3



Frances Cloade musterte über den Tisch hinweg nachdenklich ihren Gatten.

Sie war achtundvierzig Jahre alt und eine jener Frauen, die am besten in sportlicher Kleidung aussehen. Ihr Gesicht war noch immer schön, wenn auch von einer arroganten und ein wenig verwelkter Schönheit, wozu noch beitrug, dass sie auf jedes Make-up verzichtete und nur einen – nachlässig aufgetragenen – Lippenstift benutzte. Jeremy Cloade war bereits dreiundsechzig, ein grauhaariger Mann mit einem stumpfen, ausdruckslosen Gesicht.

Heute sah er noch unbeteiligter drein als sonst. Seine Frau stellte dies mit einem verstohlenen Blick fest.

Ein fünfzehnjähriges Mädchen bediente bei Tisch. Es hantierte ungeschickt mit Schüsseln und Tellern, die Augen stets ängstlich auf Mrs Cloade gerichtet. Runzelte ihre Herrin die Stirn, ließ Edna beinahe die Schüssel fallen, nickte Frances ihr jedoch anerkennend zu, strahlte das junge Ding übers ganze Gesicht.

Die Bewohner von Warmsley Vale waren sich bewusst, dass, wenn es überhaupt jemandem in diesen Zeiten gelang, Dienstboten zu bekommen, dies Frances Cloade war. Sie hatte eine besondere Art, mit dem Personal umzugehen. Ihr Missfallen wie ihre Anerkennung waren gleich persönlich und interessiert, und sie schätzte eine gute Köchin mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie einer guten Pianistin Anerkennung zollte.

Frances Cloade war die einzige Tochter Lord Edward Trentons, der seine Rennpferde in der Nähe von Warmsley Vale trainiert hatte. In eingeweihten Kreisen wurde Lord Edwards schließlicher Bankrott als ein glücklicher Ausgang von Ereignissen beurteilt, die leicht anders hätten enden können. Man hatte von Pferden getuschelt, die nicht so ins Rennen geschickt worden waren, wie dies die Vorschriften erheischten, und auch von Einvernahmen der Kellner des Jockey Clubs war eine Zeit lang die Rede gewesen, doch gelang es Lord Edward, aus der etwas undurchsichtigen Affäre mit nur leicht lädiertem Ruf hervorzugehen und mit seinen Gläubigern eine Vereinbarung zu treffen, die es ihm nun gestattete, im schönen Südfrankreich ein beschauliches Leben zu führen. Und dass er so glimpflich davongekommen war, hatte er nicht zuletzt der Schlauheit und dem entschlossenen Vorgehen seines Anwalts Jeremy Cloade zu verdanken.

Jeremy Cloade hatte sich ganz besonders für diesen Klienten ins Zeug gelegt. Er hatte sogar persönliche Garantien übernommen und während der schwierigen Verhandlungen kein Hehl aus seiner Bewunderung für Frances Trenton gemacht. Als dann die Affäre zum glimpflichen Abschluss kam, wurde nach kurzer Zeit aus Frances Trenton Mrs Jeremy Cloade.

Was Frances Trenton selbst von dieser Entwicklung hielt, erfuhr nie jemand. Sie erfüllte ihren Teil des Abkommens über jeden Tadel erhaben. Sie war Jeremy eine tüchtige und loyale Frau, seinem Sohn eine besorgte Mutter und gab sich Mühe, ihrem Mann in jeder Beziehung bei seinem Fortkommen behilflich zu sein. Nie verriet sie durch eine Handlung oder auch nur durch ein Wort, ob ihr Entschluss, Jeremy Cloade zu heiraten, freiem Willen oder dem Gefühl der Verpflichtung, für die Rettung ihres Vaters zu danken, entsprungen war.

Zum Dank für diese tadellose Haltung hegte die gesamte Familie Cloade ungeschmälerte Bewunderung für Frances. Man war stolz auf Frances, man unterwarf sich ihrem Urteil, aber man fühlte sich nie auf völlig vertrautem Fuß mit ihr.

Wie Jeremy Cloade über seine Heirat dachte, erfuhr man ebenfalls nicht, da überhaupt nie jemand Einblick in Jeremys Gedanken oder Empfindungen gewann. Sein Ruf als Mensch und als Anwalt war ausgezeichnet. Die Firma Cloade, Brunskill & Cloade war über jeden Zweifel erhaben. Die Geschäfte gingen gut, und die Cloades lebten in einem sehr hübschen Hause in der Nähe des Marktplatzes. Die Birnbäume in dem großen ummauerten Garten boten im Frühling den Anblick eines weißen Blütenmeers.

