12

Der Tod ist kein Sensenmann, der nachts taktvoll an dein Bett tritt und dir sagt, deine Zeit sei abgelaufen, und der deine Hand nimmt und dich in die ewige Dunkelheit führt, wie dich damals deine Mutter in die erste Schulstunde geführt hat. Der Tod ist ein mies gelaunter Beamter, der Überstunden schiebt und seinen Frust an dir auslässt, der dich durch die Flure eines gigantischen Gebäudes schleppt, wo das Sterben verwaltet wird und die Türen mit ANGST, SCHMERZ UND VERLORENHEIT angeschrieben sind. Der Tod ist ein Geschäftsmann, ein Experte, ein virtuoser Techniker ohne Phantasie. Der Tod trägt keinen schwarzen Umhang, sondern einen weißen Kittel, und statt des Knochenschädels lächelt dich ein fleischiges Gesicht an, das jeden Tag ein anderes ist. Der Tod hat eine gebräunte Fresse, und heute heißt er Doktor Alexander Cartridge.

«Sie können da nicht rein«, sagt Cartridge, als ich im Flur an ihm vorübergehe, zum Zimmer 239, in dem Spencer liegt, den ich seit einer Stunde suche, weil er wieder verlegt wurde, das dritte Mal innerhalb von vierzehn Tagen. Ich gehe weiter.

«Mr. Sandberg?«

Man kennt mich hier. Die Ärzte sagen mir jeden Tag mindestens zehnmal, was ich hier drin alles nicht kann, und ich scheiße darauf. Als man sich letzte Woche weigerte, Spencer zu entlassen, damit er in seinem Hotelzimmer sterben kann, wurde ich laut und habe einen Arzt weggestoßen, der mich am Arm angefasst hat, und seither gelte ich als renitent. Man drohte mir mit Hausverbot, aber zum Glück habe ich einen Brief von Spencers Schwester Zelda, in dem steht, dass ich mich um alles kümmern soll, was ihren Bruder betrifft. Spencer ist so mit Medikamenten vollgepumpt, dass er kaum je bei Bewusstsein ist. Wenn er doch einmal halbwegs und für einen flüchtigen Moment aus seinem Dämmerzustand erwacht, starrt er mich an, und ich meine, Panik in seinen Augen zu erkennen. Dann drücke ich seine kühle, welke Hand, gerade fest genug, um die Knöchelchen darin nicht zu brechen und ihn trotzdem spüren zu lassen, dass ich da bin und nicht gehe, solange er mich braucht.

Zelda, acht Jahre jünger als Spencer, lebt in Henderson, Nevada. Der Streit um eine Erbschaft hat die beiden vor vielen Jahren entzweit, das weiß ich von Spencer. Und dass sie in England aufgewachsen sind. Am Telefon klang Zelda betrübt, als ich ihr erzählte, Spencer würde bald an Prostatakrebs sterben, aber so etwas wie Geschwisterliebe scheint sie längst abgelegt zu haben. Sie bat mich, ihren Bruder vom Städtischen Krankenhaus in eine Privatklinik verlegen zu lassen, die Kosten übernehme sie. Das tut sie auch wirklich und sorgt so aus dem Hintergrund dafür, dass Spencer auf seinem letzten Weg Erster Klasse reist. In der Privatklinik hat Spencer ein Einzelzimmer, was auf jeden Fall besser ist als das Achtbettzimmer im Armeleutehospital, wo er noch vor zwei Wochen lag. Aber das alles hier jagt ihm einen ungeheuren Schrecken ein, das ganze Weiß und die Stille und die Schwestern, die ihm vorkommen müssen wie sterile Engel in einem Himmel, in den er nie kommen wollte. Als er noch nicht in einen Ozean aus Schmerz- und Schlafmitteln versenkt worden war, hat er mich gefragt, wo er sei, und ich habe ihm geantwortet, man kümmere sich hier um ihn, bis er wieder auf den Beinen ist. Er wolle zurück in sein Zimmer im Hotel, hat er gesagt, und ich habe ihm versprochen, dafür zu sorgen.

