The Sixth Sense, 1999

Trevor und Clive waren der Ansicht, der bevostehende Jahrtausendwechsel sei ein guter Zeitpunkt für grundlegende Veränderungen. Im April zogen sie nach Cape Coral, Florida, nachdem sie den ganzen Februar mit der Suche nach einem Haus verbracht hatten. Harold trennte sich von seinem Besitz auf Long Island und kaufte mit einem Teil des Erlöses den Reformkostladen. Alice wurde Geschäftsführerin, Wilbur ihr Stellvertreter. Mehr zum Spaß als aus Notwendigkeit ließen sie Visitenkarten drucken, auf denen in dunkelgrüner Schrift das alte Firmenlogo prangte. Obwohl Trevor und Clive bewegt protestiert hatten, behielt der Laden seinen angestammten Namen: Lombard & Cohen, Gesundkost.

Gegen die Idee von Alice, alles moderner zu gestalten, die Fassade zu renovieren und den verwitterten Schriftzug über der Tür einem neuen, kürzeren und griffigeren wie zum Beispiel Fitfood oder Organische Oase zu opfern, lief Wilbur Sturm, beschämt angesichts ihres mangelnden Taktgefühls gegenüber Trevor und Clive und entsetzt über ihren fragwürdigen Geschmack. Er bat um eine Woche Zeit, während der er die Fassade in der alten Farbe neu strich, die halbmeterhohen Buchstaben aus verzinktem Blech aufpolierte und der Eingangstür sowie den Schaufensterrahmen einen neuen Anstrich verpasste. Das Resultat überzeugte Alice und rührte Trevor und Clive zu Tränen, als sie in Florida die Fotos betrachteten.

Alice und Wilbur arbeiteten sechs Tage in der Woche, und wäre es nach Wilbur gegangen, hätten sie den Laden auch am Sonntag geöffnet. Er dachte noch ab und zu an seinen Vater, aber der Wunsch, ihn zu finden, war weg. An die Stelle der zornigen, ungeduldigen Sehnsucht waren Enttäuschung, Resignation und Wut getreten, und eine maßlose Leere, die Wilbur mit Arbeit im Laden und in der Bibliothek füllte. Von seinem ersten Lohn nahm er Fahrstunden und kam sich selbst im kleinsten Auto lächerlich vor, kaum saß er hinter dem Steuer. Trotzdem bestand er ein paar Wochen später die Prüfung, kaufte aber statt eines gebrauchten Autos ein neues BMX-Fahrrad, das drei Tage später am Eingang zum Marine Park gestohlen wurde, wohin er es, da er nicht Rad fahren konnte, geschoben hatte. Aufgrund dieses Diebstahls, der Tatsache, dass er den Straßenverkehr hasste, und der Erkenntnis, die Lernfahrten nur deshalb überlebt zu haben, weil er seine Intelligenz über seine Emotionen stülpen konnte wie einen Helm, fasste er den Entschluss, den Rest seines Lebens als Fußgänger und Passagier zu verbringen.

Manchmal stieg er nach der Arbeit in einen Bus und ließ sich irgendwohin fahren, wechselte planlos die Linien und landete an Orten, an denen er nie zuvor gewesen war, nicht einmal, als er nach seinem Vater gesucht hatte. Seit Monaten hatte niemand mehr angerufen und behauptet, Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen. Trotzdem passierte es immer wieder, dass Wilbur an einer Haltestelle ausstieg und einem Mann hinterherrannte, nur um in sein Gesicht zu sehen. Er hasste sich jedes Mal dafür, aber unterdrücken konnte er den Zwang nicht. Einmal hatte er einen Mann über drei Blocks verfolgt und sogar angesprochen, weil er in der dürren, verkommenen Gestalt seinen Vater zu erkennen glaubte. Darauf fühlte er sich so elend, dass er in die nächste Bar ging und sich, nachdem er seinen ansonsten nutzlosen Führerschein einer Reihe von ungläubigen Angestellten und dem herbeigerufenen Geschäftsführer gezeigt hatte, mit zwei Caribbean Cool Wave, die es mit Sonnenschirm und Trinkhalm gab, besinnungslos trank. Vor jedem Schluck an Alice zu denken, hielt ihn ebenso wenig von seinem ersten Alkoholdelirium ab wie die begründete Vermutung, dass sein Vater sich totgesoffen hatte.

Der Sommer ging vorbei wie ein langer Fieberschub, wie ein Traum, aus dem Wilbur ohne Erinnerung erwachte. Die Arbeit im Laden, die Beschränkung auf diesen einen Flecken Welt und seine gelegentlichen, diszipliniert dosierten Abstürze in wechselnden Bars hatten ihn stetig der Wirklichkeit entzogen. Das wahre Leben spielte sich vor ihm auf der Straße ab, es lärmte und roch und ließ das Schaufensterglas erzittern und Wilbur doch ungerührt. Menschen betraten den Laden und wurden von ihm bedient, effizient und fachkundig und mit freundlicher Distanziertheit. Wilburs Stadt schrumpfte auf die immergleichen Orte, was er tat, war eine Liste aus Wiederholungen, seine Gedanken kreisten um denselben unbewohnten Planeten, tagaus, tagein und jede Nacht. Nichts war ihm zu viel, kein Kunde zu anspruchsvoll, keine Frage zu banal, aber es war ihm auch nichts zu wenig, keine Woche zu leer, kein Monat zu unbedeutend.

An seinem Buch arbeitete er mit Fleiß und Disziplin, aber ohne Leidenschaft. In der Dunkelheit der Kinos kam er manchmal zu sich und stellte sich vor, wie das Leben draußen sei und wie man sich darin bewegte. Er begann, die Filme nicht mehr zu verstehen, oder verstand sie falsch, verließ mitten in der Vorführung den Saal und trat benommen und ratlos auf die Straße hinaus. In der Wohnung legte er sich zum Schlafen hin, während Alice am Küchentisch über der Buchhaltung saß und vergeblich darauf wartete, dass er mit ihr sprach. Sonntags begleitete er sie in den Park, weil er gegen ihre fordernde Lebenslust nicht ankam und weil es ein winziges Eingeständnis an ihr Bedürfnis nach Mustern war, nach tröstlichen Zeichen von Beständigkeit und Normalität.

Alice wusste nicht, wie sie mit Wilburs Verstocktheit umgehen sollte, tat sein Schweigen mal als pubertäre Verunsicherung ab, mal als Folge der ergebnislosen Vatersuche. Sie las heimlich Bücher von Jugendpsychologen und befolgte deren Rat, Wilbur zu nichts zu drängen, auch nicht zu einem Gespräch. Und sie suchte eine größere Wohnung.

Zwei Monate später bezogen sie mit ihren Habseligkeiten eine Dreizimmerwohnung in einem achtgeschossigen Apartmenthaus in Midwood im Süden Brooklyns. Eine gute Kundin des Reformkostladens war eine der Besitzerinnen des Hauses und revanchierte sich dafür, dass Alice sie mit einer ausgeklügelten Diät und homöopathischen Mitteln fast vollständig von einer Gichterkrankung geheilt hatte. Wilbur durfte sich sein Zimmer aussuchen und nahm das kleinere zur Straße hin, weil er außer einer Holzkiste keine Möbel besaß und im dritten Stock der Blick aus keinem der Fenster lohnend war. In einem Trödelladen kauften sie ein Bett, einen Schreibtisch und einen Stuhl für Wilbur und einen Polstersessel, damit sie beim Fernsehen nicht länger zusammen auf dem Sofa sitzen mussten. Alice strich die Küchenwände gelb und stellte Pflanzen auf die Fenstersimse. Sie hängte Bilder auf und gerahmte Fotos, sie fand eine alte Kommode, die sie im Keller ablaugte und schliff und ölte und in ein Schmuckstück verwandelte, und sie fuhr bis nach Connecticut, um einen Teppich aus gefärbtem Bast zu kaufen.

Wilbur ließ die Wände in seinem Zimmer, wie sie waren, gebrochen weiß und mit den Sternzeichen alter Nagellöcher überzogen. Er stellte seine Bücher und Colms Nashorn in die Regale und schob den Koffer mit den restlichen Andenken an seine Vergangenheit unter das Bett. Natürlich entging es ihm nicht, wie sehr Alice den Bezug der neuen Wohnung als Versprechen auf Glück und Harmonie empfand, und er gab sich Mühe, ihre oft angestrengt gute Laune nicht zu trüben. Aber so gemütlich Alice alles einrichtete, so wenig konnte sie verhindern, dass Wilbur sich von ihr entfernte. Statt nach Hause zu kommen und mit ihr zu essen, setzte er sich lieber in ein Kino, eine Spielhalle oder Kneipe, von wo er erst spätnachts heimkehrte, wenn Alice längst schlief. Regnete es am Sonntag, nahm er das als Grund, die gemeinsame Fahrt zum Park auszulassen und stattdessen alleine loszuziehen. Wenn Alice ihn fragte, was er vorhabe, erhielt sie die Antwort, er wolle am Buch arbeiten, und ahnte nicht, dass die Biografie mittlerweile über vierhundert handgeschriebene Seiten dick und weit entfernt von einem Abschluss war.

Im Laden fühlte sich Alice Wilbur am nächsten. Sie liebte es, ihn mit Kunden sprechen zu hören, und war selber dankbar für jedes Wort, das er mit ihr wechselte, auch wenn der Grund dafür meistens geschäftlicher Natur war. Zuzusehen, wie er mit schlafwandlerischer Sicherheit Artikel aus den überfüllten Regalen holte, in den Katalogen nach ausgefallenen Produkten suchte oder die Kasse bediente, erfüllte sie mit Freude, die nur durch den Umstand getrübt wurde, dass sie sich der Vergänglichkeit dieses Glücks bewusst war. Aus dem zurückhaltenden, aber neugierigen und offenen Jungen, den sie vor mehr als einem Jahr in ihr Leben geholt hatte, war ein verschlossener Mann geworden, für dessen Eigentümlichkeiten, Komplexe und Probleme sie zwar reichlich Erklärungen, aber keine Lösungen hatte.

An einem jener Sonntage, an denen es regnete und Wilbur schon am Morgen die Wohnung verließ, um sich in einem Kino in Manhattan die Matineevorstellung anzusehen, traf Alice eine Frau, die gelegentlich als Kundin in den Laden kam und in ihrer Freizeit Pullis, Schals und Mützen aus naturbelassener Wolle strickte. Ruth Cole war vierzig und geschieden und lebte mit ihren drei Kindern ein paar Straßen weiter in einer Wohnung über der Autowerkstatt ihres Bruders. Morgens arbeitete sie im Büro der Werkstatt, nachmittags strickte sie, und alle paar Monate verkaufte sie ihre Waren unter einem Goodyear-Sonnenschirm auf dem Markt. Alice lud sie zum Kaffee ein und schlug ihr vor, die Sachen im Laden anzubieten, und Ruth Cole gefiel die Idee. Weil der Verkaufsraum für weitere Artikel zu klein war, sah Alice sich in der Straße nach einem geeigneten Objekt um und fand eine ehemalige Zoohandlung, die zur Miete ausgeschrieben war.

