9

Ich habe meine Sachen wieder. Der Koffer liegt offen auf dem Bett, und ich sitze davor und nehme die Dinge nacheinander in die Hand. Aimee sitzt auf dem Stuhl und trinkt Tee, den Dobbs vor einer halben Stunde gebracht hat. Er hat geklopft und mir ein Tablett entgegengehalten, auf dem ein Teekrug und zwei Tassen, eine Glasschale mit Zuckerwürfeln und ein Kännchen Milch standen, und hat gesagt, das sei für uns. Ich war erstaunt und verlegen und habe ihn gefragt, ob er eine Tasse mit uns trinken wolle, aber natürlich hat er nein gesagt und ist zurück in sein leeres Zimmer, wo das Radio leise Swingmusik spielte und noch immer spielt.

«Und? Fehlt etwas?«fragt Aimee. Sie hat ihren Mantel wie eine Decke über die Beine gebreitet und hält die Tasse mit beiden Händen fest.

Ich nehme das Wörterbuch hervor, das Matthew mir für die Reise nach Göteborg gekauft hatte. Er war überzeugt, dass ich als Wunderkind nur ein bisschen darin zu blättern brauchte und nach dem Flug fließend Schwedisch sprechen würde.

«Nein«, sage ich,»alles da. «Ich kann tatsächlich etwas Schwedisch. Jag är din son. Ich bin dein Sohn. Jag älskar dig. Ich liebe dich. Jag hatar dig. Ich hasse dich. An etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Ich bin müde, es ist fast zwei Uhr morgens.

«Dein Tee wird kalt«, sagt Aimee und gibt mir die Tasse, die auf dem Tablett am Boden steht. Dabei rutscht der Mantel von ihren Beinen, aber sie lässt ihn liegen. Der Ofen hat das Zimmer leidlich erwärmt, die Luft riecht nach verbranntem Staub und glühendem Metall.

Ich nehme den Plastikhalm aus dem offenen Etui, das auf dem Nachttisch liegt, und trinke. Wäre ich hellwach, würde ich das nicht tun, würde den lauwarmen Tee löffeln oder einfach stehen lassen. Aimee sieht mich an, als würde ich einen Zaubertrick vorführen. Dann zieht sie die Augenbrauen hoch und lacht tonlos. Ich kenne diese Mimik, sie bedeutet: Was in aller Welt tust du da?! Ich erzähle ihr von meiner Panik vor Wasser, von Taggarts Tempel, meiner täglichen Mutprobe beim Duschen. Dabei sieht sie mich mit amüsiertem Erstaunen an, wie sie vermutlich jemanden ansehen würde, der ihr gesteht, eine Metallplatte im Schädel zu haben, mit der er Nachrichten aus dem All empfängt.

«Ich muss die Flüssigkeitsmenge, die ich über den Mund aufnehme, genau dosieren können, sonst habe ich das Gefühl zu ertrinken«, sage ich.

Aimee nickt. Vermutlich wägt sie gerade ab, ob ich ein harmloser Spinner oder ein unberechenbarer Psychopath bin. Ich sauge den Rest des mittlerweile so gut wie kalten Tees durch den Halm, jetzt ist es sowieso egal. Ich bin Will McDermott alias Wilbur Sandberg, verhinderter Selbstmörder mit partiellem Gedächtnisverlust, zwanghafter Trinkhalmbenutzer und traumatageschädigter Nichtschwimmer. Ich lebe unter Greisen, und wenn ich mit einer Frau alleine in einem Zimmer bin, lähmen mich Sehnsucht und Angst.

«Ich kann mich in kein Kino setzen«, sagt Aimee nach einer Weile.»In kein Konzert. Keine Lesung. Keine Kirche. «Sie stellt ihre leere Tasse auf das Tablett.»Ich kann zehn Minuten still sein, vielleicht zwanzig. Dann muss ich was sagen. Irgendwas. Meistens rufe ich etwas, ein Wort, einen Satz. «Sie sieht mich an, und ich nicke, als wüsste ich genau, wovon sie spricht. Dabei habe ich keine Ahnung.»Bei der Hochzeit meiner Cousine habe ich mitten in der Zeremonie laut ›Grabschmuck!‹ gerufen, weil das auf der Visitenkarte der Blumenhandlung stand, die ich in der Hand hielt. Ich rufe meistens etwas, das ich irgendwo lese. Es ist wie ein Zwang. Eine Art Tourettesyndrom. Bloß dass es nach einem Wort oder Satz vorbei ist. Tourettesyndrom light. «Sie lächelt versonnen und schüttelt dabei kaum merklich den schief gelegten Kopf, als erinnerte sie sich wehmütig an einen harmlosen Jugendstreich, den sie sich längst verziehen hat. Dann gießt sie Tee in ihre Tasse.