Spencers Zimmer im Hotel ist so klein wie alle anderen, aber wer es betritt, erlebt ein Wunder. Spencer hat den Fußboden von seinem miefigen Teppich befreit und ihn in einen prächtigen Dielenboden zurückverwandelt, Stück für Stück, mit Schleifpapier, auf Händen und Knien. Die Wände, auf denen zahllose arme Schweine ihr Gekritzel hinterlassen haben, hat er mit hübschen, hellen Tapeten beklebt. An diesen Wänden hängen Hunderte von gerahmten Bleistiftzeichnungen, vom Boden bis zur Decke, über der Tür, an jedem verfügbaren Fleck. Die Rahmen sind alle aus demselben dunklen Holz gefertigt, aber von unterschiedlicher Größe. Die Zeichnungen, zarte Geflechte aus Graphit, zeigen Menschen. Spencer hat sie über Jahrzehnte hinweg festgehalten, sie stehen oder sitzen, abwesend, ohne irgendeine Beschäftigung, mit leeren Händen, umgeben nur von Andeutungen, feinen, ins Nichts fließenden Strichen. Nachdem ich eine Weile nur staunend dagestanden war, habe ich die Gesichter der Gezeichneten betrachtet, Hunderte von Fremden, bis ich an einer Wand Dobbs erkannte, dann Alfred, Randolph, Enrique, Elwood, Leonidas, Mazursky, Winston. Mich. Und Aimee. Spencer hat uns aus dem Gedächtnis gezeichnet. Er hat scheinbar teilnahmslos in der Lobby gesessen und uns unter müden Lidern hervor betrachtet, ist nach oben in seine eigene Welt, seine eigene Zeit gegangen und hat uns gezeichnet. Ich hätte ihm gerne dabei zugesehen. Ich hätte gerne gesehen, wie er Aimee auf dem Papier festhält, wie ihr Körper das leere Blatt betritt, wie aus seiner Erinnerung ihr Gesicht wird und wie er zaubert und ihren Blick einfängt, der mich trifft, wie mich der Blick der echten Aimee immer getroffen hat.

«Sie können jetzt nicht rein«, sagt Cartridge. Er hat mich überholt und steht vor der Tür mit der Nummer 239. Cartridge ist nur einen halben Kopf größer als ich, aber er ist breit und durchtrainiert, bestimmt stählt er seinen Körper in Fitnessstudios, Squashhallen und auf Golfplätzen.

«Warum nicht?«frage ich.

Cartridge senkt den Blick, vielleicht für zwei Sekunden. Das reicht mir, um zu wissen, dass Spencer tot ist. Gerade als Cartridge zu einer Antwort ansetzen will, öffne ich die Tür. Ich sehe, wie zwei Pfleger Spencers Leiche in einen Plastiksarg legen, der im Deckenlicht schimmert. Ein Arzt, dessen Namen ich vergessen habe, steht neben dem Bett und blickt von einem Heft auf, in das er schreibt, sieht mich an. Cartridge zieht meine Hand von der Türklinke und schiebt mich weg, aber ich habe sowieso nicht vor, das Zimmer zu betreten. Ich drehe mich um und gehe den Flur hinunter und Stufen und durch einen anderen Flur und eine Glastür, die sich vor mir öffnet, und durch noch eine Schiebetür, wie ein Astronaut, der eine Raumstation verlässt und ins Nichts tritt, in die Leere des Universums, das sich vor ihm ausdehnt und doch zu klein ist, zu eng zum Atmen.

Es ist kalt, und was an Licht da wäre, liegt auf den Wolken, weit weg und unsichtbar. Ich gehe den Weg zum Hotel zu Fuß, vielleicht hundert Blocks. Ich wünschte, es wären tausend.

Für den Rest des Tages sitze ich in Spencers Zimmer. Ich sollte Zelda anrufen, aber ich warte noch damit. Ein Song von Count Basie weht durch das Gebäude, eine Brise aus Tönen, die sich in den Gängen verliert. Dreihundertzweiundfünfzig Bilder zähle ich, unter dem Bett waren noch mehr, alle gerahmt. Schwarzweißfotos auf der Kommode zeigen ein Landhaus, einen Mann und eine Frau auf einem Sofa, einen Jungen in einem Ruderboot und auf einem Pferd, ein Mädchen, das vermutlich Zelda ist. Im Schrank hängen zwei Anzüge, auf Regalen liegt ein Stapel Hemden und ordentlich gefaltete Unterwäsche. Ein Radiogerät aus blauem Kunststoff steht auf dem Nachttisch. Ich schalte es ein und setze mich auf das Bett, als Claude Debussys Sonate für Cello und Klavier ertönt. Zeit vergeht, hinter den Fenstern lärmt und rauscht die Stadt und bleibt doch in weiter Ferne.

