Die Hard With A Vengeance, 1995

Aus den Zimmern des Hotels drang Beethoven, Ravel und Satie, aus einigen Pink Floyd und Charlie Parker, und in einem war es still. Wilbur lag auf dem Bett und studierte die Karte, die er am Nachmittag gekauft hatte. Seit drei Tagen war er jetzt zusammen mit vierundachtzig jungen Musikern in Göteborg, und es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er hatte vor einer Jury Cello gespielt, an Ausflügen und einer Fernsehsendung teilgenommen, hatte für Gruppenfotos posiert und mit Menschen geredet, die ihm eine wundervolle Zukunft voraussagten. Ständig hatten Leute der Stiftung an seine Zimmertür geklopft und ihn zu Empfängen in Botschaften und Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten geschleppt, und mehrmals täglich rief entweder Matthew oder Pauline an, um sich alles erzählen zu lassen.

Heute hatte Wilbur endlich Gelegenheit gehabt, sich frei zu bewegen. Nach dem Mittagessen hatte er sich aus dem Hotel geschlichen, eine Reisetasche und einen Schlafsack gekauft und war am Bahnhof gewesen, um die Abfahrtszeiten von Zügen zu notieren. Der Ort, aus dem sein Vater die Briefe geschrieben hatte, hieß Nora und lag etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Göteborg. Die Angestellte auf dem Postamt, der Wilbur die Briefumschläge zeigte, behauptete, es gäbe mindestens fünf Orte mit diesem Namen in Schweden, aber dank des Stempels konnte sie ihm den richtigen nennen.

Wilbur nahm das Geld, das Matthew ihm mitgegeben hatte, hervor und zählte es ein weiteres Mal. Wenn er es vernünftig einteilte, würde es für zwei Wochen reichen. Er fuhr mit dem Finger die Strecke ab, dann faltete er die Karte zusammen, erhob sich und betrachtete Matthews Schalenkoffer. Zwischen weißen Hemden, schwarzen Socken und dezent farbigen Krawatten lagen Notenhefte und Schokoriegel und ein dünnes, in schlechter Qualität gedrucktes Buch über Bruce Willis. Ari hatte ihm das Buch geschenkt, zusammen mit einer signierten Fotografie von Jane Russell, die als Lesezeichen zwischen den Seiten steckte. Wilbur verstaute die Karte und das Buch in der Reisetasche und sah auf die Uhr. In einer Stunde war das Abendessen mit den Veranstaltern und Sponsoren. Der Bürgermeister von Göteborg würde eine Rede halten, und nach dem Dessert käme der große Augenblick, wo der Präsident der Moorhead-Stiftung die diesjährigen Gewinner der Young European Musicians Awards bekanntgab.

Matthew rief an und wünschte ihm zum tausendsten Mal viel Glück. Pauline erinnerte ihn daran, eine Postkarte zu schicken. Beide schrieben die Tatsache, dass Wilbur kaum etwas sagte, seiner Nervosität angesichts der bevorstehenden Preisverleihung zu. Die Vorhänge waren geschlossen, und der Fernseher, der ohne Ton lief, war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Wilbur öffnete noch einmal die Segeltuchtasche und verstaute zwei Flaschen Wasser und einen Beutel Erdnüsse aus der Minibar darin. Schließlich zog er den dunklen Anzug an und ging hinunter in die Lobby, um mit den anderen auf die Wagen zu warten, die sie in die Festhalle brachten.

Der Zug fuhr an einem See entlang, in dessen Wasser sich Wolken spiegelten. Ein einsames Segelboot verlor sich im Blau, zwischen Bäumen leuchteten farbige Zelte. Wilbur bemühte sich, diese Dinge zu sehen, um nicht an die Folgen seiner Reise zu denken. Bestimmt suchte man nach ihm. Er hatte das Hotel am Morgen früh durch einen Hinterausgang verlassen, war zu Fuß zum Bahnhof gegangen und hatte den Regionalexpress nach Örebro bestiegen. Zwischen unausgeschlafenen Pendlern sitzend, hielt Wilbur den Rucksack umklammert und stellte sich vor, wie sein Hotelzimmer nach Hinweisen auf sein Verschwinden untersucht wurde. Er sah Vertreter der Stiftung in Matthews Koffer wühlen, während der Hoteldirektor telefonierte und dabei ratlos das Cello betrachtete.