Eine Weile sagen wir beide nichts. In Dobbs’ Zimmer flüstert eine Radiosprecherin. Draußen hupt ein Auto, weit entfernt. Der Ofen klickt. Ich lege das Wörterbuch zurück in den Koffer und klappe den Deckel zu. Ich trage eine graue Trainingshose, Wollsocken, ein blaues Sweatshirt und einen Bademantel aus dickem geripptem Frottee, dessen rot und grün gestreiftes Muster einem vor den Augen flirrt. Ich habe ihn in einem seit längerer Zeit leerstehenden Zimmer im dritten Stock gefunden und zur Reinigung gebracht. Der Zettel mit der Abholnummer hängt noch immer an einer Sicherheitsnadel an einer der Gürtelschlaufen, um mich daran zu erinnern, dass das Ding wirklich einer chemischen Behandlung ausgesetzt war. Ich merke, dass Aimee mich ansieht.

«Was?«frage ich.

«Nichts«, sagt Aimee. Sie stellt ihre Tasse auf das Tablett und den Koffer auf den Boden. Sie kniet sich neben mich aufs Bett, streift sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Im unbestimmten Licht des Zimmers ist der Halbmond auf ihrer Wange kaum noch zu erkennen. Ihr Haar riecht nach Vanille und feuchter Wolle. Sie hebt den Kopf und sieht mich an. Ihr Gesicht nahe an meinem, halte ich ihrem Blick stand. Im grünen Teich ihrer Pupillen glitzern kupferne Fische. Ich könnte ihre Sommersprossen zählen, aber ich will nicht. Was ich will, weiß ich nicht wirklich, ich habe eine Ahnung davon, einen Traum. Sie kommt näher, und ich spüre ihren Atem. Zittern ihre Wimpern? Zittere ich? Ihre Lippen sind warm, süß von Zucker und Milch. Ich mache die Augen zu und öffne sie, sehe, dass ihre geschlossen sind, und schließe meine ebenfalls wieder. Aimees Zungenspitze berührt meine Lippen, teilt sie.

Ich weiß nicht, wie ich atme, aber irgendwie bekomme ich Luft. Mein Herz füllt mich aus, wächst in den Hals, es bebt. Ich bin nicht mehr müde. Vielleicht schlafe ich längst. Die leisen Geräusche. Die Nähe. Jetzt also.

Aimee schläft. Sie ist jemand anders, weit entfernt. Ihr Haar ist dunkler vor dem Weiß der Laken. Ihr Atem geht so langsam, dass es mir manchmal Angst macht. Ich habe den Ofen ausgeschaltet, der Raum ist warm. Licht fällt durch die dünnen Vorhänge, gerade genug, um den Flaum auf ihren Armen schimmern zu lassen. Aus Dobbs’ Zimmer dringt, kaum hörbar, Musik, noch immer oder wieder. Der schlaflose Dobbs, tagträumend von Stille und Vergessen, unfassbar erschöpft. Aimees Kleider liegen auf der Bettdecke, die Arme ihres Pullis umschlingen meine Trainingshose. Ich sehe sie an. Wenn sie ausatmet, entweicht ihr ein Stöhnen, so leise, dass nur ich es höre. Feine Risse schraffieren ihre Lippen. Unter ihren Lidern drehen sich die Pupillen wie verborgene Planeten. Aimee, geborgen im Universum des Schlafs. In meinem Kopf steht eine Maschine unter Strom, die ein Abbild von ihr anfertigt, für immer. Aimee, die mich befreit hat, die mich erlöst hat. Die sich meiner erbarmt hat.

Ich ziehe mich an, stelle die Teetassen neben die Kanne auf das Tablett und gehe leise aus dem Zimmer. Auf dem Flur ist es still und kühl. Ich stelle das Tablett vor Dobbs’ Tür, ich will jetzt nicht mit ihm reden, ihm nichts erzählen. Ich gehe die Treppe hinunter in die Lobby, wo Leonidas sitzt und schreibt. Die Lampen über der Empfangstheke brennen nicht, Licht kommt nur von den beiden Notausgangbeleuchtungen, dem Neonschriftzug draußen über dem Eingang, dessen Blau, vermischt mit dem kraftlosen Leuchten der Morgendämmerung, durch die Fenster sickert, und dem Monitor des Laptops. Die Wanduhr neben den Schlüsselfächern zeigt zehn vor sechs. Randolphs Schicht beginnt um sieben.

«Morgen«, sage ich.