Ich sitze da und überlege, was mit Spencers Sachen geschehen soll. Dass Zelda etwas davon will, bezweifle ich. Am Telefon ist ihre Stimme klar, nicht wie die einer alten Frau. Ich sollte sie anrufen, obwohl das einer der Ärzte bestimmt schon längst getan hat. Ich sollte die Kommode und die Schubladen des Schreibtisches nach einem Testament durchsuchen, aber ich bleibe auf dem Bett sitzen und lausche der Musik. Ich muss an Matthew denken und daran, dass ich einmal Cello spielen konnte. Ich betrachte meine Hände, lege mich hin. Die Bettdecke ist kühl, ich breite die Arme aus wie in Schnee. Matthew. Colm. Conor. Ich liege im Viereck meiner Kindheit, Orla liest mir aus der Zeitung die Geschichte vom schiffbrüchigen Schwein mit Sonnenbrand vor, und ich weine.

In Zeldas Auftrag suche ich einen Sarg für Spencer. Es gibt Särge aus heimischem und tropischem Holz, aus Kupfer und Bronze und Chromstahl. Sie haben Namen wie Olympus, Century und Lincoln, ein Modell heißt Süßes Jenseits, ein anderes Letzte Reise. Im Internet finde ich Särge aus Zellulose, die sich im Boden umweltverträglich auflösen, und solche aus Sperrholz, das Stück für hundertsiebzig Dollar. Zelda hat mir einen Scheck geschickt, davon soll ich die Beerdigung bezahlen, Sarg, Grabstein, Blumen, Fahrt zum Friedhof, Pfarrer und anschließendes Essen. Ich entscheide mich für den Sarg mit dem schönen Namen Memory, der innen mit beigefarbenem Samt ausgekleidet ist, und einen Grabstein aus Granit der Kategorie Klassisch, mittlere Preislage. Ein Bestattungsunternehmen, dessen Verkaufsraum fünf Blocks entfernt liegt, besorgt eine Grabstätte auf dem Greenwood-Friedhof und erledigt alles, was für die Beisetzung nötig ist.

Das alles kostet einen Haufen Geld, und weil ich Zelda nicht anrufen und um mehr bitten will, ist am Ende kaum noch etwas für das Leichenmahl übrig. Wir könnten hier im Hotel ein Essen kochen, aber Madame Robespierre hat uns vor einigen Tagen verlassen, um bei ihrer kürzlich verwitweten Schwester in Alabama zu leben. Der Hotelbesitzer will keine Köchin mehr einstellen und hat Randolph beauftragt, eine andere Lösung für das Frühstücksproblem zu finden. Diese Lösung bin im Moment noch ich, und wie es aussieht, wird sich daran so schnell nichts ändern. Bis Randolph oder mir etwas Besseres einfällt, koche ich am Ende meiner Nachtschicht Tee und Kaffee und backe tiefgefrorene Brötchen in einem Gasofen auf, dem ich nicht traue. Dobbs und Mazursky, die beiden Frühaufsteher, übernehmen das Braten von Eiern, Speck und Schinken und legen alles in den Ofen, der vom Brötchenbacken noch warm ist. Wer Joghurt und Cornflakes will, bedient sich aus dem Kühlschrank, das ist hier nicht das Four Seasons.

Weil das Essen in Gedenken an Spencer ein Mindestmaß an Würde und Stil aufweisen soll, werde ich meine Ersparnisse zu dem Geld legen, das von Zeldas Scheck übriggeblieben ist. Vielleicht kann ich Randolph überreden, etwas aus der Kasse für besondere Anlässe rauszurücken.

Am Tag der Beerdigung scheint die Sonne. Sämtliche Stammgäste des Hotels sind gekommen, außer Elwood, der mit Nierensteinen im Krankenhaus liegt. Weil wir zurzeit ziemlich gut belegt sind, ist Randolph im Hotel geblieben. Am Morgen hat er mir hundert Dollar für das Essen gegeben, fünfzig mehr, als ich erwartet hatte. Winston hat seinen Laden dichtgemacht, um hier zu sein. Als wir um das offene Grab stehen, empfinde ich für alle Zuneigung, sogar für Mazursky, der Pantoffeln trägt. Der Pfarrer spult den offiziellen Teil der Zeremonie herunter, dann sage ich ein paar Worte und lese den Brief vor, den Leonidas per E-Mail aus Griechenland geschickt hat. Nachdem der Sarg in die Grube gesenkt worden ist, sagt Dobbs ein Gedicht auf. Alle sind überrascht und senken den Kopf, weil Dobbs vor Aufregung ein wenig stottert und den Text vergisst. Am Schluss klatscht Mazursky Beifall, streckt sich und meint, er sei hungrig. Der Pfarrer schüttelt mir die Hand und eilt davon. Zwei Männer mit Schaufeln warten in diskreter Entfernung darauf, dass wir gehen und sie das Grab zuschütten können. Ich sage den anderen, ich würde nachkommen, und bleibe noch einen Moment bei Spencer.