Bald würde man Pauline anrufen und die Polizei verständigen. Eines der vielen Fotos, die ihn geduldig lächelnd im dunklen Anzug zeigten, würde vervielfältigt und an Passanten auf der Straße verteilt. Die Leute würden einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, seine Augen, die um Haaresbreite an ihnen vorbeisahen, und dann den Kopf schütteln. Vermutlich würde Pauline Matthew anrufen. Bei diesem Gedanken zog sich Wilburs leerer Bauch zusammen, und er musste sich zwingen, beim nächsten Halt nicht auszusteigen und den nächsten Zug zurück nach Göteborg zu nehmen.

Einige Reisende lasen Zeitung, und obwohl Wilbur wusste, dass es Unsinn war, fürchtete er, auf jeder Seite sein Bild zu entdecken, wie er auch in jedem Bahnhof Polizisten erwartete, die nach ihm suchten. Schloss er die Augen, geriet seine von Angst und Schuld genährte Phantasie völlig außer Kontrolle, und er sah Hubschrauber und Bluthunde, Straßensperren und endlose Ketten von Uniformierten, die Waldstücke durchkämmten. Er sah Pauline und Henry in einem Flugzeug nach Schweden sitzen und, im dunklen Wohnzimmer, Matthew, der vor Sorge krank wurde und vergaß, die Katze zu füttern. Dann öffnete er die Augen, und bunte Häuser und Scheunen, Kühe und Autos stürzten an ihm vorbei in eine Vergangenheit, in die er nicht mehr zurückkehren konnte, um ungeschehen zu machen, was er getan hatte.

In Örebro kaufte Wilbur sich eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe ohne Aufdruck. Um noch weniger nach dem Jungen auszusehen, dessen Bild vielleicht schon bald in Postämtern und Bahnhofshallen hing, schnitt er sich mit einer billigen Schere auf dem Klo eines Schnellrestaurants die Haare. Mitten in dieser Prozedur fing er an zu weinen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Colm am Goldfischteich zu sitzen. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, dann wusch er sich das Gesicht und ging zurück auf die Straße, wo er in den Menschenströmen durch die Stadt trieb. Weil er dachte, sich stärken zu müssen, aß er einen der mitgebrachten Schokoriegel und trank eine Flasche Wasser, aber danach fühlte er sich nur noch elender.

Aus Angst, wieder weinen zu müssen, legte er sich im Folkets Park auf die Wiese und zog die Kappe ins Gesicht. Um ihn herum redeten Außerirdische, die Luft und das Gras rochen anders als in Irland, und sogar die Käfer und Mücken hatten etwas Bedrohliches. Vor dem Weihnachtskonzert hatte Matthew ihm beigebracht, wie man atmete, um das flaue Gefühl im Magen loszuwerden, und jetzt lag Wilbur auf dem Rücken und versuchte sich daran zu erinnern. So verging eine Stunde und mehr.

Irgendwann schob er die Mütze aus den Augen und sah in den Himmel, wo absurd große Wolkengebilde vorüberglitten, langsam, ohne ihre Form zu verändern. Unter einem Baum pickte eine Amsel im Gras, und ihr vertrauter Anblick hatte etwas Beruhigendes. Wilbur holte das Buch, das Ari ihm geschenkt hatte, aus der Reisetasche und las darin. Es trug den Titel Bruce Willis Goes To The Bad und war die unautorisierte Biografie aus der Feder eines Filmstudenten der Penn State University namens Lester J. Ormond. Auf den ersten hundertzwanzig Seiten des auf billigem Papier gedruckten Buches beschrieb der Autor, ein Freund gedrechselter Formulierungen, den Werdegang des Schauspielers, ohne es dabei mit Fakten oder der Wahrheit besonders genau zu nehmen. So diagnostizierte er bei Willis eine Phase sexueller Verwirrung, ausgelöst durch ein homoerotisches Erlebnis in der Pubertät, und beschrieb einen nirgendwo sonst dokumentierten Badeunfall, bei dem der damals Einundzwanzigjährige beinahe ertrank und eine Schädigung des Gehirns infolge Sauerstoffmangels erlitt. Diese Spätfolgen machte der Autor dafür verantwortlich, dass aus dem netten und zurückhaltenden Jungschauspieler der unberechenbare und in einem Panzer aus Selbstüberschätzung auftretende Macho wurde, der die Rolle des Privatdetektivs David Addison in der Fernsehserie Moonlighting erhielt, weil er in zerfetzten Kleidern und mit Irokesenschnitt zum Casting erschienen war und dreitausend Mitbewerber wie blutleere Schwächlinge hatte aussehen lassen.