«Du bist früh dran«, sagt Leonidas und sieht mich an. Ich würde gerne wissen, wozu seine Mutter ihm in meinem Fall geraten hat.»Vollmond.«

«Vermutlich«, sage ich. Ich wusste nicht, dass wir Vollmond haben. Vielleicht hat Aimee deshalb mit mir geschlafen. Leute tun die verrücktesten Dinge in Vollmondnächten. Roch ihr Atem nicht ein wenig nach Alkohol, ihr Pullover nach Haschisch? Gut möglich, dass sie verkatert in meinem Bett liegt und sich wünscht, sie könnte die Zeit zurückdrehen.

«Ich schreibe eine Komödie«, sagt Leonidas.»Ein Boulevardstück. Schluss mit den Tragödien. Die Leute mögen das nicht.«

«Gute Idee«, sage ich. Auf dem Sofa liegen Zeitungen. Ich setze mich hin und überfliege die Lyrik der Schlagzeilen, die Prosa der Katastrophenmeldungen, die ganze Litanei des Elends. Auf der Straße fährt ein Wagen vorbei, eins seiner Blechteile schleift über den Asphalt. Ein paar Funken stieben und verlöschen hinter den Fenstern. Ich würde Leonidas gerne fragen, ob Aimee mit ihm gesprochen hat, bevor sie nach oben gegangen ist, zu mir. Er musste sie reinlassen, um zwei Uhr morgens ist die Hoteltür abgesperrt. Ich würde gerne wissen, was sie ihm erzählt hat. Hallo, in diesem Koffer sind ein paar Klamotten, ein Spielzeugindianer, ein Nashorn aus Ton, Fotos und anderer Kram, Wilburs gesamter Besitz, ohne den er, glaube ich, nicht leben kann. Ich falte die Zeitungen zusammen und werfe sie in den Mülleimer hinter der Theke. Der Computerbildschirm ist ein erhelltes Fenster, gefüllt mit Wörtern. Die Kühlung summt, ab und zu knistert die Festplatte. Warum fragt Leonidas nicht, wer sie ist? Wahrscheinlich denkt er sich seinen Teil. Dass Aimee zu schön für mich ist. Zu groß, um einen halben Kopf. Er reimt sich zusammen, dass irgendwas nicht stimmen kann mit ihr.

«Sie ist nett«, sagt Leonidas. Dabei tippt er konzentriert.

«Was? Wer?«

Leonidas sieht mich an, grinst.»Schläft sie noch?«

Ich habe die Nacht mit einer Frau verbracht, laut Statistik über fünfeinhalb Jahre zu spät. Ich habe sie mit nichts bezahlt als grenzenloser Verblüffung und Dankbarkeit. Das Zimmer roch nicht nach Hund, nirgendwo grölten betrunkene Männer. Ich bin kein Aussätziger mehr, ich gehöre dazu. Und jetzt rede ich mit einem Kumpel darüber, wie andere Jungs in New York, in Amerika, auf der ganzen Welt. In dieser Nacht bin ich zu einem normalen Menschen geworden, zumindest was diese eine Sache betrifft. Am Rest werde ich arbeiten.

«Ja«, sage ich. Grinse ich dabei wie er? Soll ich noch etwas sagen? Etwas Witziges? Anzügliches? Vielleicht erwartet Leonidas, dass ich davon erzähle, dass ich angebe, intime Details preisgebe, weil es zum Ritual gehört. Ich stehe an der Theke, ein Gast, der ein Zimmer will, einen Ort, um seine Heimatlosigkeit aufzubewahren. Der Kugelschreiber ragt aus einem Loch in einem bibelgroßen Steinblock, an den er mit einer Schnur gebunden ist, weil Leute Kugelschreiber stehlen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fällt nichts Schlüpfriges ein, und mit Verliebtheit und dem labyrinthischen Gefühl wallender Verzückung kann ich Leonidas ja wohl nicht kommen.

«Sie ist in meinem Stück«, sagt Leonidas.

«Aimee?«

«Heißt sie so? Ja. Sie hat die ganze Zeit diesen Koffer bei sich. Am Ende des dritten Akts öffnet sie ihn. Und weißt du, was drin ist?«

Ich zucke mit den Schultern. Erinnerungsstücke, könnte ich antworten. Überbleibsel. Dinge, die manchmal trösten und manchmal nicht.