Sie erzählte Wilbur von ihrem Plan, und am selben Abend trafen sie den Makler und besichtigten den Laden, in dem noch immer leere Käfige und Aquarien standen und der nach Fischfutter roch. Alice war voller Energie, redete von einem neuen Boden, indirektem Licht und flexiblen Regalsystemen, von Kleidern aus biologischer Baumwolle und Seide und schließlich davon, auch Gesundheitsschuhe ins Sortiment aufzunehmen, vielleicht sogar Hüte und Handtaschen aus natürlichen Materialien. Der Makler, ein übergewichtiger Mann mit schulterlangem grauem Haar, bejubelte jeden von Alices Einrichtungsvorschlägen mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme und ließ ihre spontan geäußerte Idee, in dem Laden auch Teppiche aus Hanffasern und Sisal anzubieten, im gleißenden Licht seiner uneingeschränkten Zustimmung leuchten.

Während die beiden laut zählend den mit Sägemehl, Stroh, fleckigen Zeitungen und Kassenzetteln bedeckten Boden abschritten, den idealsten Standort für den Kassentisch berieten und beim Fund eines hinter einem Rollschrank zerquetschten und in der trockenen Heizungsluft mumifizierten Hamsters in kindisches Gelächter ausbrachen, stand Wilbur bei der Eingangstür und sah auf die Straße, wo ein heftiger Regen den Müll durch die Rinnsteine schwemmte. Es war dunkel, Leute ohne Schirm hasteten vorbei, das Geräusch von Reifen, die durch Pfützen glitten, drang herein. PET SHOP A. ZEGOYAN stand auf der Schaufensterscheibe, darunter, mit abwaschbarer roter Farbe hingepinselt, HUNDEWELPEN. Wilbur erinnerte sich an die jungen Hunde, die sich das Schaufenstergehege mit Kaninchen geteilt und die Scheibe abgeleckt hatten, wenn man draußen die Hand dagegen hielt. Er war nie lange vor dem Geschäft stehen geblieben und irgendwann nur noch auf der anderen Straßenseite gegangen, um sich den Anblick der Hunde zu ersparen, deren Verkaufschancen in dem rasenden Tempo schwanden, in dem ihre Körpergröße zunahm.

Den letzten Tagen vor der Schließung des Ladens hatte er bewusst keine Aufmerksamkeit geschenkt und fragte sich jetzt, ob es einen Räumungsverkauf, drei für zwei Kanarienvögel und Zierfische im Dutzend billiger gegeben hatte. Er hätte gerne gewusst, was aus den Hunden geworden war und aus der Schildkröte, die neben der Kasse in einem Glaskasten ihre Jahre abgesessen hatte, ein jämmerliches und ergreifendes Symbol für die Zähigkeit, mit der sich der Laden am Leben hielt, nur um irgendwann doch einzugehen.

«Wilbur, was meinst du, die hier raus?«fragte Alice und klopfte gegen eine Wand, an der ein Plakat mit Kanarienvögeln und Sittichen, deren Namen und Preisen hing.

Wilbur zuckte mit den Schultern, nickte dann und sah wieder auf die Straße. Am Morgen war ein Brief aus England in der Post gewesen. Norma Kennedy schrieb ihm, dass Matthew Fitzgerald im Jahr zuvor an einer Lungenentzündung gestorben sei. Nach seinem Tod war sie umgezogen und auf eine lange Reise durch Indien und Nepal gegangen und hatte Wilburs Brief erst nach ihrer Rückkehr vor ein paar Tagen erhalten. Matthew, schrieb sie, habe ihr oft von ihm erzählt und sich gefragt, wo er wohl sei und was er aus seinen Möglichkeiten und seinem Leben mache. Es tue ihr unendlich leid, dass sie ihm diese traurige Nachricht übermitteln müsse, und wenn er wolle, könne er irgendwann nach Dover kommen und das Cello holen, das Matthew ihm hinterlassen habe. Dem Brief lag eine Schwarzweißfotografie bei, auf der Matthew ihm so heiter und lebendig entgegenblickte, dass Wilbur in Tränen ausgebrochen war.

Alice hatte er davon nichts erzählt. Sie hätte die Trauer um Matthew zu seinen anderen Problemen getan und ihn gebeten, alles vor ihr auszuschütten, damit sie es gemeinsam betrachten und bestimmen konnten. Vor ein paar Wochen hatte er ihr Geld aus der Handtasche genommen und dabei ein Taschenbuch über Jugendpsychologie gefunden, und er hatte keine Lust, Objekt ihrer angelesenen Missverständnisse zu werden.

Nach der Besichtigung des Ladens tranken sie in einem Restaurant in der Nähe einen Kaffee und redeten über Alices Erweiterungsvorhaben. Wilbur machte keinen Hehl daraus, dass er nichts davon hielt. Er vertrat den Standpunkt, Trevors und Clives Tradition fortzuführen sei Verpflichtung genug und ein zusätzlicher Laden nur mit finanziellen Risiken verbunden. Aber Alice plädierte für Veränderung und gegen Stillstand, als halte sie eine Rede vor Wirtschaftsvertretern. Sie wollte mit Ruth Cole das neue Geschäft auf die Beine stellen, eine eigene Modelinie entwerfen und noch mehr Strickerinnen beschäftigen. Sie redete von unerfüllten Träumen, von kreativen Möglichkeiten und davon, dass sie in ihrem Leben noch etwas anderes sehen wolle als ungeschälten Reis und Dörrpflaumen. Dann bot sie Wilbur an, die Geschäftsleitung des Reformkostladens zu übernehmen.

«Du wirst der Boss«, sagte sie und war versucht, Wilburs Hand über den Tisch hinweg zu berühren, ließ es dann aber bleiben.»Du kannst Leute einstellen. Und entlassen. «Sie lachte nervös und verlegen.

Wilbur sagte nichts. Der heftige Schauer war in feinen Nieselregen übergegangen. Vom gelben Neonlicht des Eingangs gefärbte Tropfen rannen in willkürlichen Bahnen über die Scheibe, Autos trieben summend auf Pfützen vorüber.

«Ich bin sicher, du schmeißt den Laden mit links«, sagte Alice nach einer Weile.»Ach, und weißt du, wer gerne mit dir arbeiten würde?«Sie wartete, obwohl ihr klar war, dass Wilbur nicht antworten würde.»Jenna. Du weißt schon, Hoffman? Sie kauft immer diesen Tee, diese Kräutermischung. Sie studiert, drittes Semester Politikwissenschaften. Im Sommer hat sie mich wegen eines Aushilfsjobs gefragt, aber da brauchten wir niemanden. «Alice rührte in ihrer Tasse, obwohl kaum noch Kaffee darin war. Sie sah sich nach dem Kellner um, aber der war im hinteren Teil des Lokals verschwunden, nachdem er die Bestellung gebracht hatte, und nicht mehr aufgetaucht.

Wilbur wusste, wer Jenna Hoffman war. Nur wenige Zentimeter größer als er, behandelte sie ihn, als ginge er auf die Highschool. Sie sah nicht besonders gut aus, zumindest nicht in Wilburs Augen, machte ihre mangelnde Attraktivität jedoch mit einem Selbstbewusstsein wett, das er für Arroganz und Alice offenbar für Pfiffigkeit hielt. Alice hatte immer wieder versucht, ihn mit Jenna zu verkuppeln, hatte mit ihr über Filme gesprochen und erwähnt, wie gerne Wilbur ins Kino ging. Einmal hatte sie es so eingerichtet, dass Jenna sie wie zufällig im Park traf und den ganzen Sonntagnachmittag mit ihnen verbrachte. Er konnte Jenna Hoffman nicht leiden, und die Vorstellung, mit ihr zusammenzuarbeiten, ließ ihn erschauern.

«Aber du hast in Personalfragen natürlich absolut freie Hand«, sagte Alice, als sie Wilburs Gesichtsausdruck von unbeteiligt zu missmutig wechseln sah.

«Ich finde alles gut, so wie es ist«, sagte Wilbur nach langem Schweigen und verschränkte die Arme vor der Brust. Um über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nicht weiter nachdenken zu müssen, las er die große, handgeschriebene Speisekarte in Alices Rücken. Er hatte Hunger, aber er wollte dieses Gespräch nicht mit einer Mahlzeit in die Länge ziehen.

«Ich doch auch«, sagte Alice. Offenbar war es ein Fehler gewesen, Jenna Hoffman zu erwähnen, und sie war froh, dass Wilbur wieder den Mund aufmachte.»Aber ich will etwas Neues ausprobieren. Ruth und ich freuen uns auf dieses Projekt. «Sie winkte dem Kellner, der endlich aufgetaucht war und wie zufällig in ihre Richtung blickte, und zeigte auf die beiden leeren Tassen.

«Was sagen Trevor und Clive dazu?«

«Sie wissen noch nichts davon. Es ist ja alles noch gar nicht spruchreif. Außerdem hat der neue Laden nichts mit den beiden zu tun. Er wird etwas völlig Eigenständiges.«

Wilbur sah auf die Straße, wo eine Gruppe alter Frauen in durchsichtigen, von den Scheinwerfern und Rücklichtern der Autos gesprenkelten Regenumhängen vorbeischwebten wie plumpe Elfen. Durch die Wasserschlieren auf dem Glas sah er einen großgewachsenen, durchnässten Mann, der sein Vater hätte sein können, und widmete sich wieder der Speisekarte.

«Harold wird mir einen Kredit geben«, sagte Alice.»Er findet die Idee vielversprechend.«

«Na dann wäre ja alles geregelt«, sagte Wilbur, stand auf und prallte beinahe mit dem Kellner zusammen, der zwei Tassen Kaffee brachte.

«Wilbur, jetzt warte doch!«rief Alice, aber Wilbur ging zwischen den Tischen hindurch zur Tür und verließ das Lokal. Alice bezahlte den Kellner und wartete nicht auf das Wechselgeld, aber als sie auf die Straße trat, war Wilbur weg.

Noch im November unterschrieb Alice den Mietvertrag für die ehemalige Zoohandlung und begann mit dem Umbau. Wilbur stellte Ernest Shelby ein, einen dreiundfünfzigjährigen Mann, der zwei Jahre zuvor seine Stelle als Filialleiter eines Supermarkts verloren und seither als Parkplatzwächter, Vertreter und Kurierfahrer gearbeitet hatte. Er war glatzköpfig und korpulent, und wenn er mit Kunden scherzte, klang es, als bewerbe er sich für die Sprechrolle eines Bären oder Gnoms in einem Trickfilm. Seine Frau Rebecca, dreifache Mutter, ehemalige Kugelstoßerin und ausgebildete, aber arbeitslose Sportlehrerin, die bei einer Cateringfirma jobbte, half beim Umbau des neuen Ladens. In der ersten Woche mussten der alte Bodenbelag entfernt und eine Mauer eingerissen werden, und Rebecca erledigte diese Arbeiten mit einem Eifer und konzentrierten Groll, die ahnen ließen, was sie in ihrem Alltag vermisste.