Das Ehepaar begab sich nach Tisch in ein Zimmer, welches, an der Rückfront des Hauses gelegen, auf den Garten hinausging, und dorthin brachte Edna, das fünfzehnjährige Dienstmädchen, den Kaffee.

Frances schenkte ein. Der Kaffee war stark und heiß.

»Ausgezeichnet, Edna«, lobte sie.

Und Edna, vor Freude über die Anerkennung über und über rot werdend, verließ das Zimmer und wunderte sich, wie jemand schwarzen Kaffee ausgezeichnet finden konnte. Sollte Kaffee gut schmecken, musste er ihrer Meinung nach sehr hell sein, viel Zucker und vor allem sehr viel Milch enthalten.

Frances lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und warf ihrem Gatten einen prüfenden Blick zu. Jeremy war sich des Blickes bewusst und strich sich mit einer für ihn charakteristischen Geste mit der Hand über die Oberlippe. Doch Frances schaltete eine Pause des Nachdenkens ein, bevor sie zu sprechen begann. Ihre Ehe mit Jeremy war glücklich verlaufen, doch wirklich nahe waren sie sich nie gekommen, zumindest nicht, soweit es unter Eheleuten eigene vertrauliche Gespräche betraf. Sie hatte Jeremys Zurückhaltung stets respektiert, und ebenso hatte er es gehalten. Selbst als das Telegramm mit der Mitteilung von Antonys Tod im Felde kam, war keiner von ihnen zusammengebrochen.

Jeremy hatte das Telegramm geöffnet und dann zu Frances aufgeschaut, und sie hatte nur gefragt: »Ist es –?«

Er hatte den Kopf gesenkt und das zusammengefaltete Stück Papier in ihre ausgestreckte Hand gelegt.

Nach einer Weile schweigenden Beisammenstehens sagte Jeremy nur: »Ich wünschte, ich könnte dir helfen, meine Liebe.« Und sie antwortete mit fester, tränenloser Stimme: »Es ist für dich ebenso schlimm.«

»Ja«, hatte er erwidert, »ja.« Und mit steifen Schritten, plötzlich gealtert, zur Türe gehend, fügte er müde hinzu: »Was ist da zu sagen… was ist da zu sagen…«

Ein überströmendes Gefühl der Dankbarkeit war in ihr aufgestiegen. Dankbarkeit für sein wortkarges Verständnis und Mitleid mit ihm, der ohne Übergang zum alten Mann geworden schien, hatte ihr Herz erfüllt. Mit ihr selbst war nach dem Tod ihres Sohnes eine Veränderung vor sich gegangen. Ihre im Allgemeinen freundliche Art erstarb gleichsam, ein Panzer schloss sich um ihre Empfindungen, und es war, als verstärke sich der energische Zug in ihrem Wesen. Sie wurde noch tüchtiger und sachlicher – die Leute erschraken jetzt manchmal vor ihrer etwas barschen Art.

Zögernd strich Jeremy Cloade mit dem Finger über die Lippen, und schon klang es durch den Raum:

»Was gibt’s, Jeremy?«

»Wie meinst du?« Jeremy schrak zusammen.

»Was es gibt, habe ich gefragt«, wiederholte seine Frau ungeduldig.

»Was soll es geben, Frances?«

»Mir wäre es lieber, du würdest mir’s erzählen, anstatt mich raten zu lassen«, kam umgehend die Antwort.

»Nichts, Frances, es gibt nichts«, erklärte Jeremy wenig überzeugend.

Frances ersparte sich die Antwort auf ihres Mannes letzte Bemerkung. Sie schob sie als nicht zur Kenntnis genommen beiseite und schaute Jeremy eindringlich an. Er erwiderte ihren Blick unsicher.

Und für den Bruchteil einer Sekunde verflog die Stumpfheit in seinen Augen und machte einem erschreckenden Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung Platz. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber Frances gab sich keiner Täuschung hin.

»Sag mir lieber, was dich bedrückt«, forderte sie ihren Mann auf, und ihre Stimme klang ruhig und sachlich wie immer, obwohl der plötzliche Wechsel in seinem Ausdruck eben ihr beinahe einen Schrei entlockt hätte.

Jeremy stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Du musst es schließlich doch erfahren, früher oder später«, meinte er.