Das Telefon klingelt. Leonidas meldet sich, dann lacht er und spricht Griechisch. Irgendeiner seiner dreitausend Verwandten. Ich hebe die Hand, er auch, und ich gehe nach oben. Weil ich nicht weiß, wie so eine Geschichte weitergeht oder was von mir jetzt erwartet wird, ob ich Aimee wecken darf, ob ich sie wecken muss, wie ich sie wecken soll, ob sie überhaupt noch da ist oder schon weg, meine Abwesenheit dankbar ausnutzend, in hastig übergestreiften Sachen die Feuerleiter hinuntergeklettert, humpelnd in ungeschnürten Schuhen, mit dem Schal nach einem Taxi winkend, eine verschlafene, hellwache Gestalt, gerade einer Beinahekatastrophe entkommen, weil ich all das nicht weiß, bleibe ich im Niemandsland meiner Etage auf der obersten Stufe stehen und warte.

Matthews Atemübungen helfen, aber sie ersetzen nicht fünfeinhalb Jahre Erfahrung. Ich wusste nicht, was ich Leonidas erzählen sollte, und ich weiß nicht, was ich Aimee sagen soll. Dass es nicht regnet? Dass die Nacht schön war? Wenn ich ihr sage, dass es das Schönste war, was ich in meinen zwanzigeinhalb Jahren erlebt habe, ist ihr gleich klar, dass ich nicht normal bin, dass es mit mir etwas auf sich hat, über das zu reden unangenehm wäre. Haben wir letzte Nacht geredet? Ich kann mich nur an Gestammel erinnern, an Keuchen, gelegentliches Glucksen. Musste ich ihr gestehen, dass ich Jungfrau war, oder sprach meine Unbeholfenheit Bände? Habe ich die drei Worte geflüstert, oder kamen sie aus Dobbs’ Radio?

Nach einer Weile gehe ich ohne jegliche Erkenntnis weiter, stehe viel zu plötzlich vor meiner Zimmertür und lege ein Ohr daran. Stimmen. Knisterndes Fernsehmurmeln. Falls ich einen Plan hatte, verwerfe ich ihn und klopfe an.

«Ja?«Es ist ihre Stimme. Sie ist noch da. Sie sitzt nicht fröstelnd in einem Taxi und sehnt sich nach einer langen gründlichen Dusche.

«Ich bin’s«, sage ich.»Will«, füge ich rasch hinzu.

«Komm rein!«

Ich atme alle Luft ein, die ich auf dem stickigen Flur kriegen kann, und betrete das Zimmer. Aimee sitzt angezogen auf dem Bett und sieht fern, eine Talkshow. Leute beschimpfen sich vor Publikum. Wegen der Bildstörung sieht es aus, als ob ein endloser Strom wabernder Flüssigkeit über sie gegossen würde.

«Hi«, sagt sie und schaltet das Gerät aus.

«Hallo«, sage ich. Weil ich nicht weiß, ob ich sie küssen soll, gehe ich rasch zur Kommode, um Dobbs’ Zuckerdose in die Hand zu nehmen. Die weißen Würfel sehen aus wie ein kleines eingefallenes Iglu.

«Bis du schon lange wach?«

«Es geht.«

«Musst du heute arbeiten?«Sie schwingt die Beine über den Bettrand und schlüpft in ihre Schuhe.

Ich sehe ihr zu, wie sie die Schnürsenkel bindet. Ich liebe es, Leuten dabei zuzusehen. Es existieren Unmengen verschiedener Techniken, wie beim Zähneputzen oder Wäschefalten.

«Eigentlich schon«, sage ich. Mein Tagesplan sieht die Reinigung der Lobby, das Kehren vor dem Eingang und das Ausmisten der Besenkammer in der zweiten Etage vor. Dazu kommt der Katalog aus Kleinkram, der anfällt, weil das Hotel, einem kranken Organismus gleich, rund um die Uhr mit Rissen und Flecken und Löchern seinen allmählichen Zerfall offenbart.

«Kannst du den Nachmittag frei kriegen?«Aimee steht auf und zieht den Pulli an.

«Weiß nicht«, sage ich.»Da muss ich Randolph fragen. «Das wäre mein erster freier Nachmittag in zwei Wochen.

«Gut«, sagt Aimee. Sie hebt mit beiden Händen ihr Haar aus dem Kragen, kommt zu mir und küsst mich auf den Mund, kurz nur, fast flüchtig, wie eine Frau, die zur Arbeit geht.»Und jetzt hab ich Hunger. «Damit ist sie aus dem Zimmer.

