Rolf Lappert
Nach Hause schwimmen

Für Petra, wie versprochen.

Und für Anne-Christine Kaemmerer.

Kein größerer Schmerz ist denkbar,

als sich im Unglück zu erinnern an die Zeit des Glücks.

Dante, Die Hölle

1

Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Offenbar versuchen eine Menge Leute, das zu verhindern, doch ich bin so gut wie tot. Ich sehe das Licht, über das ich schon oft gelesen habe. Und mir ist warm. Ich will die Arme ausstrecken, weiß aber nicht, ob ich es wirklich tue. Rinnsale fließen aus meinem Haar. Ich triefe, aus meinen Schuhen tropft es. Meine Augen brennen. Ich presse die Lippen zusammen, zumindest versuche ich es.

Schon als Kind habe ich Wasser gehasst. Stand ewig auf dem Einmeterbrett, erstarrt, die Augen geschlossen. Der Lehrer brüllte mich an, bis ich mich fallen ließ. Ich schwamm wie ein Hund, eher schlechter. Jetzt bewege ich mich. Oder alles um mich herum ist in Bewegung. Ich würde gerne meinen Körper verlassen. Ich mag meinen Körper nicht. In den Artikeln stand, man schwebe über sich. Man könne sich daliegen sehen, die eigene leblose Hülle. Und man sei nicht traurig darüber, gehen zu müssen. Ich bin nicht traurig. Ich gehe, wenn man mich lässt. Ich bin bereit.

Einmal ließ ich mich auf den Beckengrund sinken. Da war nur Stille. Kein Lachen, keine Anfeuerungsrufe, kein Brüllen. Der Lehrer holte mich raus. Er pumpte Luft in meine Lungen, bis ich mich übergab. Elf Jahre alt war ich da, mager und bleich wie keiner in meiner Klasse. Ins Wasser musste ich danach nicht mehr. Richtig schwimmen lernte ich nie. Badewannen habe ich seither gemieden, und sogar beim Duschen befürchtete ich zu ertrinken. In einem Etui trug ich einen Trinkhalm aus Kunststoff mit mir herum. Wenn Flüssigkeit in meinen Körper musste, wollte ich die Kontrolle darüber haben. Freiwillig überquerte ich keine Brücke. Heftiger Regen machte mir Angst.

Oder denke ich mir das alles nur aus? Vielleicht läuft gerade dieser berühmte Film in meinem Kopf ab. Bilder, die in Sekunden ein Leben nacherzählen, egal, wie belanglos es war. Gut möglich, dass mein Hirn diese Autobiografie erfindet, verfälscht. Aufpeppt unter Zugabe von ein paar Macken. Immerhin liege ich im Sterben.

Man berührt mich, hält mich zurück. Dabei will ich dorthin, wo das Licht ist. Es ist nicht mehr so hell wie zuvor. Mir wird plötzlich kalt, ich zittere. Ich will nicht zurück in die Welt. Ich bin nicht traurig, weil ich gehen muss. Ich will am Grund des Beckens liegen und nichts mehr hören. Das Wasser umgibt mich. Es beschützt mich. Wie damals.

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