Und er fügte – zu Frances’ Erstaunen – hinzu:

»Ich fürchte, du hast mit mir ein schlechtes Geschäft gemacht.«

Frances fragte ohne lange Umschweife:

»Was ist los? Geld?«

Sie wusste selbst nicht, wieso ihr als Erstes diese Möglichkeit in den Sinn kam. Es lagen keinerlei Anzeichen finanzieller Schwierigkeiten vor. In der Kanzlei gab es mehr Arbeit, als der kleine Mitarbeiterstab bewältigen konnte. Doch Mangel an Arbeitskräften herrschte überall, und einige Angestellte aus Jeremys Büro waren sogar kürzlich aus der Armee entlassen worden und in ihre alten Stellungen zurückgekehrt. Eher wäre zu vermuten gewesen, es sei eine heimliche Krankheit, die Jeremy bedrückte. Er sah seit einigen Wochen schlecht aus, und die frische Farbe war aus seinen Wangen gewichen. Aber Frances ließ sich von ihrem Instinkt leiten, der auf finanzielle Sorgen tippte, und allem Anschein nach hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.

Jeremy nickte.

»Aha.«

Frances blieb einen Augenblick stumm. Sie dachte nach. Ihr selbst lag wenig an Geld, aber das zu begreifen war Jeremy nicht möglich. Für ihn bedeutete Geld das Vorhandensein einer um ihn fest gefügten Welt mit Sicherheit und Zufluchtsmöglichkeiten, mit einem festen, angestammten Platz von eherner Unverrückbarkeit.

Für Frances hingegen bedeutete Geld etwas, womit man spielte, das einem in den Schoß fiel, um sich damit zu vergnügen. Sie war in einer Umgebung finanzieller Unsicherheit aufgewachsen. Hatten die Rennpferde die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, war alles in Hülle und Fülle vorhanden; dann wieder gab es Zeiten, wo die Händler sich weigerten, weiter auf Kredit zu liefern, und Lord Edward alle möglichen Tricks anwenden musste, um die Geldeintreiber von der Schwelle zu verscheuchen. Hatte man kein Geld, dann borgte man sich eben bei Bekannten was oder lebte ein Weilchen bei Verwandten oder verzog sich nach Europa.

Doch ein Blick auf ihres Gatten Gesicht belehrte Frances, dass es in der Welt Jeremys keinen dieser Auswege gab. Dort lebte man nicht auf Pump oder nistete sich ein Weilchen bei guten Freunden ein. Umgekehrt erwartete man auch nicht, um Geld angegangen zu werden oder Bekannte, die sich gerade in Nöten befanden, bei sich aufnehmen zu müssen.

Frances hatte Mitleid mit Jeremy und konnte ein Gefühl der Schuld nicht ganz unterdrücken, weil ihr das alles überhaupt nicht nahe ging. Sie rettete sich ins Praktische.

»Müssen wir alles hier verkaufen? Ist die Firma am Ende?«

Jeremy Cloade zuckte zusammen, und zu spät kam es Frances zu Bewusstsein, dass sie schonungslos gesprochen hatte.

»Lass mich nicht länger im Dunkel tappen, Jeremy«, sagte sie etwas weicher. »Schenk mir reinen Wein ein.«

Jeremy nahm sich zusammen.

»Du weißt, dass vor zwei Jahren die Affäre mit dem jungen Williams uns ziemlich zu schaffen machte«, hub er weitschweifig an. »Dann kam die veränderte Situation im Fernen Osten dazu. Es war nicht so einfach, nach Singapore – «

»Ach, Jeremy«, unterbrach sie ihn. »Spar dir die Erklärungen, warum und wieso es so ist, das ist doch nicht wichtig. Du bist in eine Sackgasse geraten und kannst dich nicht daraus befreien, ja?«

»Ich habe mich auf Gordon verlassen. Gordon hätte alles in Ordnung gebracht.«

Frances konnte einen leisen Seufzer der Ungeduld nicht unterdrücken.

»Nichts liegt mir ferner, als Gordon einen Vorwurf daraus machen zu wollen, dass er sich in eine hübsche junge Frau verliebt hat. Das ist schließlich nur menschlich. Und warum hätte er nicht noch mal heiraten sollen? Aber dass er bei dem Luftangriff umkam, bevor er noch ein Testament machen oder überhaupt nach dem Rechten sehen konnte, das ist ein schlimmer Schlag. Abgesehen von dem Verlust, den Gordons Tod für mich bedeutet«, fuhr Jeremy fort, »ist die Katastrophe ausgerechnet in einem Augenblick über mich hereingebrochen – « Er sprach nicht weiter.