Ich stehe da mit der Zuckerdose in den Händen und sehe auf das Stück Flur im Türrahmen, den roten fusseligen Teppich, die zerkratzte, mit schwarzen Striemen bedeckte Wandleiste und die Tapete, deren Blau fleckig ist, ein Himmel voller Risse und gekritzelter Botschaften. Dann ertönt, begleitet vom Ächzen des erwachenden Fahrstuhls, Aimees Stimme:»Kommst du?«

Der Speiseraum ist so groß wie die Lobby, aber fensterlos. Von der Decke hängen weißschalige Lampen, deren Licht auf ein Dutzend Tische fällt. Die Stühle sind zusammengetragen, Holz, Metallrohr und Kunstleder, Plastik, jeder Tisch hat andere. An den Wänden hängen gerahmte, großformatige Schwarzweißfotos, Aufnahmen des Hotels aus besseren Tagen. Hinter einer Kantinentheke steht Madame Robespierre in ihrer weißen Uniform und der schwarzen Kopfbedeckung, die einem Cowboyhut für Kinder nicht unähnlich sieht. Randolph sagt, sie komme aus Haiti, Leonidas meint, sie sei Puertoricanerin, und Alfred und Mazursky tippen auf Mississippi oder Alabama, während Enrique behauptet, Madame Robespierre sei zweifelsfrei Kubanerin. Jeder hat für seine Theorie Erklärungen, aber nicht einmal Randolph, der die sechzig-, vielleicht siebzigjährige Frau eingestellt hat, Beweise. Das Essen, das sie mit dem wenigen Geld, das ihr zur Verfügung steht, jeden Morgen zubereitet und das ein wilder, sensible Mägen ignorierender Mix aus Cajun-Küche, Karibik und westlicher Fast-Food-Kultur ist, macht das Rätseln um ihre wahre Herkunft nicht einfacher, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie außer ein paar Worten melodischen Englischs keinen Ton von sich gibt.

Leonidas hat mir erzählt, dass es im Hotel bis vor einem halben Jahr noch ein Zimmermädchen gab, das Staub gesaugt und im Keller die Bettwäsche gewaschen und getrocknet hat. Als die Maschinen den Geist aufgaben, das Zimmermädchen eine alte Frau wurde und der Hotelbesitzer kein Geld für Neuanschaffungen lockermachte, verkündete Randolph, die Gäste müssten ab sofort ihre Zimmer selber sauber halten und die Bettwäsche auf eigene Kosten waschen lassen. Als Trost versprach er den maulenden Männern, Madame Robespierres Arbeitsplatz sei unantastbar.

Die Hälfte der Tische ist besetzt. Alfred schlingt Rühreier mit Schinken und Bohnen hinunter, Enrique schwitzt über einem Teller Eintopf und Reis. Mazursky kämpft mit einer Zeitung wie ein Tourist mit einem Stadtplan, während seine Krawatte in der Porridgeschüssel hängt. Elwood und ein alter Mann, der gelegentlich hier übernachtet und dessen Namen ich mir nicht merken kann, sitzen vor ihrer Tasse Kaffee und schweigen sich an, ein vom Leben ernüchtertes Ehepaar, das im Wartesaal die Abfahrt des Zuges verdämmert. Spencer, herausgeputzt wie zu einem Rendezvous, frühstückt englisch mit Tee und Toast und Orangenmarmelade, die er selber besorgt. Er nickt Aimee und mir zu und gießt dann Milch in seine leere Tasse.

Ich sage Madame Robespierre, dass Aimee mein Gast sei, und als sie mich fragend ansieht, lege ich kurz und eher pantomimisch meinen Arm um Aimee zum Zeichen unserer Zusammengehörigkeit. Madame Ro bespierre versteht und lacht und droht mir mit einem Schöpflöffel. Aimee lässt sich Spiegeleier geben und gebratene Tomaten und Würstchen und Bohnen in Tomatensoße und einen Stapel Toastbrot und dazu Kaffee. Ich bekomme mein übliches Kännchen Tee und eine Schüssel halbvoll mit Cornflakes. Wir setzen uns an den Tisch, an den ich mich vor fünf Tagen zum ersten Mal gesetzt habe. Leonidas, der sich nach dem Ende seiner Schicht mit einem Kaffee für den Heimweg stärkt, hatte mich aufgefordert, meinen Tee hier zu trinken statt alleine in meinem Zimmer. Der Tisch steht ein Stück weg von der Theke und ihren Gerüchen und den Männern, die schlürfen und schmatzen und dummes Zeug reden und sich mit Zahnstochern Fleischfasern zwischen den lockeren Brücken hervorpulen.

«Ist das alles?«fragt Aimee und deutet auf meine Cornflakes, die ich mit Milch übergossen habe. Doughnuts gibt es hier keine, dafür getrocknete Fische und grüne Papayas. Cornflakes, Toast und Haferschleim sind die einzigen Zugeständnisse, die Madame Robespierre an kontinentale Frühstücksgepflogenheiten zu machen bereit ist.