Eine Anwaltskanzlei, die mit nichts anderem Geld verdient, als ihre prominente Klientel vor rufschädigenden Elementen wie Ormond zu schützen, erreichte eine einstweilige Verfügung gegen das in einer Auflage von fünfhundert Stück erschienene Buch und schließlich dessen Einstampfung. Bevor das Urteil rechtskräftig war, hatte Ari drei Exemplare erworben und seiner umfangreichen Sammlung einverleibt, zu deren größten Kostbarkeiten ein von Jodie Foster während der Dreharbeiten zu Taxi Driver mit Colaflecken geweihtes Drehbuch, eine zerknitterte A4-Seite mit handschriftlichen Notizen von Stanley Kubrick zu 2001 — A Space Odyssey und ein silbernes Feuerzeug von Orson Welles gehörten.

Die nächsten zweihundert Seiten widmete Lester J. Ormond den Filmen von Bruce Willis, und da er offensichtlich mit Spekulationen und Verleumdungen weniger Probleme hatte als mit der Verletzung von Urheberrechten, waren im Buch keine Fotos abgedruckt, sondern Gemälde einer Künstlerin namens Tracy Sorrentino, die Filmszenen in Öl festhielten und stilistisch an schlechte Kopien von Werken Francis Bacons erinnerten.

Wilbur liebte das Buch. In den wildesten Passagen las es sich wie ein absurder Roman, und wo Ormond seinen heftigen und zwiespältigen Gefühlen gegenüber Willis freien Lauf ließ, wie ein fiebriger, irrer und von Beleidigungen durchsetzter Liebesbrief. Als wahres Kunstwerk betrachtete Wilbur den Teil über die Filme, in dem der Verfasser ein stilistisches Chaos aus sachlicher Betrachtung, poetischer Überhöhung und unflätiger Kritik anrichtete, durch das immer wieder, gebadet in Pathos und Kitsch, verschlüsselte Sätze der Verehrung leuchteten. Zu Die Hard schrieb er:»In Bruce Willis’ Gesicht liegt, verborgen unter Härte und Desillusioniertheit, die Andeutung eines Lächelns, das selbst in der Gegenwart des Todes Liebe und Hoffnung ausstrahlt. Liebe gegenüber seiner Familie, für die zu sterben er bereit ist, das Herz vielleicht schwer vor Wehmut, aber frei von jeder Furcht. Hoffnung hegend für die Zeit nach dem Töten, die in seinem abgeklärten Traum keine bessere sein wird, sondern eine von ängstlichem Singen durchwirkte Stille, in der das Glück eine Flamme im Wind ist. Dieses Lächeln, tausendfach gespiegelt im Regen glühender Trümmer, ist das eines von der perversen Phantasie Hollywoods zur Unsterblichkeit verdammten Mannes, der weiß, dass jedes Haus der Geborgenheit nur ein fragiles Gebilde und dazu bestimmt ist, im Feuersturm zu vergehen, dass das Böse nie ruht und er immer wieder wird töten müssen, ein Verfechter des Guten und Edlen auf einer von blutigen Ozeanen umspülten Insel namens Amerika.«