Obwohl Wilbur die Idee mit dem zweiten Geschäft noch immer nicht guthieß, stritt er sich mit Alice nicht mehr über das Thema. Je mehr Gründe gegen die Expansion er in traurigen Bars und schlaflosen Nächten auflistete, wirtschaftliche und diffus emotionale, desto bewusster wurde ihm, dass er unrecht hatte und dass Alices teilweiser Rückzug aus dem Reformkostladen nur seinen eigenen aus dem schwierigen Zusammenleben mit ihr spiegelte. Die Zuneigung und Unterstützung, die er von Alice erfuhr, das grenzenlose Vertrauen, das sie in ihn hatte, und die Hoffnungen, die sie für seine Zukunft hegte, das alles erschien ihm wie eine tonnenschwere Last, eine riesige Hypothek, die einzulösen er sich außerstande sah. An guten Tagen nahm er ihre Liebe teilnahmslos und mit schlechtem Gewissen hin, wenn er sich mies fühlte, verloren und als Objekt verschwendeter Zuneigung, verachtete er sie für ihre Sanftheit und Geduld und ihren Glauben an ihn. Jedes Gespräch, das sie vorsichtig begann, jedes Lieblingsessen, das sie ihm bereitete, jede ihrer zaghaften Berührungen bewirkte das Gegenteil des von ihr Beabsichtigten und weckte in ihm den Wunsch, sie anzuschreien und ihr zu zeigen, wie mies und leer er in Wirklichkeit war und wie wenig Sinn es hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. In solchen Momenten wünschte er sich weit weg, um Alice nicht wehzutun, sehnte sich zurück in die Zeit, in der er mit Conor auf dem Hügel vor Orlas Haus saß, stumm und auf einfältige, ahnungslose Weise glücklich.

Bei einer der von den Mechanismen des Zufalls gesteuerten Busfahrten gelangte Wilbur in eine Gegend von Queens, die mit ihrer geduldig ertragenen Traurigkeit und dem schläfrigen Willen, nicht vollends in Verwahrlosung zu versinken, etwas Rührendes hatte. Obwohl ein kalter Sprühregen niederging, lief Wilbur eine Stunde lang durch die Straßen, vorbei an Läden, die Autoteile verkauften, Perücken und Tapeten, die Kostüme verliehen und auf Schildern billigen Zahnersatz und Sofortkredite versprachen und deren Schaufenster überfüllte blinkende Guckkästen waren, Einblicke in vergehende Welten aus fröhlicher Schäbigkeit und trotzigem Zukunftsglauben.

In vielen Vorgärten standen auf gemähten, doppelbettgroßen Rasenstücken bunte Vogelhäuschen, Fahnenmasten und Gipsrehe, das Licht Hunderter Glühbirnen schneite auf ein frühes Rentier, in einer offenen Garage lag, groß wie ein Auto, ein Weihnachtsmann aus Kunststoff. In einem winzigen Laden verkauften drei schwarze Frauen Hosen, die es nur in einer Farbe und einer Größe zu geben schien, ein anderes Geschäft beschränkte sein Angebot auf Schaufeln, Blecheimer und Taschenlampen, als stünde eine Katastrophe oder Goldfieberepidemie bevor. Ein kleiner, bebrillter Mann sah in einem Friseursalon zu, wie zwei Kinder einen Tanz übten, den Wilbur für Walzer hielt. Der Mann unterbrach das Paar, griff sich das übergewichtige Mädchen und zeigte dem Jungen die richtige Schrittfolge, wobei er, um dem schwankenden Busen auszuweichen, den kahlen Kopf nach hinten legte. Der Junge sah aus dem winzigen, hell erleuchteten Ballsaal hinaus in die Nacht und traf den Blick von Wilbur, der stehen geblieben war und jetzt eilig weiterging.

Als er müde wurde und fror, setzte Wilbur sich in eine Bar, wo er und zwei alte Männer in roten Pförtneruniformen die einzigen Gäste waren. Wilbur bestellte einen Hawaiian Sundowner, der in einem hohen, bauchigen Glas, der Rand in Zucker getaucht, serviert wurde. Weil der Trinkhalm fehlte und es ihm egal war, was man hier von ihm hielt, bat er um einen und bekam auch noch einen Rührstab in Form eines Spießes, auf dessen Ende ein Teufel hockte. Die alten Männer, die in ihren Mänteln wie Soldaten eines geschlagenen Heeres aussahen, prosteten ihm zu und wollten wissen, was er da im Glas habe. Wilbur zählte ihnen die Zutaten auf, Rum, Blue Curaçao, Ananas- und Kokosnusssaft, und die Männer schüttelten sich und tranken ihr Bier.

Zwei Stunden und zwei Drinks später verließ Wilbur die Bar und machte sich auf die Suche nach einem Kino oder einer Bushaltestelle. Es regnete nicht mehr, dafür wehten eisige Windstöße zwischen die Häu ser. Zeitungsseiten wurden hochgehoben und stiegen in den Nachthimmel, gespenstische Vögel mit beschriebenen Flügeln. In einer Straße, in der es nur Wohnhäuser und keine Läden und Kneipen gab, sah Wilbur auf einer schwarzen Tür eine rote Hand, die mit Linien und Symbolen bedeckt war. Unter der Hand stand in gelber Schrift HANDLESEN und die Aufforderung BITTE EINTRETEN. Eine Weile blieb Wilbur, die Hände in den Taschen der Daunenjacke und mit den Füßen auf der Stelle tretend, vor dem Haus stehen, dann trat er ein.

Im Flur fand er keinen Lichtschalter und wartete erneut einige Atemzüge lang, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es roch nach Essen und Tabak, und von weit her drangen die Stimmen, die Musik und der Applaus einer Fernsehshow an Wilburs Ohren. Er fand den Schalter und drückte ihn, worauf ein paar Lampen angingen. Licht sickerte durch einen Bodensatz trockener Insektenleiber, der sich in den Schalen gesammelt hatte. An der Wand, an der schief die verbeulten Briefkästen hingen und Fahrräder lehnten, war die Hand aufgemalt und ein Pfeil, dem Wilbur folgte. Bald stand er vor einer Kopie der Haustür, deren Beschriftung ihn diesmal bat, fünf Mal zu klingeln. Die Wand um die Tür war blau gestrichen und mit gelben Sternen übersät, die, als sich das Licht automatisch ausschaltete, im Halbdunkel nachleuchteten. Wilbur, dem der Alkohol einen fragwürdigen Mut verliehen hatte, klingelte tatsächlich, erschrak dann aber, als in der Wohnung die Glocke schrillte. Trotzdem drückte er den Knopf weitere vier Mal und trat einen Schritt zurück, bereit, augenblicklich umzudrehen und wegzurennen.

Nach einer Minute, die ihm länger vorgekommen war und während der er mit lauem Gefühl an die Begegnung mit der Wahrsagerin auf dem Rummelplatz von Kindrum gedacht hatte, öffnete eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm die Tür. Sie war sehr dick und sah eher aus wie vierzig als zwanzig, und sie musterte Wilbur aus geröteten, halboffenen Augen.

«Ja?«

Wilbur sah das Baby an. Es lutschte an einem Hühnerknochen, der größer war als der größte Knochen in seinem kleinen, bis auf eine gigantische Windel nackten Körper. Der speckige, haarlose Zwerg hielt den Knochen mit der einen Hand fest, die andere hatte sich in die fleischige Brust seiner Mutter verkrallt. Er glotzte Wilbur mit einer dreisten Blödigkeit an und wackelte dabei mit den Zehen.

«Wahrsagen«, brachte Wilbur schließlich heraus.

Die Frau drehte sich um.»Carrie!«rief sie in die erleuchtete Leere hinter sich und wandte sich dann wieder Wilbur zu.»Moment.«

Wilbur lächelte. Dass diese Frau offenbar nicht die Wahrsagerin war, erleichterte ihn ein wenig. Der Zwerg zeigte mit dem Knochen auf ihn und gab ein paar Laute von sich, die Wilbur als Verwünschungen deutete.

«Was?«tönte von irgendwoher eine Mädchenstimme.

Die Frau drehte sich erneut um.»Kundschaft für Großmutter!«Eine Tür knallte. Die Frau trat zur Seite und nickte Wilbur herein.»Warten Sie hier«, sagte sie, schloss die Wohnungstür und verschwand in einem der angrenzenden Räume. Der Zwerg sah über ihre Schulter und hielt den Knochen wie einen Zauberstab in Wilburs Richtung, ein winziger fetter Magier, geheime Formeln lallend.

Wilbur dachte ans Gehen, wartete eine Sekunde zu lange und sah, wie eine etwa sechzigjährige Frau aus der gegenüberliegenden Tür trat. Sie war groß und korpulent und trug ein weites dunkelblaues Kleid ohne Ärmel und einen breiten, mit Strass besetzten Gürtel. Ihr graues Haar war mit einem schwarzen Stoffband aus der Stirn geschoben und zu einem Knoten geflochten, die Farbe ihrer Lippen deutete Wilbur als Aubergine, beinahe Schwarz.

«Guten Abend«, sagte sie und breitete die mit Reifen behangenen Arme aus.»Sie wollen einen Blick in die Zukunft werfen?«Die Frage, theatralisch gefärbt, klang einstudiert.

Wilbur nickte. Er hatte den Duft von gegrilltem Huhn in der Nase, von Knoblauch und etwas Süßem, Schokolade oder Karamell, und er hörte Stimmen und das Klappern von Tellern und Besteck. Die Gerüche und Geräusche vervielfachten sich, als eine der Türen aufging und der Kopf der dicken Mutter auftauchte.»Essen ist fertig!«rief die Frau und verschwand wieder.

Die Wahrsagerin sah Wilbur an.»Sie sind hungrig«, sagte sie in bestimmtem Ton, und es klang wie ihre erste hellseherische Feststellung.»Kommen Sie. «Sie machte einen Schritt auf die Tür zu, hinter der sich die Küche oder das Esszimmer zu befinden schien, und winkte Wilbur zu sich.

Wilbur blieb stehen, lächelte und schüttelte den Kopf.»Nein, ich… danke«, sagte er.

«Nur einen Happen. Danach widmen wir uns Ihrem Schicksal.«

Wilbur sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Wer um alles in der Welt aß um diese Zeit zu Abend? Er schüttelte abermals den Kopf und wich einen Schritt zurück, als die Frau auf ihn zukam und ihn am Arm fasste.»Einen kleinen Bissen.«

«Nein, wirklich. «Wilbur wollte sich umdrehen und gehen, weg von diesen seltsamen Menschen und überwältigenden Düften und hinaus in die nach Regen und Benzin und U-Bahn-Schächten riechende Kälte, aber plötzlich strömten aus zwei verschiedenen Türen ein Mädchen und zwei Jungen und trieben ihn in die metallisch klimpernden Arme der Hellseherin, die ihn anstrahlte und in einen Raum schob, den Ursprungs ort allen Geklirrs und Schepperns und aller Gerüche.

Die Wahrsagerin stellte sich hinter Wilbur und fasste ihn an den Schultern.»Seht mal alle her! Der junge Mann hier ist…«Sie beugte den Kopf nach vorn und sah Wilbur an.

«Wilbur«, sagte Wilbur so leise, dass es im Zischen der Fleischstücke auf dem Herd unterging.