«Ja«, sage ich. Ich warte, bis sie isst. Ich kann nicht essen, wenn jemand am Tisch sitzt, es sei denn, dieser jemand isst auch. Wenn ich kaue, erscheint es mir unanständig laut, obwohl mein Mund geschlossen ist. Außerdem denke ich dauernd, dass mir Essensreste zwischen den Zähnen stecken oder in den Mundwinkeln kleben. Nach jedem Bissen wische ich mir mit einer Papierserviette die Lippen sauber und taste mit der Zunge diskret über die Zahnreihen.

«Du solltest mehr essen«, sagt Aimee. Sie tunkt ein Stück Brot in den Eidotter, steckt es zwischen die Lippen und leckt die Finger ab.»Was Richtiges. Nahrhaftes.«

«Damit ich groß und stark werde?«

Aimee sieht mich an, hört auf zu kauen und runzelt die Stirn.»Nein, damit du was im Magen hast«, sagt sie ernst und irgendwie vorwurfsvoll.»Die Arbeit hier ist bestimmt kein Spaziergang am Strand.«

«Ich esse zwischendurch was«, sage ich möglichst munter. Das mit dem groß und stark war dumm von mir. Aimee kann ja nichts von Pauline Conway ahnen. Davon, dass mich meine Mutterdarstellerin dauernd zum Essen genötigt hat. Der festen Überzeugung, dass zwischen meiner hageren Erscheinung und einem kräftigen Körper nur eine seit Jahren existierende Wüste des Mangels lag, die es in Begleitung einer Karawane aus Kohlehydraten, Fetten, Kalorien und Vitaminen zu durchqueren galt, hatte diese Frau so viel Essen vor mich hingestellt, dass die Fata Morgana meines zukünftigen Ichs vor meinen Augen in dampfenden Schleiern von Übelkeit verschwand. Ihr mit verbissener Fürsorglichkeit ausgearbeitetes Vorhaben, mich zu einem normalen Jungen zu mästen, scheiterte am Widerstand meiner Gene, und alles, was mir aus jener Zeit geblieben ist, sind chronische Appetitlosigkeit und Verstopfung. Drängt man mich dazu, ein Lieblingsgericht zu nennen, sage ich Reis mit Gemüse und Sojasoße. Aber eigentlich esse ich nicht gern, empfinde es nicht als lustvoll. Ich bin kulinarisch frigid.

Nach dem Frühstück geht Aimee. Sie will sich in der Bibliothek Zeitungsartikel ansehen, die über das Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung berichten, die Stadt der Selbstmörder. Es ist kalt, aber es regnet noch immer nicht, und sie geht, eingehüllt in ihren Mantel und den Schal bis unter die Nase gewickelt, zu Fuß zur U-Bahn-Station. Die Nebenstraße, in der das Hotel liegt, ist fast menschenleer. Ein paar Autos fahren vorbei, langsam, als wüssten die Fahrer nicht, wohin sie wollen. Zwei schwarze Jugendliche stehen unter der hochgeklappten Kühlerhaube eines Wagens von der Sorte, wie ich sie aus vierzig Jahre alten Filmen kenne. Ein dritter sitzt hinter dem Steuer und raucht. Am Ende der Straße dreht Aimee sich um und winkt, und ich winke zurück.

Dann biegt sie um die Ecke. Winston sitzt mit einer erloschenen Zigarre im Mund vor dem Laden und sieht ihr nach. Als sie verschwunden ist, faltet er die Wolldecke, die über seinen Beinen gelegen hat, zusammen und erhebt sich, als sei eine Vorstellung zu Ende.

«Gleich regnet es«, verkündet er, bleibt einen Atemzug lang unschlüssig stehen und geht dann in seinen Laden.

Obwohl ich kaum Geld habe und mit der Arbeit beginnen sollte, folge ich ihm. Die Glocke, die über meinem Kopf an einem spiralförmigen Blechband hängt, klingelt, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Der Laden ist ein langer Schlauch, der sich in der Mitte, wo Winston hinter dem Kassentisch sitzt, zu einem engen Korridor verjüngt, durch den man in den hinteren Teil gelangt, den Raum mit dem Plunder. Vorne, beschienen vom diffusen Licht zahlloser Deckenlampen, hat Winston seine Schätze auf Tischen und Regalen ausgebreitet. Vasen, bemalte Porzellankannen, Fotoapparate, bronzene Türklopfer, Kristallgläser, Spieldosen, Segelboote in Flaschen, dunkel angelaufenes Silberbesteck, mechanische Kaffeemühlen, Aschenbecher aus dem Ritz, handgeschliffene Karaffen, Operngläser, Flachmänner mit eingravierten Initialen, Parfümflakons mit paillettenbesetzten Zerstäubern, lange Reihen ledergebundener Bücher, Inseln aus Arztkoffern und Handtaschen, Schreibtischlampenwälder, Schallplattentürme.