Schließlich zwängen wir uns in die beiden gemieteten Limousinen und lassen uns zu einem italienischen Lokal fahren, dessen Besitzer uns einzeln begrüßt und sein Beileid ausspricht. Wir essen etwas Warmes und trinken Rotwein dazu, einen der besseren. Ich habe vor einiger Zeit die Finger vom Alkohol gelassen, aber heute will ich auf Spencers Wohl trinken, was mit Wasser oder Cola unangemessen wäre, eine Beleidigung. Wir sind in einem Nebenraum untergebracht, im vorderen Teil des Lokals findet eine Hochzeitsfeier statt, wofür der Wirt sich mehrmals bei mir entschuldigt. Irgendwann kommt das Brautpaar zu uns und schenkt uns die Reste der Hochzeitstorte. Die Braut ist klein und hat langes schwarzes Haar und blaue Augen, und sie fragt mich voller Mitgefühl, ob der Verstorbene mein Großvater gewesen sei. Ich bin betrunken und sage ja und verliebe mich unsterblich in sie.

Später ist mir so übel, dass ich zum Friedhof fahren, mich neben Spencer legen und sterben will. Mazursky meint, mit so etwas spaße man nicht, und küsst für mein Seelenheil das silberne Kreuz, das an einer Kette um seinen schrumpeligen Hals hängt. Winston und Enrique nehmen mich in die Mitte, der Wirt gibt uns einen leeren Mayonnaisekübel mit. Im Hotel werde ich in den Fahrstuhl geschleppt und dann in mein Zimmer, wo man mich auf das Bett fallen lässt. Dobbs bleibt bei mir, bis ich eingeschlafen bin. Jedenfalls finde ich diese Vorstellung tröstlich.

Eine Woche nach der Beerdigung ruft Zelda im Hotel an, sagt, sie sei in Manhattan, und will wissen, ob ich sie zu Spencers Grab bringen könne. Ich erzähle Mazursky davon, und ein paar Stunden später haben sich alle bis auf Dobbs in der Lobby versammelt, auch Elwood, der vorgestern aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Die alten Knacker wollen Spencers Schwester kennenlernen, und Alfred hat sich auf die Idee verstiegen, ihr den Hof zu machen. Heute hat er sich zum ersten Mal, seit er seinen Job als Klimagerätevertreter verloren hat, wieder die Haare gefärbt und ein sauberes Hemd angezogen.

«Ich werde nicht jünger«, sagt er.»Ich muss sehen, dass ich irgendwo unterkomme, solange ich noch in Schuss bin. «Er ist siebenundsechzig. Er ist Stammgast im Hotel der alten Männer geworden und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Er war mal verheiratet, vor vielen Jahren. Seine Frau und seine Tochter wollen nichts mehr von ihm wissen, seit er die Familie mit einem todsicheren Geschäft, das irgendwie mit Hühnern und Hormonen zu tun hatte, in den Ruin getrieben hat.

«Unterkommen?«frage ich ihn, obwohl ich mir denken kann, was er damit meint.

«Bei einer Frau.«

«Du willst dich an Spencers Schwester ranmachen? Du kennst sie nicht mal.«

«Sie ist reich, mehr muss ich nicht über sie wissen.«

«Vielleicht ist sie ja schon vergeben«, sage ich.

«Du hast gesagt, sie ist nicht verheiratet!«In Alfreds Augen blitzt Panik auf.

«Ich hab gesagt, dass sie noch immer Prescott heißt.«

«Na also, ledig«, sagt Alfred und lächelt.»Wie seh ich aus?«

«Wie ein Heiratsschwindler.«

«Bestens. «Alfred grinst und rückt den Krawattenknoten zurecht. Dann setzt er sich neben Enrique auf das Sofa, nimmt die New York Times vom Vortag und tut, als lese er den Wirtschaftsteil.