«Wilbur«, wiederholte die Wahrsagerin laut und schubste ihren Gast auf einen der vielen Stühle, die um einen riesigen Holztisch standen.»Er isst mit uns.«

Freundliches Gemurmel schlug Wilbur entgegen, ansonsten machte niemand viel Aufhebens um seine Anwesenheit. Sein Wasserglas wurde gefüllt, eine Scheibe Brot lag plötzlich auf seinem Teller, und das Mädchen, das eine Runde um den Tisch machte, übergab ihm eine orangefarbene Papierserviette. Wilbur sah, dass sich neben der Wahrsagerin, der dicken Frau mit dem Baby und den drei Kindern noch zwei Männer in der Küche befanden. Einer von ihnen war mindestens achtzig, der andere vielleicht fünfzig. Der Jüngere schnitt mit einem Messer Scheiben von einem riesigen Brotlaib, der Alte rührte mit einer Holzkelle in einer Schüssel.

«Mein Name ist übrigens Fedora«, sagte die Wahrsagerin, nachdem sie neben Wilbur Platz genommen und ihm eine Portion grüne Bohnen auf den Teller getan hatte.»Und das ist meine Tochter Mabel mit dem kleinen Everett. «Mabel nickte Wilbur kurz zu und versorgte ihn mit einem Berg Kartoffelpüree, während Everett, der inzwischen in einem Kinderstuhl saß, mit seinem Knochen einen wilden Takt auf dem Essnapf schlug.»Das da drüben«, sagte Fedora und deutete mit dem tropfenden Schöpflöffel auf die beiden Männer,»sind Barney und Malcolm. Barney ist mein Bruder, Malcolm mein Schwiegersohn. «Wilbur lächelte den Männern zu, die ihrerseits freundlich grinsten.»Die drei da sind Norman, Dexter und Carrie. «Von den drei Kindern hob nur Carrie kurz den Kopf und die Hand, um Wilbur zu begrüßen, die beiden Jungen waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Teller zu füllen.

«Lassen Sie es sich schmecken«, sagte Malcolm zu Wilbur und tunkte seine Scheibe Weißbrot in die Soße. Die anderen am Tisch wünschten sich gegenseitig guten Appetit und fingen ebenfalls an zu essen, gierig und bedächtig zugleich, mit geübten Handgriffen, stumm und versunken in die Tätigkeit, die offensichtlich ihre liebste war. Everett kaute zahnlos an einem Brotkanten, den er wie eine Mundharmonika hielt.

Wilbur nickte und besah sich seinen Teller, auf dem neben den Bohnen und dem Kartoffelbrei jetzt auch etwas Undefinierbares lag.

«Eintopf mit Huhn«, sagte Fedora, als wolle sie Wilburs Bedenken zerstreuen. Der feiste, auf seinem Kinderstuhl thronende König griff nach dem Knochen, richtete ihn auf Wilbur und gab ein paar gutturale Töne von sich. Erst jetzt hörte Wilbur das Plappern und Fiedeln eines Fernsehers, das durch eine Wand drang. Musik schwoll an und Leute klatschten, worauf der Gnom beide Arme in die Luft streckte, als gelte der Applaus ihm. Keiner der selig Schlingenden beachtete ihn, was ihm nichts auszumachen schien.

Wilbur aß zögernd ein paar Bissen und stellte fest, dass es ihm schmeckte. Er nickte kauend in die Runde, und Barney und Malcolm nickten pausbäckig zurück. Niemand sprach ein Wort in diesem von Schweigen und Schmatzen erfüllten Raum, dessen Wände braungelbes Licht absonderten und machten, dass alles wie in Bernstein eingegossen wirkte. Über die gebeugten Köpfe der Essenden hinweg sah Wilbur massive Schränke, in denen hinter Bleiglasfenstern weiße Teller leuchteten, einen Kühlschrank, groß und silbrig glänzend wie ein Sarkophag, einen Kochherd, dessen schwarzer bauchiger Körper mehr Türchen und Schubladen hatte als ein Adventskalender und über dem Pfannen und Töpfe mit rußigen Böden baumelten. Er sah Regale aus dicken Brettern, krumm unter der Last der Einmachgläser und Konserven, eine Spüle, deren Becken aus hellem Stein überquoll von schiefen Stapeln aus Geschirr und Sträußen versengter Kochlöffel, eine stählerne Maschine, auf der ein Schinken lag, stumpfe Wandkacheln von unbestimmter Farbe, Topflappen, so riesig wie Fanghandschuhe beim Baseball, und überall, wo Platz war, Fotos und Postkarten und Zettel, Zeitungsausschnitte, Gutscheine, Kassenbelege, Kinderzeichnungen und gerahmte Bilder, das Glas überzogen von Fett und Staub und dem Bernsteinlicht, das alles für immer einschloss.

«Sie wollen sich also in die Karten Ihrer Zukunft sehen lassen«, sagte Barney plötzlich, und alle am Tisch sahen Wilbur an. Sogar der pummelige Zwergenkönig ließ die durchweichte Brotrinde sinken und schien auf eine Antwort zu warten.

Wilbur verschluckte sich und trank etwas Wasser, dann nickte er vage, wobei ein halbes Kopfschütteln herauskam. Er bemerkte erst jetzt, dass bis auf seinen alle Teller leer waren und Carrie einen Kuchen zerteilte, während Mabel Kaffee machte.

«Ich hätte Schiss«, sagte der kleinere der Jungen. Er war vielleicht fünf und fischte die Krumen aus dem Kuchenteller, die beim Zerschneiden abfielen. Seine Bemerkung erntete ein paar Lacher. Wilbur lächelte unsicher.

«Keine Sorge«, sagte Fedora und legte Wilbur ihre Hand auf seine,»Ihren Todestag kann ich nicht voraussehen.«

«Ich werde uralt«, sagte der ältere Junge stolz. Wilbur schätzte ihn auf neun oder zehn. Er trug ein Leibchen der New York Giants und war neben Barney der einzige in der Familie ohne Übergewicht.»Das kommt von den Strichen in meiner Hand.«

«Das stimmt, Norman«, sagte Fedora,»deine Lebenslinie ist sehr ausgeprägt und lang.«

Wie zum Beweis zeigte Norman allen seine Handflächen, während sein kleiner Bruder verstohlen die eigenen betrachtete.

«Wie lang ist deine, Wilbur?«fragte Norman.

«Das geht dich nichts an, Norm«, sagte seine Mutter, die mit der Kaffeekanne an den Tisch kam.»Hol die Tassen.«

Norman erhob sich und ging zu einem der beiden Schränke. Er musste auf eine leere Getränkekiste steigen, um an das Regal mit den Tassen heranzukommen.

Wilbur merkte, dass er rot angelaufen war. Er wusste nicht, was ihn mehr verwirrte, Normans Frage oder die Tatsache, dass der Junge ihn beim Vornamen genannt hatte, als sei er kein Gast, der zum ersten und aller Voraussicht nach einzigen Mal am Tisch saß, sondern ein regelmäßiger Besucher, ein alter Freund, ein Familienmitglied. Für Sekunden durchflutete Wilbur das absurde Gefühl, Teil dieser seltsamen Sippe zu sein. Er trank sein Glas leer, das von Fedora gleich wieder gefüllt wurde, und faltete umständlich seine Papierserviette zusammen.

«Ich wette, seine Lebenslinie ist lang«, sagte Carrie. Ihr Gesicht, das trotz der fleischigen Backen und des Doppelkinns hübsch war, machte es schwer, ihr Alter zu erraten, aber Wilbur vermutete, dass sie mindestens zwölf und höchstens fünfzehn war.

Wilbur erinnerte sich an die Kirmeshellseherin, die seine Hand betrachtet und ihn wortlos fortgeschickt hatte, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, mit seiner Lebenslinie könnte etwas nicht in Ordnung sein. Wie ein Verbrecher, der sich stellt und auf das Anlegen der Handschellen wartet, streckte er Fedora beide nach oben gedrehten Handflächen hin.

Fedora sah ihn überrascht an.»Jetzt?«

Wilbur nickte.»Ja«, sagte er. Falls etwas im Geflecht seiner Handlinien stand, das Anlass zur Sorge gab, wollte er es in dieser nach Kaffee und Kuchen duftenden Küche hören, im Beisein dieser Menschen, deren bloße Anwesenheit Trost versprach, und nicht in einem Raum, den er sich mit orientalischem Nippes geschmückt vorstellte und in dem er mit Fedora und seinem aller Wahrscheinlichkeit nach düsteren Schicksal alleine wäre.

«Eine Sitzung kostet dreißig Dollar«, sagte Fedora, während sie Wilburs Hände in den fleckenlosen Kreis der Tischdecke legte, wo eben noch ihr Teller gestanden hatte.

«Ich hab genug dabei«, sagte Wilbur. Er hätte das Geld hervorgenommen, wären seine Handgelenke von Fedora nicht sanft festgehalten worden.

«Ich weiß«, sagte Fedora lächelnd,»in Ihrer Brieftasche befinden sich achtzig Dollar.«

Wilbur hatte am Morgen hundert Dollar eingesteckt und in der Bar zwanzig ausgegeben. Er sah Fedora mit einer Mischung aus Besorgnis und Ehrfurcht an und nickte.

«Wow!«rief Norman, gleichermaßen sein Erstaunen über Wilburs Reichtum und die hellseherischen Fähigkeiten seiner Großmutter zum Ausdruck bringend.

Der Königsklops schwang glucksend sein Zepter. Mabel nahm ihm das Lätzchen ab und stellte ein kleines Stück Kuchen vor ihn hin, das er skeptisch betrachtete. Alle tranken Kaffee, auch die Kinder, die viel Milch und löffelweise Zucker in ihre Tassen schütteten. Mittlerweile zeigten die beiden Uhren in der Küche zwanzig nach zehn beziehungsweise halb elf. Fedora hatte eine Brille aufgesetzt und studierte Wilburs Handfläche wie ein altertümliches Schriftstück, das zu entziffern nur sie in der Lage war. Nach einer Weile nahm sie die Brille ab und sah Wilbur an.

«So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte sie ruhig und mit einem Ton in der Stimme, in dem Bewunderung und Bestürzung schwangen.»Noch nie.«

Barney und Malcolm setzten ihre Tassen ab, Mabel ließ die Hand mit dem Kaffeekrug sinken, und die Kinder hielten in ihren Kaubewegungen inne.

Wilbur stockte der Atem. Er überlegte hektisch, ob Fedoras Aussage etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete, ob sie gerade seinen nahenden Tod gesehen hatte oder ihm gleich verkünden würde, er sei zu ewigem Leben verdammt.

«Hier, schauen Sie«, sagte Fedora und zeigte auf eine Stelle am Ansatz des Handgelenks.»Das ist der Beginn Ihrer Lebenslinie. «Sie folgte mit dem schwarz lackierten Fingernagel der Linie.»Und da endet sie.«

Wilbur sah genauer hin und erkannte den Ansatz einer Kerbe, die nach etwa fünf Millimetern in einem glatten, rillenlosen Nichts endete. Seine Handfläche, das wurde ihm zum ersten Mal bewusst, war leer, eine Ebene ohne Straßen. Er fragte sich, warum ihm das bisher nicht aufgefallen war und ob Orla es je bemerkt hatte, und falls ja, ob sie diese furchenlose Nacktheit seiner allgemeinen Unterentwicklung zugeschrieben hatte.