In Vitrinen, deren winzige Schlüssel Winston an einer Kette um den Hals trägt, liegen Zigarettenetuis aus Silber, Armbanduhren, Perlenketten, Ohrringe, goldene Feuerzeuge. An den Wänden hängen gerahmte Ölbilder, Drucke und Stiche, daneben Jagdtrophäen, Spiegel, Hüte an Haken. Gerollte Perserteppiche stehen herum, Golftaschen, Angelruten, stumme Wanduhren, zwei Barhocker, ein Sofa, in den Ecken Sessel und Stühle und ein Totempfahl.

Der Gang zwischen den Tischen hindurch ist ein Gang zurück in der Zeit, ein Besuch im Museum der beendeten Träume und des verarmten Adels, der aufgelösten Haushalte und verhökerten Spielgewinne, Erbschaften und Diebesgüter und der gescheiterten Ehen und nicht eingehaltenen Versprechen, alles mit dem verstaubten Charme des Unnützen bedeckt, wertvoll und lächerlich und im Preis verhandelbar.

«Ich hab da was«, sagt Winston.»Genau das Richtige für dich.«

«Ich brauche nichts«, sage ich und betrete den zweiten Raum, wo dem Kunden der Müll des Alltags entgegenbrandet, das Strandgut der unteren Mittelschicht. Auf Metallregalen stehen Radios und Mikrowellengeräte und Saftpressen, höher oben Computer, Monitore und Drucker, Kameras, am Boden Fernseher, Bürostühle, Kühlschränke, Fitnessgeräte, Schlittschuhe, eine künstliche Palme. In einer Pappkiste liegen Videokassetten, in einer anderen elektrische Lockenwickler. Möbel stehen wahllos herum, Tische stapeln sich bis unter die Decke, Sessel bilden krumme Säulen, dazwischen stehen Schränke, in denen Pelzmäntel hängen, Fuchs, Kaninchen, Biber. Auf einem Regal liegen Hüte, ein Reithelm und der Zylinder eines Totengräbers. In eine Stuhllehne ist KATIE eingeritzt, in einen Baseballhandschuh hat ein Junge mit Kugelschreiber BOBBY SPARROW geschrieben. In der Schublade einer Kommode liegt eine Brille, auf dem Kissen im Kinderwagen ein Schnuller, in einem Buch eine Postkarte, auf der jemand das Wort Heimweh unterstrichen hat. Ich nehme einen Football in die Hand, an dem die Zahnabdrücke eines Hundes zu erkennen sind. In der Brusttasche einer Lederjacke steckt ein Einkaufszettel: ZAHNPASTE, ROTWEIN, KERZEN, KATZENFUTTER. Ein einzelner roter Kinderfäustling liegt am Boden. An der Innenseite einer Schranktür steht in wackliger Schrift: MATT LIEBT SALLY, darüber schweben Herzen, tintenblau und ungelenk, wie verbeult.

Ich bin gerne hier drin. Es ist ein trauriger Ort voller unbedeutender Geschichten, ein Museum der Abschiede und Trennungen und Tragödien. Den Dingen haftet ein Geruch nach Staub und vergeblicher Mühe an, nach schnellem Geld und langsamem Untergang.

«Sieh’s dir mal an«, sagt Winston.

Ich gehe zu ihm, und er zeigt mir eine Kette mit einem runden Anhänger, dessen eine Seite die Sonne, dessen andere den Mond darstellt.