Zwei Stunden später betritt Zelda die Lobby. Alle Männer stehen auf, nur Elwood bleibt sitzen, bis er seinen Fauxpas bemerkt und sich ebenfalls erhebt. Zelda hat graublondes, zu einem verdrehten Turm hochgestecktes Haar, schwarz geschminkte Augen und dunkelrote Lippen, was ihr die künstliche Tragik eines Stummfilmstars verleiht. Ihr weißer Hosenanzug fängt alles Licht ein, sie ist ein Schwan und lässt uns aussehen wie zerzauste Enten. Ich stelle mich ihr vor, und sie versucht nicht einmal, ihr Erstaunen über mein Alter und meine Größe zu verbergen. Alfred hüstelt, aber Zelda macht meinen Versuch, sie mit dem herausgeputzten Haufen bekanntzumachen, zunichte, indem sie mich bittet, gleich zum Friedhof aufzubrechen.

«Ich dachte, Sie möchten vielleicht sein Zimmer sehen«, sage ich,»sein ehemaliges.«

Der Vorschlag scheint Zelda zu verwirren, sie überlegt. Ihr ungeschminkter Hals ist weißer als das Gesicht und übersät mit Falten und blassrosa Flecken. In ihrem Mund stehen kleine gelbe Zähne, unter ihrem Parfüm rieche ich Tabak.

«Ist es denn nicht bereits wieder belegt?«fragt Zelda.

«Wir warten auf Ihre Anweisungen, was mit den Sachen geschehen soll«, sage ich.

«Oh…«Zelda schaut auf die Uhr, bestimmt fliegt sie am Abend zurück.

«Spencer… Ihr Bruder hat gezeichnet«, sage ich,»Bleistiftzeichnungen. Ich weiß nicht, ob Sie davon wussten. Er war ein Künstler.«

«Nein«, sagt Zelda bestimmt und offenlassend, ob sie nichts von Spencers Leidenschaft wusste oder die Bezeichnung Künstler für ihren Bruder als unangemessen empfindet.

«Er hat uns alle gezeichnet«, sagt Alfred und löst sich einige Schritte aus dem Pulk der Männer, die zustimmend nickend und murmelnd aus einer Starre fallen.»Sein Strich ist vergleichbar mit dem von Toulouse-Lautrec oder Kandinsky.«

Die Stille, die nach diesem Satz in der Halle steht, ist mit Händen greifbar. Zelda mustert Alfred irritiert, ihre Mundwinkel zucken. Alfred, der sich offenbar gut auf dieses Treffen vorbereitet hat, wartet ab, was passiert. Zelda sieht noch einmal auf ihre Armbanduhr, ein flaches Modell aus Gold, auf dem diskret ein paar Diamanten blitzen.

«Wenn es nicht zu lange dauert«, sagt Zelda schließlich.»Mein Taxi wartet.«

Alfred prescht vor und bietet ihr sein Geleit an, während ich zum Fahrstuhl gehe und auf den Knopf drücke.»Mein Name ist übrigens Alfred«, sagt er,»Alfred Kerkin. «Es scheint ihm nichts auszumachen, dass sie ihm keinerlei Beachtung schenkt, vielleicht lässt er sich auch bloß nichts anmerken.»Ich war ein enger Freund und großer Bewunderer Ihres Bruders, Gott hab ihn selig.«

Im Fahrstuhl quatscht er weiter und hört nicht auf, bis wir vor dem Zimmer stehen. Zelda bittet darum, alleine hineingehen zu dürfen. Ohne eine Antwort abzuwarten, betritt sie den dunklen Raum und schließt die Tür hinter sich.

Nach einer halben Stunde, während der Alfred mich mit geflüsterten Fragen und Spekulationen genervt hat, öffnet sich die Tür. Zelda hat geweint, das Schwarz um ihre Augen ist nachgezogen, Schminke und Puder sind frisch aufgetragen. Sie hat ein Bild von der Wand genommen, presst es mit beiden Händen gegen ihren Bauch. Mit gesenktem Blick geht sie zum Fahrstuhl, Alfred und ich folgen ihr. Die Fahrt ins Erdgeschoss dauert zehn Sekunden, lange genug für Alfred, um Zelda zu fragen, warum sie ohne ihren Gatten nach New York gekommen sei. Als die Lifttür sich öffnet, sagt Zelda ruhig, es gebe keinen Ehemann, und durchschreitet dann eilig die Halle, ohne von den Männern Notiz zu nehmen, die aus den Sesseln und Sofas aufgesprungen sind wie Reporter, die ein Gerichtsurteil erwarten.