Norman und Carrie waren aufgestanden und hatten sich hinter ihre Großmutter gestellt, um das Naturereignis in Wilburs Hand zu bestaunen.

«Eine Schicksalslinie kann ich überhaupt nicht erkennen«, sagte Fedora.»Nicht eine Spur davon. «Sie schüttelte den Kopf.»So etwas habe ich noch nie gesehen. Nie.«

Wilbur fühlte sich an den Moment in dem stickigen Wohnwagen in Kindrum erinnert, als die Zigeunerin ihm das Geld zurückgegeben und ihn weggeschickt hatte.

«Aber hier«, sagte Fedora und tippte mit dem Fingernagel in die Mitte von Wilburs Handfläche,»taucht die Lebenslinie wieder auf. «Fedora zog Wilburs Hand nah ans Gesicht.»Und teilt sich in zwei Richtungen.«

«Was bedeutet das, zwei Richtungen?«fragte Dexter. Kuchenkrümel klebten in seinen Mundwinkeln.

Fedora lächelte Wilbur an.»Dass Wilbur zwei verschiedene Wege gehen kann«, sagte sie. Dann bettete sie seine Hand zurück auf den Tisch, wo sie liegen blieb, ein offenes Buch ohne Text, eine Landkarte ohne Straßen.

Als Wilbur weit nach Mitternacht ins Freie trat, regnete es wieder. Fedora hatte ihm einen Schirm gegeben, den er jetzt aufspannte. Sie hatte gesagt, er könne das hässliche Ding mit dem Aufdruck einer Motorenölmarke jederzeit zurückbringen. Wilbur merkte sich die Adresse und machte sich auf die Suche nach einem Taxi. Während der Heimfahrt betrachtete er im flackernden Schein der über die Fensterscheiben gleitenden Lichter seine Handflächen. Die Lücke zwischen dem Stummel und der Fortsetzung seiner Lebenslinie maß etwa fünf Zentimeter, und Wilbur rätselte, ob er diese Leere bereits hinter oder noch vor sich hatte. Er hielt es auch für möglich, dass Fedora sich irrte, dass es keine zwei Wege für ihn geben würde und das abrupte Ende der Linie seinen baldigen Tod bedeutete. Dann verwarf er diesen Gedanken und zog die Seriosität der gesamten Veranstaltung in Zweifel, rief sich die gemütliche, letztendlich aber absurde Szenerie in der fremden Küche in Erinnerung und wunderte sich nachträglich über seine Gutgläubigkeit und Naivität.

«Glauben Sie, dass der Lebensweg, das Schicksal eines Menschen in seiner Handfläche eingraviert ist?«fragte er den Taxifahrer, einen vielleicht sechzigjährigen, fast kahlköpfigen Mann, der laut dem am Armaturenbrett angebrachten Ausweis Fernando Ramirez hieß.

«Was?«fragte der Fahrer und drehte dabei den Kopf nach hinten, was bedeutete, dass nur noch Wilbur, der seine Frage augenblicklich bereute, auf die Straße sah. Der Gedanke, in dieser Sekunde das Niemandsland am Ende seiner Lebenslinie zu erreichen, schoss Wilbur durch den Kopf, aber dann widmete sich der Fahrer wieder dem Verkehr, der auf der Flatbush Avenue dichter geworden war.

Sie hielten an einer roten Ampel, und Wilbur beugte sich nach vorne und zeigte dem Fahrer seine Handfläche.»Die Linien auf unserer Hand, glauben Sie, man kann darin die Zukunft lesen?«

«Oh, die Zukunft!«rief der Mann und hob beide Hände, als wolle er sich ergeben,»die Zukunft, nur Gott kann sie…«, er suchte nach einem Wort,»machen!«Er nahm das Metallkreuz, das, zusammen mit einem Rosenkranz und einem Stoffwimpel der New York Yankees, am Rückspiegel hing, zwischen die Finger und hielt es so, dass Wilbur es sehen konnte.»Alles andere, es tut mir leid, ist Humbug, Hokuspokus!«Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr los.»Meine Meinung«, fügte er halb entschuldigend und halb trotzig hinzu.

Wilbur lehnte sich zurück und schloss die Augen. Vielleicht, so dachte er, befand er sich längst im flachen Abgrund zwischen seinen Lebensstraßen, und es spielte keine Rolle, ob er ein Ziel verfolgte oder das Steuer einfach losließ.

An dem Abend, an dem die Frau anrief, die Lennard Sandbergs Aufenthaltsort zu kennen vorgab, war Wilbur nicht zu Hause. Er saß in einer Spielhalle und fütterte Automaten mit Geld, um Raumschiffe in Feuerbälle und feindliche Planeten in unbewohnte Trabanten zu verwandeln. Zuvor hatte er in einer Bar, wo auf einer Großleinwand eine MTV–Verkupplungsshow lief, gerade so viel Wodka getrunken, dass er nicht daran denken musste, wie wenig sein verkorkstes Leben mit denen im Fernsehen zu tun hatte, und er später trotzdem einen Joystick würde bedienen können.

Als Alice ihm am nächsten Morgen von dem Anruf erzählte, weigerte Wilbur sich, ihr zuzuhören. Weder ihr Versuch, ihn von der Glaubwürdigkeit der Frau zu überzeugen, noch ihre Absicht, am Abend alleine zu dem vereinbarten Treffpunkt in der Bronx zu fahren, falls er nicht mitkäme, konnten etwas an Wilburs Haltung ändern. Er sagte ihr nicht, wie leid er es war, sich die Vermutungen, Behauptungen und Lügen dieser Leute anzuhören, und auch nicht, wie weh es getan hatte, jedes Mal enttäuscht zu werden. Er erzählte ihr nichts von der lähmenden Verzweiflung, die ihn jeweils befallen hatte, nachdem sie mit diesen guten Menschen, Aufschneidern und Wracks gesprochen hatten, nur um erneut vor dem Nichts zu stehen.

Im Badezimmer wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und kämpfte gegen die brennende Versuchung, Alice anzubrüllen, ihr ihre naive, gefühlsduselige Zuversicht, was ihn betraf, vorzuwerfen und sich ein für alle Mal aus dem Seidenkokon ihrer Anteilnahme und Güte zu befreien. Stattdessen ließ er sie mit dem Frühstück, das sie jeden Morgen in der Hoffnung auftischte, er würde sich zu ihr setzen, alleine und fuhr mit der U-Bahn zum Laden, den Ernest schon vor einer Stunde aufgesperrt hatte. Während der Fahrt kritzelte er Billige Wohnung gesucht, bitte an der Kasse melden auf einen Zettel und zerknüllte ihn, als er ausstieg. Denselben Wortlaut schrieb er einige Stunden später auf die Rückseite eines Bestellformulars, das er an die Korktafel pinnte.

Nach der Arbeit aß er in einem indischen Schnellimbiss und setzte sich danach in ein Kino, in dessen Sälen zwei Wochen lang Filme von Regisseuren wie Don Siegel, Ridley Scott, Arthur Penn, Sam Peckinpah und Robert Aldrich gezeigt wurden. Vier Stunden lang ließ er sich einlullen von den vertraut fremden Farben, den grobkörnigen, zerkratzten Bildern, die ihn mit spiegelnden Karosserien, weiten blauen Himmeln, Rauchsäulen, Explosionen und Mündungsfeuern und dem schwermütigen Lächeln tötender und sterbender Männer blendeten und mit Lärm und infernalischer Stille übergossen, dann stand er wieder auf der Straße und wusste nicht, wohin mit seiner Sehnsucht nach etwas, das ihn am Leben hielt. Dreißig Blocks ging er zu Fuß, stand ewig vor dem Haus, frierend und müde, drehte sich um und ging nochmals zwanzig Blocks in eine andere Richtung, bis er eine Bar fand, die schäbig genug war, um seinen Ansprüchen zu genügen.

Die Kellnerin, die ihm den Tropical Thunder mit Trinkhalm, Quirler und Fruchtspieß brachte, setzte sich eine Weile zu ihm, sagte, er sei ein hübscher Junge, und erzählte eine Geschichte von Liebe und Betrug, die schrecklich endete. Wilbur vergaß, wie viel er vertragen konnte, trank, was die Frau ihm hinstellte, und hörte ihr zu und der Musik, die, einer knisternden Galaxie gleich, über seinem Kopf schwamm. Am Tresen stritten sich lustlos zwei Männer, in einer Ecke lag schlafend ein schwarzer Hund.

Wilbur versank und kam erst wieder an die schaukelnde Oberfläche, als er am Arm der Kellnerin vor der Bar in der eisigen Kälte stand und vom eigenen Körper wachgerüttelt wurde. Ein Auto, ein gelbes schwankendes Boot, glitt heran und nahm die beiden auf. Wilbur kippte zur Seite, legte den Kopf in den Schoß der Kellnerin und schlief erneut ein.

Als er aufwachte, aus einer bodenlosen Bewusstlosigkeit zu sich kam, lag er angezogen auf einem Sofa, zugedeckt mit einer Wolldecke, deren Fransen sich in seinem Atem bewegten wie die Wimpern eines Tieres. Sein Mund war trocken, vor seinen Augen zuckten winzige Blitze. Er hatte Durst, der Gedanke an ein Glas Wasser löste Wellen von Verlangen in ihm aus. Als er den Kopf bewegte, rutschte ein Schmerz gegen den Schädel und vibrierte minutenlang. Wilbur blinzelte. Von der Decke hing eine Lampe, eine dunkle Blume an einem langen, dünnen Stiel, über deren Kelch er schwebte.

Er dämmerte weg und schreckte im nächsten Augenblick hoch, stöhnte leise auf unter der Qual, die er sich selbst bereitete, bewegte die Füße und setzte sich auf. Seine Schuhe standen am Boden, er fiel beinahe über sie und schlüpfte hinein, unfähig, mit den Schnürsenkeln etwas Vernünftiges anzufangen. Durch ein Fenster fiel farbloses Licht in den Raum, den das Sofa, ein Tisch, ein Sessel und eine Kommode fast bis auf den letzten Fleck füllten. Wilbur tappte auf ein helles Rechteck zu, das er für die Küche hielt, landete im Badezimmer und trank kaltes, nach Metall schmeckendes Wasser, mit dem er sich anschließend das Gesicht wusch.

Eine Weile stand er mit den Händen auf den Waschbeckenrand gestützt da und vermied es, in den Spiegel zu sehen. Dann bewegte er sich tastend zurück ins Wohnzimmer, lauschte auf Geräusche und schob dann vorsichtig eine angelehnte Tür auf, hinter der, mit ausgebreiteten Armen das weiße Rechteck des Betts umschlingend, die Kellnerin lag, leise ächzend in einem erschöpften Schlaf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das mit dem Laken verschmolz, und ihr kurzes schwarzes Haar schimmerte im schwachen Licht des Weckers. Wilbur setzte sich auf den Boden und betrachtete die Frau. Vermutlich hatte sie ihm ihren Namen genannt, aber er konnte sich nicht daran erinnern.