«Silber«, sagt Winston.»Hundert Jahre alt. «Er legt den Anhänger in meine Hand. Winstons Kopf ist klein wie der eines Kindes, das schüttere weiße Haar riecht nach der Pomade, die es in Bahnen unterteilt und an den Schädel klebt. Braune Flecken und rosa Sprenkel bedecken das Schwarz seiner Haut, weiße Stoppeln lassen Wangen und Kinn grau aussehen. Er trägt einen schwarzen Nadelstreifenanzug samt Weste, ein weißes Hemd und eine bordeauxrote Krawatte mit blauen Streifen. Vor vielen Jahren hatte Winston ein Pfandleihhaus in Queens, aber weil er irgendwann das Elend der Leute nicht mehr ertrug, die ihre letzte Habe zu ihm schleppten, eröffnete er diesen Laden. Auf dem Schild draußen steht noch immer FREEMAN ANTIQUES, aber das bisschen Geld, das er zum Leben braucht, macht er schon lange nicht mehr mit dem Verkauf von edlen Kristallkaraffen, sondern mit dem Verscherbeln von gebrauchten Toastern und Stereoanlagen. Eigentlich hat er nur die Geschäftsräume und den Stadtteil gewechselt und eine trostlose Kundschaft gegen eine andere ausgetauscht. Ab und zu kommen Sammler vorbei und werden im vorderen Teil des Ladens fündig, und im Sommer und Herbst kann es passieren, dass sich ein paar Touristen in die Gegend verirren. Aber der größte Teil seiner Klientel besteht aus Menschen, die eine Matratze oder Thermoskanne brauchen oder die Hochzeitsbrosche ihrer Mutter verkaufen wollen. Winstons Laden ist die Welt, vorne die Erste, versunken in der Apathie des Vergehens, hinten die Zweite, auf der Schwelle zur Dritten, erbärmlich mit ihrer abgenutzten Fülle und der Patina des Scheiterns.

«Zwanzig Mäuse«, sagt Winston.»Weil du’s bist.«

«Ich habe keine zwanzig Dollar«, sage ich.»Nicht dafür.«

«Ein Mann hat sie gebracht, vor Jahren. Er hat gesagt, er hat die Kette einem Mädchen geschenkt, und sie hat ihn nie mehr verlassen.«

«Und er hat sie dir verkauft?«

«Die Frau ist gestorben. Nach sechzig Jahren Ehe. Und er brauchte Geld. «Winston betrachtet die Sonne, dann den Mond. In seiner hellen, honiggelben Handfläche sieht der Anhänger noch schöner aus als im blauen Samt der Schatulle, wirkt irgendwie älter, kostbarer.

«Tut mir leid«, sage ich.»Wenn ich was brauche, dann gute Schuhe.«

«Kannst es dir ja noch überlegen.«

«Ja. Danke. «Ich gehe zum Ausgang.»Bis bald.«

«Richtig.«

Ich trete auf die Straße. Die alte Karre steht noch immer mit offener Motorhaube da. Es regnet kleine graue Tropfen. Die drei Jungs rauchen, der Qualm wabert durch Fensterschlitze. In meinem Rücken klingelt die Glocke. Ich stoße die Tür noch einmal auf und rufe in den Laden:»Es regnet!«, und Winston strahlt.

Am Nachmittag sitze ich mit Aimee in der U-Bahn. Wir fahren in die Bronx, wo sie sich mit drei Leuten eine Wohnung teilt. Ich habe alle Arbeiten erledigt, bis auf das Ausmisten der Besenkammer. Randolph hat mir den Nachmittag freigegeben, und den nächsten Morgen. Ich habe gesagt, das sei nicht nötig, aber er meinte, man könne nie wissen. Während wir unter der Stadt dahinschaukeln, überlege ich, ob ich Aimees Hand halten soll. Sie erzählt mir von ihren Mitbewohnern, und ich denke an nichts anderes als daran, nach ihrer Hand zu greifen. Ich frage mich, ob ich das darf, ob sie es erlauben würde, es vielleicht sogar erwartet, erhofft. Bin ich ihr Freund, ihr offizieller? Oder nur ein Typ, mit dem sie gerade zusammen ist? Sind wir überhaupt zusammen? Oder haben wir bloß eine Nacht miteinander verbracht? Kann ich sie das alles fragen?

«… schon mal in der Bronx?«Aimee sieht mich an. Hinter ihr wischen Tunnelwände vorbei, freiliegende Kabel, Lichter. Sie lächelt.»Wo bist du denn gerade?«

Wärst du auch ohne den Koffer zu mir gekommen? Wenn ich deine Hand berühren würde, würdest du sie zurückziehen? Liebst du mich? Stattdessen sage ich:»Bronx.«

«Bronx, genau«, sagt Aimee und lacht.»Und? Schon mal da gewesen?«

«Nein. «Ich erzähle ihr nichts von den Streifzügen durch die Bronx, nichts von meiner unendlichen Suche.

Plötzlich hält die Bahn an, sanft und mit einem leisen Heulen wie von einem mechanischen Kojoten, lang und klagend. Dann flackert die Innenbeleuchtung und geht aus. Ein Kind ruft erschrocken, Passagiere stöhnen auf, eher verärgert als besorgt. Es ist dunkel, ein paar Ohren glimmen auf, von Handys erleuchtet. Geschäftspartner, Ehefrauen und Freundinnen werden verständigt.

Ich taste nach Aimees Hand, und unsere Finger greifen ineinander.

Загрузка...