»Sind wir bankrott?«, erkundigte sich Frances unerschüttert.

Jeremy betrachtete seine Frau mit einem an Verzweiflung grenzenden Blick. So unbegreiflich Frances dies auch gewesen wäre, hätte Jeremy Cloade es doch viel besser verstanden, einer in Tränen aufgelösten Frau Rede und Antwort zu stehen als der sachlichen Frances.

»Bankrott? Es ist schlimmer als das«, erklärte er heiser.

Er beobachtete sie, wie sie stumm diese Erklärung aufnahm. Es nützte nichts. Gleich würde er es ihr sagen müssen. Gleich würde sie erkennen, was für ein Mensch er war. Wer weiß, vielleicht glaubte sie es ihm nicht einmal.

Frances Cloade richtete sich in ihrem Lehnstuhl auf.

»Ach so. Ich verstehe. Eine Veruntreuung, ja? Eine Unterschlagung? So etwas Ähnliches, wie es damals der junge Williams angestellt hat?«

»Ja, aber diesmal bin ich der Verantwortliche. Ich habe Gelder, die uns anvertraut waren, für eigene Zwecke benutzt. Bis jetzt ist es mir gelungen, alles zu vertuschen, aber – «

»Aber jetzt kommt es heraus?«, forschte Frances interessiert. »Wenn ich nicht schnell Geld auftreiben kann, ja.«

Schlimmer als alles war die Scham. Wie würde sie dieses Geständnis aufnehmen?

Frances saß, die Wange auf die Hand gestützt, da und dachte mit gerunzelter Stirn nach.

»Zu dumm, dass ich kein eigenes Geld besitze«, sagte sie endlich.

»Du hast natürlich deine Mitgift«, bemerkte Jeremy steif, doch Frances unterbrach ihn geistesabwesend:

»Aber die wird auch weg sein, nehme ich an.«

Es fiel Jeremy schwer weiterzusprechen.

»Es tut mir Leid, Frances. Es tut mir sehr Leid, mehr als ich dir sagen kann. Du hast ein schlechtes Geschäft gemacht.«

Sie blickte auf.

»Was meinst du damit? Das hast du vorhin schon behauptet.«

»Als du dich einverstanden erklärtest, mich zu heiraten«, erwiderte Jeremy würdevoll, »konntest du mit Recht annehmen, dass ich dir ein Leben ohne Peinlichkeiten, ein Leben ohne Sorgen und Demütigungen bereiten würde.«

Frances betrachtete ihren Mann mit äußerstem Erstaunen.

»Ja, aber Jeremy, was um Himmels willen glaubst du, hat mich veranlasst, dich zu heiraten?«

Er lächelte überlegen.

»Du warst stets eine gute Frau, Frances, und du hast stets zu mir gehalten. Aber ich kann mir kaum schmeicheln, dass du mich auch unter – hm – anders gearteten Umständen zum Mann gewählt hättest.«

Frances starrte ihren Mann verdutzt an und brach dann in Lachen aus.

»Ach, du dummer Kerl, du! Was für romantische Gedanken du hinter deiner trockenen Juristenstirn verbirgst! Hast du wirklich geglaubt, ich hätte dich quasi zum Dank dafür, dass du Vater vor den Wölfen gerettet hast, geheiratet?«

»Du hast sehr an deinem Vater gehangen, Frances.«

»Ich vergötterte ihn. Er war der lustigste Kamerad, den man sich wünschen kann, und er sah fabelhaft aus. Aber deswegen habe ich mich doch nie Illusionen über ihn hingegeben. Und wenn du glaubst, ich hätte dich als Vaters Anwalt nur geheiratet, um ihn vor dem zu bewahren, was ihm unweigerlich früher oder später widerfahren musste, dann kennst du mich nicht. Dann hast du mich überhaupt nie gekannt.«

Sie sah ihren Mann verblüfft an. Wirklich sonderbar, dass man über zwanzig Jahre mit einem Mann verheiratet sein konnte, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was eigentlich in ihm vorging.

»Ich habe dich geheiratet, weil ich dich liebte«, stellte sie sachlich fest.