Als sie sich im Traum seufzend von ihm wegdrehte, stand er auf und verließ das Zimmer. Er nahm eine Zwanzigdollarnote aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Er wollte eine Nachricht schreiben, dass das Geld für die Taxifahrt sei, fand aber weder Zettel noch Stift. Draußen fuhr polternd ein Zug über eine Hochbrücke, weit weg tönte die Sirene eines Feuerwehrwagens. Wilbur widerstand dem Drang, sich zurück auf das Sofa zu legen, nahm seine Daunenjacke und ging aus der Wohnung. Im Halbdunkel des Flurs suchte er nach dem Namen auf dem Klingelschild, aber da war nichts. Zurück in der Kälte lief er ein paar Blocks, bis irgendwann ein Taxi hielt und ihn mitnahm.

Zu Hause trank er im Schein des offenen Kühlschranks Mineralwasser aus der Flasche. In seinem Kopf schwelte etwas, das in ein paar Stunden ein heftiger Kater sein würde. Draußen schreckte die Stadt aus dem Halbschlaf. Das Summen Hunderttausender Kaffeemaschinen wurde nur übertönt vom Lärm der ersten Autos und Lastwagen. Eine Alarmanlage trällerte wie ein lauter exotischer Vogel, die Rollgitter von Läden wurden hochgezogen, Zeitungsbündel klatschten auf den Asphalt. Wilbur fror, schloss den Kühlschrank und setzte sich an den Tisch. Neben der Obstschale lag ein Zettel, auf dem ein Name stand, Nathalie Kerkowski, und eine Telefonnummer.

«Das ist die Frau, die weiß, wo dein Vater ist.«

Wilbur war zu müde, um zu erschrecken. Er drehte den Kopf, und die Umrisse der Möbel verschwammen, ein dumpfer Schmerz drückte von innen gegen seine Augen. Alice stand in der Tür ihres Zimmers. Sie war angezogen, nicht einmal die Schuhe fehlten. Licht fiel in ihren Rücken und lag auf ihren Schultern wie eine dünne Lage Schnee. Wilbur war noch immer kalt. Er erhob sich, um Teewasser aufzusetzen.

«Ich bin gestern Abend nicht zu dem vereinbarten Treffen gefahren. Eine Stunde später hat sie angerufen. «Alice kam zum Tisch und hob den Zettel auf.

Wilbur starrte auf das rote Licht des Wasserkochers. Ihm war übel. Das Scheppern eines Müllwagens hallte zwischen den Häusern.

«Sie weiß, dass er getrunken hat.«

Das Wasser fauchte, bevor es den Siedepunkt erreichte. Wilbur sah Alice an. Dann wandte er sich ab und nahm eine Tasse und die Büchse mit Schwarztee aus dem Schrank.»Hat? Ist er tot?«Das Gefühl von Scham über diese Frage wich rasch dem Erstaunen darüber, wie sehr er sich noch immer nach einer Antwort sehnte, nach endgültiger Klarheit.

Alice setzte sich an den Tisch. Sie sah müde aus, aber nicht verschlafen. Wilbur kam der Gedanke, dass sie gar nicht im Bett gewesen war. Vielleicht hatte sie die ganze Nacht auf ihn gewartet.»Nein. Er lebt in der Bronx, mit einer Frau.«

Wilburs Brust und Kehle krampften sich zusammen, dass er kaum noch atmen konnte. Er spürte, wie sein Herz raste. Eine Weile stand er an die Spüle gelehnt da, die Augen geschlossen, und versuchte, Luft in die Lungen zu bekommen.

«Lass uns hinfahren, Will. «Als Alice neben Wilbur trat, sah sie die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen. Sie nahm ihn in die Arme, streichelte seinen Kopf und schaukelte ihn sanft hin und her, und er ließ es zu.

Sie trafen Nathalie Kerkowski nahe der U-Bahn-Station Cypress Avenue in einem Diner, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Nathalie wartete vor der Tür, wo sie in der Kälte eine Zigarette rauchte. Sie war schmal wie Alice, aber kleiner und ein paar Jahre jünger, und sie trug eine dünne blaue Regenjacke, in der sie fror. Ihr schulterlanges schwarzes Haar wurde von ein paar Klammern aus dem bleichen, nachlässig geschminkten Gesicht gehalten. Sie wirkte müde und nervös, und als Alice ihr Wilbur vorstellte, nickte sie ihm linkisch zu und sah ihm dabei kaum in die Augen.

Drinnen setzten die drei sich an einen der hinteren Tische und bestellten Kaffee. Die lange Fahrt in der U-Bahn hatte Wilbur wachgerüttelt, aber jetzt, in der Wärme des Lokals, traf ihn die Müdigkeit wie eine Welle.

«Wir möchten Ihnen noch einmal danken, dass Sie sich bei uns gemeldet haben«, sagte Alice. Sie trug das erste Modell aus ihrer eigenen Kollektion, einen graublauen Strickmantel aus biologischer Wolle, die farblich passende Mütze lag neben ihr auf der Bank. Die Eröffnung des Ladens, den sie zusammen mit Rebecca Shelby einrichtete und für den neben Ruth Cole noch vier weitere Frauen strickten, stand unmittelbar bevor und sorgte dafür, dass Alice seit Wochen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit ging, literweise Kaffee trank und kaum schlief. Trotzdem wirkte sie an diesem Morgen hellwach und voller Energie, und nur Wilbur nahm den leicht überdrehten Ton ihrer Stimme und das Flackern in ihrem Blick wahr, der zwischen ihm und Nathalie Kerkowski hin und her sprang.

Nathalie nickte.»Sie müssen mir nicht danken«, sagte sie, hob kurz den Kopf und sah dann wieder auf ihre Hände, die ein Papiertaschentuch zerknüllten.

Die Kellnerin brachte den Kaffee und ein Kännchen Milch. Nathalie tat vier Löffel Zucker in ihre Tasse und rührte um.»Meine Mutter hat ihn vor etwa zwei Jahren kennengelernt«, sagte sie plötzlich und so leise, dass es in den Nebengeräuschen beinahe unterging. Sie räusperte sich und schloss die Faust um das weiße Taschentuch.

«Woher wissen Sie, dass es Lennard Sandberg ist?«fragte Wilbur, nachdem er eine Weile gewartet hatte, ob die Frau noch mehr sagen würde.

Nathalie zog den Reißverschluss der Windjacke herunter, holte einen Umschlag aus der Innentasche und schob ihn Wilbur zu. Wilbur hob ihn auf und entnahm ihm einen amerikanischen Pass. Er schlug das Dokument auf und sah das Foto seines Vaters, das Porträt eines jungen Mannes, dessen Lächeln Übermut ausdrückte und in dessen Augen man Glück erkennen konnte. Zum ersten Mal sah Wilbur seinen Vater nicht verlegen grinsend oder abwesend in die Kamera blicken, und er betrachtete das Bild so lange, bis er sich jede Einzelheit eingeprägt hatte, das lange, glattrasierte und ein wenig überbelichtete Gesicht mit der Grube im Kinn, die gescheitelten, von Pomade gebändigten Haare, das linke Ohr, das ein wenig nach außen geknickt schien, das Muttermal auf der rechten Wange, dessen Erwähnung auf den Suchplakaten er versäumt hatte. Dann blätterte er durch die Seiten und fand einen Stempel der amerikanischen und einen der schwedischen Einwanderungsbehörde. Das Ausstellungsdatum des Passes war der Oktober des Jahres, in dem Lennard Sandberg und Maureen McDermott geheiratet hatten. Das erklärte das Glück in den Augen von Wilburs Vater.

«Wo ist er?«Wilbur legte den Pass auf den Tisch. Alice nahm ihn und sah sich das Foto an.

«In der Wohnung meiner Mutter«, sagte Nathalie.»Nicht weit von hier. «Sie machte eine vage Bewegung zur Straße hin.

«Weiß er, dass wir nach ihm gesucht haben?«fragte Alice.

Nathalie schüttelte den Kopf. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen fest und blies hinein, bevor sie trank.

«Warum haben Sie sich nicht schon früher gemeldet?«

«Ich habe den Handzettel erst vor ein paar Tagen gelesen. «Sie stellte die Tasse ab und schob den Pass, den Alice ihr hingelegt hatte, zurück in die Tischmitte.»Nehmen Sie ihn.«

Alice sah Wilbur an, der den Pass schließlich einsteckte.

«Können wir zu ihm? Jetzt?«fragte Wilbur. Er schob seinen Stuhl zurück und zog den Reißverschluss der Daunenjacke hoch.

Nathalie nickte und erhob sich. Alice legte Geld auf den Tisch, dann verließen sie das Lokal.

Verna Kerkowski wohnte im elften Stock eines Mietshauses aus den vierziger Jahren. Die Fassade des Gebäudes hatte ihren ehemals prunkvollen Charakter nur deshalb eingebüßt, weil sie überzogen war vom rußigen Schmutz der Jahrzehnte, einer grauen, ätzenden Schicht, die sich in den Sandstein der Fenstersimse, Zierleisten und stilisierten Blumen über der Eingangstür fraß und helle, bröckelnde Flecken entblößte. Wie ein starrköpfiges Symbol gegen den äußeren Verfall des Gebäudes ragte in seiner Mitte, aus einer dunklen Blüte im achten Stockwerk, eine weiße Fahnenstange, an der eine neue amerikanische Flagge hing, unbewegt in der eisigen Windstille und feucht vom nächtlichen Regen.

«Meine Mutter ist hier vor etwa fünf Jahren eingezogen«, sagte Nathalie, als sie die kleine Lobby betraten, in der hinter einem gewaltigen Pult ein schwarzer Portier saß, dessen blaue, mit goldenen Knöpfen und Troddeln geschmückte Uniform die eines Generals einer imaginären Armee hätte sein können und die Aufgabe der Flagge im Innern weiterführte, nämlich die fast unmerklich fortschreitende Verwahrlosung des Gebäudes mit bezahlbarem Pomp zu kaschieren.»Ein paar Jahre nachdem mein Vater gestorben ist. «Sie winkte dem Portier zu, der zwei Finger an den Mützenschild legte, und ging zum Fahrstuhl.

Wilbur betrachtete den durchgetretenen Teppich, die abgeblätterte Farbe, den beschädigten Stuck und die kranken Pflanzen in ihren riesigen, mit römischen Ornamenten verzierten Töpfen, warf verstohlene Blicke auf die magere, bleiche Frau, die die nächste Zigarette kaum erwarten konnte, und fragte sich, ob sie erneut einer Geisteskranken aufgesessen waren, einer gelangweilten Spinnerin, die den Pass seines Vaters in der Gosse gefunden hatte und ihnen in der Wohnung ihrer senilen Mutter einen polnischen Onkel als Lennard Sandberg unterjubeln würde.