Vor dem Hotel steigt Zelda in ein Taxi, ich setze mich neben sie, und Alfred nimmt neben dem Fahrer Platz. Fünfzehn Minuten lang redet Alfred von den philosophischen Diskursen, die Spencer und ihn durch die Nächte getragen haben, von der Willkürlichkeit, mit der Gott seine Kinder zu sich holt, von einer Reise durch Nevada als junger Mann, von Toulouse-Lautrec und Cézanne und Degas. Dabei dreht er sich dauernd um, und weder Zeldas Desinteresse, das in Wut umzuschlagen droht, noch meine eindringlichen Blicke und stumm geformten Worte bringen ihn zum Schweigen.

Auf dem Friedhof begleiten wir Zelda zum Grab ihres Bruders, wo sie mir einen Umschlag überreicht und sich bei mir bedankt und verabschiedet. Alfred will zu einer Betrachtung über die Untröstlichkeit vor einem Grab anheben, aber ich ziehe ihn weg. Ich hätte Zelda gerne gefragt, welche Zeichnung sie mitgenommen habe, denn sie hat sie die ganze Zeit mit dem Glas gegen ihren Bauch gehalten, aber mir fehlt Alfreds Unverfrorenheit. Bevor wir den Friedhof verlassen, drehen wir uns um und sehen Zelda als weiß glitzernden Punkt zwischen den Grabsteinen.

«Sie weint wieder«, sage ich.

«Sie ist einsam«, sagt Alfred. Er legt mir seine Hand auf die Schulter.»Du hast doch ihre Telefonnummer, nicht wahr?«

Ich habe Randolph gefragt, ob ich Spencers Bilder in der Lobby aufhängen darf, und er hat den Besitzer angerufen, der es unter der Bedingung erlaubt hat, dass ich gleich sämtliche Wände neu streiche. Alfred hat die Farbe billig aufgetrieben, und Dobbs und Enrique haben mir beim Malen geholfen, die anderen beim Aufhängen. Wir haben eine kleine Vernissage veranstaltet, ein paar Nachbarn, Ladenbesitzer aus der Gegend und Passanten sind gekommen.

In dem Umschlag, den Zelda mir auf dem Friedhof gegeben hat, waren fünfhundert Dollar und eine Karte, auf der sie sich für meine Hilfe bedankt und schreibt, ich solle mit Spencers Sachen tun, was ich für richtig halte. Am gleichen Tag bin ich in sein ehemaliges Zimmer umgezogen. Die hellen Rechtecke an den Wänden, wo früher die Bilder waren, werden bald verschwunden sein. In der Kommode lagen noch mehr Zeichnungen und Skizzen, Hunderte von Blättern. Von Zeldas Geld werde ich Rahmenleisten und Glas kaufen und die Wände wieder füllen. Ich denke auch darüber nach, mir in Kursen das Zeichnen beibringen zu lassen.

Im Sommer werde ich durch die Straßen spazieren und mir die Gesichter der Menschen einprägen, um sie später auf dem leicht körnigen Papier, von dem noch viel da ist, festzuhalten. Spencers Hemden und Anzüge passen mir wie angegossen, sogar seine Schuhe haben meine Größe. Ich werde mir seinen Blick für das Unscheinbare aneignen, seine heimliche Aufmerksamkeit für die verborgenen Dinge und glanzlosen Wunder. Ich werde seinen Hut tragen und seinen Stock schwingen und tagelang nicht sprechen. Die Leute werden mich für exzentrisch halten, meinetwegen für verrückt.

Das macht mir nichts aus. Es ist mir egal, was die Menschen von mir denken. Mit Ausnahme einiger weniger sind sie dumm und gefühllos und laut, und ich werde ihnen wann immer möglich aus dem Weg gehen. Ich will nichts von ihnen, und wenn sie an mich keine Erwartungen haben, soll mir das recht sein. Es klingt schwer, sich auszuklinken aus dem tosenden Hauptstrom des Lebens, aber es ist leicht. Dobbs, Mazursky, sie alle machen vor, wie einfach es ist. Sie sind vielleicht nicht besonders glücklich dabei, aber was soll’s. Glück ist dein Lieblingssong aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und in einen Abgrund stürzt.

Ich werde meinen Namen ändern lassen, McDermott statt Sandberg. Ich will keine Briefe mehr, keine schlechten Neuigkeiten, mein Bedarf ist gedeckt. Ich muss mich von niemandem verabschieden, niemand begrüßt mich, weil ich längst angekommen bin. Ich beklage mich nicht, ich brauche keine tröstenden Worte, keine mitfühlenden Blicke. Ich komme zurecht, kümmere mich um meine Angelegenheiten. Das ist mein Plan.

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