25

Obwohl es spät geworden war, beschloss Hercule Poirot, noch einen Besuch zu machen.

Er lenkte seine Schritte Jeremy Cloades Haus zu.

Das Mädchen führte ihn in das Arbeitszimmer des Hausherrn.

Allein gelassen, blickte Poirot sich um. Auf dem Schreibtisch stand ein großes Bild Gordon Cloades. Daneben befand sich eine bereits etwas verblasste Fotografie Lord Edward Trentons zu Pferde. Poirot studierte gerade Lord Trentons Gesichtszüge, als Jeremy Cloade das Zimmer betrat.

»Verzeihung.«

Poirot stellte das Bild zurück.

»Der Vater meiner Frau«, erklärte Jeremy Cloade, nicht ohne leisen Stolz in der Stimme. »Aber womit kann ich Ihnen dienen?«

Er deutete auf einen Sessel, und Poirot nahm Platz.

»Ich wollte Sie fragen, Mr Cloade, ob Sie ganz sicher sind, dass Ihr Bruder kein Testament hinterlassen hat?«

»Ich halte es für ausgeschlossen, Monsieur Poirot. Man hat nichts gefunden. Gordon pflegte alle wichtigen Papiere in seinem Büro aufzubewahren, und dort ist alles genau untersucht worden. Das Wohnhaus selbst ist ja beinahe ganz zerstört worden beim Angriff.«

»Aber es könnte immerhin möglich sein, dass sich in den Trümmern noch etwas findet. Man sollte Nachforschungen anstellen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich ermächtigten, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, Mr Cloade.«

»Natürlich, natürlich«, beeilte sich Jeremy* Cloade zu versichern. »Sehr freundlich von Ihnen, sich dieser Aufgabe unterziehen zu wollen. Nur fürchte ich, Ihre Mühe wird von keinem Erfolg gekrönt sein. Aber immerhin… Sie beabsichtigen also, nach London zurückzukehren?«

Poirots Lider senkten sich über die Augen, bis diese nur noch schmale Schlitze waren. Ein sonderbarer Eifer hatte in Jeremy Cloades Stimme mitgeschwungen. Schon während einer kurzen Unterhaltung mit Rowley Cloade war ihm aufgefallen, dass es der Familie Cloade anscheinend nicht recht war, dass er, Poirot, sich noch immer in Warmsley Vale aufhielt. Sie hatten ihn gerufen, doch jetzt wünschten sie ihn offensichtlich so schnell wie möglich wieder weg. Was steckte dahinter?

Bevor er auf Jeremys Frage antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Frances Cloade trat ein.

Zwei Dinge fielen Poirot sofort auf. Erstens, dass Frances Cloade schlecht aussah, und zweitens, dass sie ihrem Vater sehr ähnelte.

»Monsieur Poirot stattet uns einen Besuch ab, meine Liebe«, teilte Jeremy Cloade völlig überflüssigerweise mit.

Er berichtete seiner Frau von Poirots Plan, in London nach einem eventuell doch vorhandenen Testament zu forschen.

»Ich halte jede Suche für aussichtslos«, meinte Frances.

»Wenn ich recht unterrichtet bin, war Major Porter dem Luftschutz in dieser Gegend Londons zugeteilt«, warf Poirot ein.

Ein sonderbarer Ausdruck trat in Mrs Cloades Augen.

»Wer ist eigentlich dieser Major Porter?«, erkundigte sie sich.

»Ein pensionierter Offizier.«

»War er wirklich in Afrika?«

Poirot warf ihr einen verwunderten Blick zu.

»Natürlich, Madame. Wieso sollte er nicht dort gewesen sein?«

»Ach, nur so«, erwiderte Frances Cloade geistesabwesend, »Jeremy, ich habe mir überlegt, dass Rosaleen Cloade sich furchtbar einsam in Furrowbank fühlen muß. Hast du etwas dagegen, dass ich sie auffordere, zu uns zu ziehen?«

»Bist du der Meinung, dass das ratsam wäre?«, meinte Jeremy zweifelnd.

»Ratsam? Mein Gott, ich weiß nicht. Aber sie ist ein so hilfloses Geschöpf. Man muss ihr doch beistehen.«

Ruhig erwiderte der Anwalt.

»Wenn es dich glücklicher macht, meine Liebe.«

»Glücklicher!«, entfuhr es Frances.

»Ich werde mich jetzt verabschieden.«

Hercule Poirot erhob sich.

»Sie fahren jetzt gleich nach London zurück?«, fragte Frances, ihn in die Halle begleitend.

»Morgen. Aber nur für vierundzwanzig Stunden, dann kehre ich hierher – in den ›Hirschen‹ – zurück, wo Sie mich jederzeit finden können, Madame, falls Sie mich brauchen.«

»Wieso sollte ich Sie brauchen?«, kam es scharf von Frances’ Lippen.

Poirot antwortete nicht auf die Frage. Er wiederholte nur:

»Sie finden mich im ›Hirschen‹.«

Später in der Nacht sagte Frances Cloade zu ihrem Mann: »Was sollen wir nur tun, Jeremy? Was sollen wir nur tun?« Es verging ein Weilchen, bevor Jeremy Cloade leise entgegnete:

»Es gibt nur einen Ausweg, Frances.«

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