«Das war vor neun Jahren. Ein fehlerhaftes Medikament. Meine Mutter hat von der Herstellerfirma viel Geld bekommen und sich diese Wohnung gekauft.«

Der Fahrstuhl kam, und sie stiegen ein.»Sie kümmert sich sehr gut um Ihren Vater«, sagte Nathalie, während sie nach oben fuhren. Dabei sah sie Wilbur zum ersten Mal richtig an.»Es ist nur… manchmal…«Sie wandte den Blick ab und machte eine hilflose Geste mit der Hand. Plötzlich sprach sie sehr schnell, als wolle sie so viel wie möglich loswerden, bevor sie in der elften Etage ankamen.»Manchmal kann sie sich kaum um sich selber kümmern. Und ich, ich kann nicht jeden Tag herkommen und nach ihr sehen. «Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Nase.»Ich habe ein eigenes Leben, eigene Probleme. «Sie sah Alice an.»Verstehen Sie?«fragte sie beinahe flehend, und Alice nickte.

Wilbur hörte kaum etwas von dem, was die Frau sagte. Er stand da, das Geräusch des Fahrstuhls in den Ohren und das Gefühl schwarzer Leere unter den Füßen, und versuchte sich vorzustellen, wie es sein werde, zum ersten Mal seinem Vater gegenüberzustehen. Er sah sein Gesicht im Spiegel, der an der Stirnseite der Kabine angebracht war, und erschrak über die fahle Maske aus Panik, die ihm entgegenstarrte. Als der Fahrstuhl anhielt, sackte sein wild hämmerndes Herz vom Hals in den Magen, wo es aufhörte zu schlagen. Seine Knie wurden weich, der Flur, durch den sie Nathalie folgten, war tausend Meter lang, Türen mit goldenen Zahlen flogen an ihm vorbei, obwohl er auf dem schwankenden Teppich nicht vorwärtszukommen schien. Fast hoffte er, das Ganze würde sich gleich als erneutes Missverständnis herausstellen, als weiterer schlechter Scherz, der verzweifelte Hilferuf einer vereinsamten Frau.

«Sie müssen entschuldigen, wenn es etwas unordentlich ist«, sagte Nathalie, als sie vor dem Apartment mit der Nummer 42 standen. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür und betrat den kleinen, fast dunklen Eingangsbereich.»Bitte, kommen Sie rein«, sagte sie, nachdem sie Licht gemacht hatte.

Wilbur blieb auf der Schwelle stehen, die Beine schwer und taub. Koffein strömte durch seine Venen und pumpte warme Blitze in seinen Kopf, der Finsternis wollte. Alice war hinter ihm und berührte für einen Moment seine Schulter, dann gingen beide hinein. Nathalie legte den Schlüssel auf eine Kommode, über der ein gerahmtes Ölbild hing. Das Gemälde zeigte eine seltsam leere, in düsteres Licht getauchte Landschaft, durch die ein einsames schwarzes Pferd galoppierte.

«Mutter?«rief Nathalie. Sie zog die Regenjacke aus und hängte sie an eine bis auf einen Mantel und einen Schirm leere Garderobe.»Legen Sie doch ab«, sagte sie zu Wilbur und Alice.»Ich hole meine Mutter. «Damit verschwand sie in einem der Zimmer, in dem es dunkel und still war.

«Alles in Ordnung?«fragte Alice. Sie nahm die Strickmütze ab und kämmte sich mit den Fingern einer Hand das Haar.

Wilbur nickte. Ihm war zu warm, noch immer krümmten sich die Wände vor seinen Augen, und jeder Atemzug in dieser stickigen, nach Zigaretten und Essen riechenden Luft strengte ihn an. Nathalies Stimme drang aus dem Zimmer, dann eine zweite, tiefe und müde. Ein Gegenstand fiel zu Boden, die schlaftrunkene Stimme wurde lauter, erwachte zu empört nuschelndem Leben. Je leiser und eindringlicher Nathalie sprach, umso dröhnender wurde ihre Mutter. Plötzlich ging die Tür auf und eine Frau stürmte aus dem Zimmer, in das durch zwei große Fenster trübes Winterlicht fiel.

Verna Kerkowski war vierundfünfzig Jahre alt und so groß wie ihre Tochter, aber sie hatte einen fülligeren Körper und dauergewelltes blondes Haar. Sie trug enge schwarze Hosen und über einem hellblauen Pulli eine Jacke aus türkisfarbenem Stoff, alles zerknittert, als habe sie darin geschlafen.

«Was wollen Sie hier?«rief sie.»Das ist meine Wohnung!«

Nathalie kam aus dem Zimmer und fasste ihre Mutter am Arm.»Mutter, bitte, ich hab dir doch gesagt, wer das ist. «Sie versuchte erfolglos, Verna zurück in das Zimmer zu schieben.

«Ich will, dass Sie gehen!«Verna hob eine ringlose Hand und wies zur Tür. Sie war barfuß, ihre Zehennägel waren rot lackiert.

«Der Junge ist Wilbur Sandberg«, sagte Nathalie laut und griff nach der Hand ihrer Mutter,»Lennys Sohn.«

Wilbur wusste nicht, wie er sich dieser Frau gegenüber verhalten sollte. Soviel er mitbekommen hatte, war sie die Freundin seines Vaters und schien sich in den letzten zwei Jahren um ihn gekümmert zu haben, was immer das heißen mochte. Jedenfalls hielt er es für ratsam, ihr nicht zu nahe zu kommen, auch wenn ihre Tochter sie mit sanfter Gewalt festhielt.

«Lennard hat keinen Sohn«, sagte Verna bestimmt.»Und jetzt verlassen Sie meine Wohnung!«

«Wo ist er?«fragte Wilbur.

Nathalie deutete mit dem Kopf in den hinteren Teil der Wohnung.

«Er will niemanden sehen!«rief Verna und packte Wilbur am Arm.»Er schläft! Gehen Sie endlich!«

Wilbur machte sich los und ging mit Alice am Wohnzimmer und einem Badezimmer vorbei zu einer verschlossenen Tür.

«Geh hinein«, sagte Alice leise,»ich warte hier.«

Wilbur drehte den Türknauf, betrat das Halbdunkel des Raumes und schloss die Tür hinter sich. Verna fing erneut an zu keifen, dann klang es, als würde sie in ein anderes Zimmer gebracht. Als sich seine Augen an das diffuse Licht, das kaum durch die dicken Vorhänge drang, gewöhnt hatten, sah Wilbur eine Tür, an der ein Bademantel hing, einen Sessel, einen offenen Schrank, aus dem das Weiß eines Hemdes leuchtete, eine Kommode mit offenen Schubladen und ein Bett, in dem ein Mann lag. Wilbur atmete flach, roch kalten Zigarettenrauch und, ganz schwach, Schweiß und Urin. Auf einem Tisch neben dem Bett stand schmutziges Geschirr, am Boden lagen Kleidungsstücke, Handtücher, Pantoffeln, leere Papiertüten einer Bäckerei, mit seltsamen Zeichnungen vollgekritzelte Zettel, ein Bildband über Alaska, Zeitungen und billige Werbeprospekte.

Eine Weile stand Wilbur nur da und versuchte sich zu beruhigen und normal zu atmen. Von weit weg hörte er Frauenstimmen, aus den Straßen stieg Verkehrslärm zwischen den Häusern hoch. Schließlich trat er ein paar Schritte näher an das Bett heran und betrachtete den Schlafenden. Obwohl der magere Schädel, über dem sich fleckige, fein geriffelte Haut spannte und auf dem Strähnen gelben Haars lagen, keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Passbild mehr hatte, erkannte Wilbur seinen Vater sofort.

Es war nicht die lange Kopfform, die ihn Lennard Sandberg erkennen ließ, auch nicht der Schwung der Nase oder der Lippen, nicht einmal das Muttermal. Es war überhaupt kein Wiedererkennen, keine Erinnerung an eine Fotografie, kein Abgleichen der Wirklichkeit mit den Bildern von früher. Es war ein Gefühl, das nichts mit Wissen zu tun hatte und doch jeden Zweifel ausschloss, und es war so überwältigend, so betäubend, dass Wilbur zu Boden sank und den Kopf auf das Fußende des Bettes legte, schluchzend und unsagbar erschöpft.

Irgendwann, neunzehn Jahre, neunzehn Sommer, Geburtstage, Weihnachten, hundertmal Drachensteigenlassen, Schlittschuhlaufen, Angeln, tausend Gutenachtgeschichten, sechstausendneunhundertdreiundzwanzig Tage, ein ganzes Kinderleben später griff Wilbur nach der Hand des Mannes, der ihn um all das betrogen hatte, und flüsterte:»Vater.«

Lennard Sandberg öffnete die Augen ein wenig und schloss sie wieder. Wilbur drückte seine Hand. Sein Vater schlug die Augen erneut auf, blinzelte ins Halbdunkel und bewegte den Kopf zur Seite. Er sah seinen Sohn an, und in seinem Blick lag kein Erschrecken, kein Erstaunen und kein Erkennen. Er öffnete den Mund, und ein leises Ächzen entwich seiner Kehle. Wilbur suchte nach etwas zu trinken, fand aber nichts und ging ins angrenzende Badezimmer, wo er das Zahnputzglas mit Wasser füllte. Er kniete sich neben das Bett und hielt seinem Vater das Glas an die Lippen.

«Du kennst mich nicht«, sagte Wilbur und wusste nicht, wie weiter. Sein Vater trank in kleinen Schlucken das ganze Wasser. Wilbur stellte das Glas auf den Tisch.»Ich heiße Wilbur. «Warten. Draußen begann es zu regnen. Ein kaum hörbares Geräusch erfüllte den Raum, es klang wie das Hintergrundrauschen einer alten Schallplattenaufnahme. Das wenige Licht hinter den Fenstern verschwand. Wilbur knipste die Lampe auf dem Nachttisch an, damit sein Vater ihn sehen konnte.»Sandberg. «Er nahm wieder Lennards Hand und drückte sie leicht. Lennard sah ihn ausdruckslos an. Er bewegte die Lippen, formte sinnlose Vokale, die Augen groß und auf Wilbur gerichtet. Wilbur beugte sich vor. Sein Vater rang nach dem ersten Ton eines Wortes, den Mund verzerrt, die Pupillen fast unter den flatternden Lidern verschwindend.

«Ich komme gleich zurück«, sagte Wilbur, legte die feingliedrige, leblose Hand auf die Decke, erhob sich und verließ das Zimmer.

Alice lehnte an der Wand neben der Tür zum Wohnzimmer und flüsterte in ihr Handy. Als sie Wilbur sah, beendete sie das Gespräch mit einem hastigen Satz.»Und? Ist er es?«fragte sie.

Wilbur blieb stehen, plötzlich unangenehm wach. Er nickte. Es kam ihm vor, als sei er einer Zeitkapsel entstiegen, einer engen, finsteren Kammer, die ihn aus der Vergangenheit zurückgeschleudert hatte in die Gegenwart dieses Flurs mit seiner Lorbeertapete und den kolorierten Stichen und dem goldgefassten Läufer, auf dem Bonbons und Handschuhe und Blüten zerknüllten Papiers lagen wie die Überbleibsel einer merkwürdigen Parade.