»Du liebtest mich? Aber was kann dir an mir gefallen haben?«

»Ach, was für eine Frage, Jeremy! Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht weil du so anders warst als die Leute um meinen Vater herum. Und vielleicht auch, weil du nie über Pferde gesprochen hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie satt ich es hatte, nur über Pferde und Rennen reden zu hören. Ich erinnere mich, wie du eines Abends zum Essen kamst und ich dich fragte, ob du mir erklären könntest, was Bimetallismus sei. Und du konntest es wirklich. Es dauerte zwar das ganze Essen lang – wir hatten damals gerade Geld und konnten uns einen fabelhaften französischen Koch leisten – «

»Ich muss dir schrecklich auf die Nerven gegangen sein.«

»Im Gegenteil! Ich war fasziniert. Kein Mensch hatte mich jemals zuvor so ernst genommen. Andrerseits schien ich überhaupt keinen Eindruck auf dich zu machen, und das reizte mich. Ich setzte mir in den Kopf, dich dazu zu, bringen, mich zu beachten.«

»Ich beachtete dich mehr als genug«, versetzte Jeremy. »Du hattest ein blaues Kleid mit einem Kornblumenmuster an. Ich schlief damals die ganze Nacht nicht und dachte nur immer an dich in deinem blauen Kleid.«

Er räusperte sich.

»Ja… das liegt alles so lange zurück.«

Sie half ihm geistesgegenwärtig, die aufkommende Verlegenheit zu überwinden.

»Und heute sitzen wir hier, ein Ehepaar mittleren Alters, das sich in Schwierigkeiten befindet und nach einer Lösung sucht.«

»Nach dem, was du mir jetzt gesagt hast, Frances, ist alles noch hundertmal schlimmer… die Schande…«

»Aber Jeremy! Streuen wir uns doch keinen Sand in die Augen. Du hast etwas getan, was mit dem Gesetz in Konflikt steht, stimmt. Möglich, dass man Anklage erhebt und dich zu Gefängnis verurteilt.« Jeremy zuckte unwillkürlich zusammen. »Aber Grund zu moralischer Entrüstung haben wir trotzdem nicht. Wir sind keine so schrecklich moralische Familie. Vater war ein charmanter Mann, das steht außer Frage, aber im Grunde doch ein kleiner Hochstapler. Na, und mein Vetter Charles, den man schleunigst in die Kolonien verfrachtete, als ein Prozess drohte, oder mein anderer Vetter Gerald, der in Oxford einen Scheck fälschte und trotzdem später das Viktoriakreuz bekam für besondere Tapferkeit vor dem Feind – nein, Jeremy, kein Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Dass ich selbst eine weiße Weste habe, liegt vielleicht nur daran, dass ich nie in Versuchung geraten bin. Aber eines steht fest: Ich habe Mut, Jeremy, und lasse mich nicht so leicht zur Verzweiflung bringen.«

Sie lächelte ihm zu, und er stand auf, kam steif auf sie zu und drückte ihr einen Kuss aufs Haar.

»Jetzt lass uns einmal vernünftig miteinander reden. Was können wir tun?«, fuhr Frances nach kurzem Überlegen fort. »Irgendwo Geld auftreiben?«

Jeremys Gesicht verfinsterte sich.

»Ich wüsste nicht wo.«

»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als von jemandem zu borgen. Und da kommt wohl nur Rosaleen in Frage.«

Er schüttelte den Kopf.

»Es handelt sich um eine größere Summe, und Rosaleen hat nicht das Recht, das Kapital anzugreifen. Sie hat nur die Nutznießung, solange sie lebt.«

»Ach so, das wusste ich nicht. Und was geschieht, wenn sie stirbt?«

»Dann bekommen Gordons Erben das Geld, das heißt, es wird zwischen uns, Lionel, Adela und Maurices Sohn Rowley geteilt.«

Etwas Unausgesprochenes lag in der Luft; der Schatten eines Gedankens schien sowohl Jeremy wie Frances zu streifen.

»Das Schlimmste ist, dass wir es weniger mit ihr zu tun haben als mit ihrem Bruder. Sie steht völlig unter seinem Einfluss«, bemerkte Frances nach kurzer Pause.

»Ein wenig anziehender Bursche«, sagte Jeremy.

Ein unvermitteltes Lächeln überflog Frances’ Gesicht. »Im Gegenteil, er ist sogar sehr anziehend. Auffallend anziehend, und – wie mir scheint – ein bedingungsloser Draufgänger. Aber das bin ich im Grunde auch.«

Ihr Lächeln fror gleichsam ein.

»Wir geben uns nicht geschlagen, Jeremy. Es muss einen Ausweg geben. Ich werde ihn finden, und wenn mir nichts anderes übrig bleibt, als das Geld aus einer Bank zu stehlen.«



Загрузка...