da vor ein paar Tagen eine Notiz gelesen.«

»Ich habe hier ein Foto dieses Mannes«, fuhr Poirot fort. »Es ist eine Presseaufnahme, nicht besonders scharf, aber vielleicht genügt sie. Wir möchten wissen, ob Sie diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen haben.«

Er reichte dem ehemaligen Offizier die beste Aufnahme, die er von Enoch Arden hatte auftreiben können.

Der Major nahm das Bild.

»Lassen Sie mich mal sehen…«, sagte er langsam.

Plötzlich fuhr er mit einem Ruck zurück.

»Aber das ist doch… Der Teufel soll’s holen…«

»Sie kennen den Mann, Major Porter?«

»Natürlich kenne ich ihn«, rief der Major. »Es ist Underhay. Robert Underhay.«

»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« Die Genugtuung in Rowleys Stimme war unverkennbar.

»Selbstverständlich bin ich meiner Sache sicher. Robert Underhay, ich würde jeden Eid darauf leisten.«

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