Alice strahlte, widerstand aber dem Verlangen, Wilbur in die Arme zu nehmen.»Geht es ihm gut?«

Wilbur dachte nach, zuckte mit den Schultern. Die Stiche zeigten Jagdszenen, Hunde, die sich in die Flanken von Hirschen verbissen, von Lanzen durchbohrte Bären. Eine Standuhr tickte, ein Turm aus dunklem Holz, in dem hinter einem Glasauge ein silbernes Pendel schwang.

«Hat er dich erkannt?«

Wilbur schüttelte langsam den Kopf.»Wo ist… wie heißt sie noch mal?«

«Nathalie«, sagte Alice. Der freudige Ton war aus ihrer Stimme verschwunden. Sie steckte das Handy in ihre Umhängetasche aus militärgrünem Flachs, einen weiteren Artikel des Ladens.»Sie sind beide in der Küche.«

Wilbur stand unschlüssig da, bewegte sich nicht vom Fleck. Er tastete nach dem Pass in der Jackentasche und war erstaunt, dass er tatsächlich dort war.

«Komm. «Alice berührte Wilbur kurz am Arm, dann drehte sie sich um, und er folgte ihr.

In der Küche herrschte die Unordnung, für die sich Nathalie vorsorglich entschuldigt hatte. Die Arbeitsflächen waren überfüllt mit Geschirr, Konservendosen und Verpackungen, mit Lebensmitteln in allen Stadien des Verfalls und des Welkens, mit Zeitungen, Kochbüchern, Lockenwicklern, mit Sonnenbrillen und aufgerissenen Briefumschlägen und vollen Aschenbechern. An der Wand hingen gerahmte Lithographien, die bäuerliche Motive zeigten, ein Kalender des Museum of Modern Art, bemalte Porzellanteller und eine bis auf das Flugblatt eines Chinarestaurants leere Magnettafel.

Nathalie räumte den Tisch ab, zerknüllte kaffeegetränkte Zeitungen und stopfte sie in einen der Müllsäcke, die in der Ecke standen. Sie trug gelbe Gummihandschuhe und rauchte. Aus einem Radio drang kaum hörbar die Stimme eines Mannes, der Schnee voraussagte. Als Alice und Wilbur die Küche betraten, wischte Nathalie sich eine feuchte Strähne aus der Stirn und sah Wilbur an.

«Was ist mit ihm?«fragte Wilbur.

Nathalie setzte sich hin. Werbung plärrte aus dem Radio, und sie machte es aus. Eine Weile starrte sie auf die Dinge, die den Tisch bedeckten, als kapituliere sie vor der Aufgabe, sie wegzuräumen.»Er hatte einen Schlaganfall«, sagte sie schließlich. Sie streifte die Handschuhe ab und drückte die Zigarette, von der nur noch die Glut über dem Filter übrig war, in einem Unterteller aus.»Vor etwa einem Monat. «Sie räusperte sich, spielte mit der Zigarettenpackung.

Wilbur stand regungslos da, während das Wort in ihm nachhallte. Er hatte es schon gehört, es tauchte im Zusammenhang mit alten Menschen auf, es leuchtete in seinem Kopf und strahlte andere Wörter an, Hirnblutung und Lähmung und Sprachverlust, es brannte so hell, dass sein Kopf wehtat. Alice nahm seine Hand. Als plötzlich der Kühlschrank summte, zuckte sie zusammen und ließ Wilburs Hand los. Vor dem Fenster flog eine Taube vorbei. Es regnete noch immer.

«Vielleicht hat es mit dem Trinken zu tun, vielleicht ist er irgendwann gestürzt. Ich weiß es nicht. Eines Tages lag er so im Bett. «Nathalie kratzte mit dem Fingernagel etwas vom Tischblatt, abwesend und gründlich.

«War er bei einem Arzt? Oder war ein Arzt hier?«fragte Alice. Nathalie schaute hoch, als habe sie die Frage nicht verstanden, aber dann schüttelte sie den Kopf.»Meine Mutter hasst Ärzte.«

«Er wurde nie untersucht?«Alice nahm einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl und setzte sich hin. Sie sah Nathalie an, die den Blick senkte und sich auf einen weiteren eingetrockneten Fleck konzentrierte.»Woher wollen Sie dann wissen, dass es ein Schlaganfall war?«

«Schlaganfall oder Sturz, was spielt das für eine Rolle?«sagte Wilbur müde und emotionsloser, als er beabsichtigt hatte.»Er hat sich in diesen Zustand gesoffen. «Alice sah ihn an, aber er wandte den Blick ab.

Eine Weile war es bis auf das Summen des Kühlschranks und das schabende Geräusch von Nathalies Fingernagel still in der Küche.

«Er muss in ärztliche Behandlung«, sagte Alice irgendwann.

«Meine Mutter kann sich jedenfalls nicht mehr um ihn kümmern. «Nathalie nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie mit einem Wegwerffeuerzeug an.

«Wo ist sie?«

«Sie schläft. «Nathalie senkte die Stimme, ein Reflex.»Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben. «Sie lächelte Alice an, dann wurde ihr Blick leer.»Ich schütte es ihr in den Orangensaft. Ich betäube meine Mutter regelmäßig. Damit ich hier aufräumen kann, ohne…«Sie nahm einen Zug und blies den Rauch zur Seite.»Sie glaubt, er wird wieder gesund. Aber das wird er nicht. «Mit der gleichen entrückten Hingabe, mit der sie die Flecken von der Tischfläche gekratzt hatte, zerdrückte sie jetzt mit der Zigarettenspitze die erkalteten Ascheröllchen auf dem Unterteller.»Sie schafft das nicht mehr«, sagte sie, und leiser:»Sie ist selber krank.«

«Sie ist Alkoholikerin«, sagte Alice sachlich. Nathalie sah sie an, und es war schwer zu sagen, ob sie diese Direktheit schockierte oder erleichterte.»Ich hab einen Blick dafür. Ich war selber eine. «Jetzt war es Alice, die lächelte, ein kurzes, bekümmertes Lächeln.

Wilbur drehte sich um und ging aus der Küche. Eine Weile stand er im Flur und sah zu der Tür, hinter der sein Vater lag. Was von seinem Vater übrig war. Dann verließ er die Wohnung, rannte das Treppenhaus hinunter und hinaus auf die Straße, in den Regen und die Kälte.

Den restlichen Morgen und den ganzen Nachmittag lief Wilbur durch die Straßen der Bronx. Am Abend setzte er sich in eine U-Bahn nach Brooklyn und dann in eine Bar. Er trank obszön farbige Cocktails, die Waikiki Dream und Crazy Coco hießen und in denen Trinkhalme mit dreifachen Loopings und Sonnenschirmchen steckten, und fragte sich, wie viel Wodka und Rum mit Fruchtsaft er wohl in sich hineinschütten müsste, um seinem Vater im Dämmerland der Sprachlosigkeit und des befreienden Vergessens Gesellschaft leisten zu können. Irgendwann nach Mitternacht sank Wilbur vom Barhocker und richtete sich auf dem Fußboden ein. Der Geschäftsführer bat ihn zu gehen, wofür Wilbur ihm dermaßen überschwenglich dankte, dass er vom Barkeeper und einem Kellner, die Überdruss und Mitleid verkörperten, vor die Tür befördert wurde.

Zu Hause legte er sich angezogen ins Bett. Er war nicht mehr betrunken und noch nicht nüchtern und wünschte sich nichts sehnlicher als Schlaf. Seine Haare waren feucht vom Regen, der immer wieder in Schnee übergegangen war, nasse, unförmige Flocken, die, von den Straßenlampen angestrahlt, zu Boden sanken wie Fischfutter in einem Aquarium. Als Alice sich auf die Bettkante setzte, glaubte er zu träumen, aber dann sagte sie etwas, das er nicht verstand, und strich ihm sanft über den Kopf. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn, und er legte den Arm um sie und zog sie zu sich heran. Er küsste sie auf die Wange und auf den Mund, und für einen Moment öffnete sie die Lippen und ihre Zungenspitzen berührten sich. Er fuhr über ihren nackten Arm und berührte ihre kleine, feste Brust unter dem Nachthemd. Sie atmete in seinen Mund, ein Stöhnen, ein Seufzen, ein leiser Satz mit einem Nein darin. Wilbur atmete schwer und wollte etwas sagen, aber Alice legte ihm zwei Finger auf die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer.

Eine Weile lag Wilbur reglos da und starrte an die Decke, auf der sich, dünn wie draußen der Schnee, eine Schicht Helligkeit ausbreitete. Dann holte er den Koffer unter dem Bett hervor, legte ein Hemd und eine Hose, Unterwäsche und Socken hinein und Colms Nashorn. In der Küche nahm er alles Geld, fast zweihundert Dollar, aus der Notfallbüchse, schrieb ES TUT MIR LEID auf einen Zettel und verließ die Wohnung.

Das Hotel fand er zufällig. Er war stundenlang durch die von einer seifigen Schneeschicht bedeckten Straßen gegangen und spielte mit dem Gedanken, sich in einer Bar aufzuwärmen, als er das Schild sah. Der Nachtportier, ein südländisch aussehender Bursche mit einem schwer einzuordnenden Akzent, nannte den Übernachtungspreis und verlangte das Geld im Voraus. Er versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen, gab aber angesichts der Einsilbigkeit seines Gastes schnell auf. Wilbur ging in sein Zimmer im ersten Stock und legte sich hin.

Eine Stunde später stand er erneut in der Lobby und fragte den Portier nach einer Bar in der Nähe. Er ließ sich den Weg beschreiben, verzichtete auf ein Taxi und ging die fünf Blocks und zwei Querstraßen zu Fuß. Er betrank sich mit drei Eigenkreationen des Barkeepers, süßen Cocktails, die Midnight Mango hießen und das Hirn mit Rum, Cointreau, Gin und Mangosaft verklebten. Musik berieselte ihn und die Stimme eines Mannes, der die Geschichte seiner vier Ehen rezitierte.

Im ersten Licht des Tages stand Wilbur auf der Straße und konnte sich weder an den Namen des Hotels erinnern noch an die Richtung, in der es lag. Einem Taxifahrer sagte er in einer plötzlichen Eingebung, das Hotel sei nur für Männer, und Minuten später hielten sie vor dem trostlosen Gebäude. Vom Alkohol redselig geworden, war Wilbur in der Stimmung für einen einfältigen Schwatz, eine jämmerliche Herz ausschüttung, eine nach Erlösung winselnde Beichte, aber jetzt hatte der Mann hinter der Empfangstheke kein Interesse mehr. So ließ Wilbur sich ein zweites Mal auf sein neues Bett fallen und glitt durch das lärmende Erwachen Brooklyns in einen zerfransten, nach Zucker schmeckenden Schlaf.

Am nächsten Tag holte er in einem Schnapsladen Rum und Wodka und verschiedene Obstsäfte und schloss sich damit in seinem Zimmer ein. Wilbur Sandberg, tagelang betäubt von Cocktails, für die er Namen wie Sweet Amnesia, Baccardi Brainwash und Pineapple Paranoia erfand, war einer der wenigen Menschen in New York, die die Silvesternacht, den von düsteren Warnungen begleiteten Wechsel ins nächste Jahrtausend, den Sturz ins prophezeite Chaos verschliefen.

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