Als die Wiesen und Bänke sich zur Mittagszeit füllten und Wilbur einen uniformierten Museumswächter für einen Polizisten auf der Suche nach ihm hielt, stand er auf und verließ den Park. Die Lektüre des Buches hatte ihn ruhiger gemacht, und während des Gehens erinnerte er sich an seinen Plan. Schlaflos im Hotelbett liegend und mit dem Ballast zu vieler Filme im Kopf, hatte er die fixe Idee entwickelt, seine Spuren verwischen zu müssen. Er hoffte, es würde seiner Reise etwas von ihrem Schrecken nehmen, wenn ihr eine Art Drehbuch zugrunde läge mit einer Handlung, die ihn zur Figur machte. Ginge er als John McClane durch die fremde Stadt, vermochten ihn die Gefühle von Angst, Reue und Unentschlossenheit vielleicht nicht mehr zu lähmen, denn in seinem Kopf schriebe er fortlaufend eine Geschichte, in der ihm außer Kratzern und gelegentlichen Streifschüssen nichts passierte, eine Geschichte, die er beenden könnte, wenn sie aus dem Ruder liefe. Er hatte Matthews Telefonnummer und die der Conways auf drei Zettel geschrieben, von denen einer in seiner Hosentasche steckte, einer im Innenfach der Reisetasche lag und einer, zusammen mit den Geldscheinen in Haushaltsfolie gewickelt, in seinem rechten Schuh, und beide Nummern hatte er auswendig gelernt. Zwischen seiner Wäsche befanden sich zwei Briefe, in denen er Matthew und Pauline und Henry die Beweggründe für seine Reise nach Nora darlegte und die er abschicken wollte, sobald er Lennard Sandberg gefunden hatte.

Dass Bruce Willis keine Telefonnummern für Notfälle bei sich trug und John McClane keinen Plan B hatte, der eine reumütige Rückkehr nach Hause vorsah, war Wilbur klar. Aber bestimmt war weder der eine noch der andere mit fünfzehn auf der Suche nach dem Vater alleine durch Schweden gereist. Und keiner der beiden hatte eine Karriere als Cellist aufs Spiel gesetzt, um seine Mission durchzuführen. Bruce Willis hatte als Kind gestottert, das wusste Wilbur aus verlässlicheren Quellen als denen Lester J. Ormonds. Willis war einmal fast ertrunken, Wilbur genauso. Wenn Wilbur darüber nachdachte, war er vielleicht nicht mutiger als John McClane, aber er besaß mit Sicherheit mehr Mumm als Bruce Willis. Auf jeden Fall hatte er mehr durchgemacht als dieser behütete Junge, der eine Mutter hatte und einen Vater und zwei Brüder und eine Schwester. Wilbur war alleine, und es erschien ihm mehr als gerechtfertigt, dass er in seinem eigenen Film die Rolle des Helden beanspruchte.

In Wilburs Plot war dieser Held auf der Suche nach einem Verräter und dabei nicht nur Jäger, sondern auch Gejagter. Es galt, Verfolger zu verwirren, indem er Haken schlug und falsche Fährten legte. Er ging zurück zum Bahnhof und erkundigte sich nach einer Zugverbindung zum Flughafen. Dabei nahm er die Baseballkappe und Sonnenbrille ab und gab sich Mühe, beim Schalterbeamten einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er fragte, ob es von dort Flüge nach Dublin gebe, worauf der Mann lachend und in holprigem Englisch meinte, das wisse er nicht. Danach schlenderte Wilbur eine Zeitlang möglichst unbeschwert umher, wobei er die Mütze und die Sonnenbrille trug, und ging dann zu einem anderen Schalter, um eine Busfahrkarte in das dreißig Kilometer entfernte Nora zu kaufen.

Der Lärm eines Traktors ließ Wilbur aus dem Schlaf schrecken. Er blinzelte ins Licht, das durch die Lücken zwischen den Brettern fiel und als schiefes geometrisches Muster auf dem Lehmboden der Scheune lag. Er richtete sich auf und spürte einen dumpfen Schmerz im Kopf, der die Nacht auf der Reisetasche gebettet gewesen war. Es dauerte ein paar panische Atemzüge lang, bis er sich erinnerte, wo er war. Das Motorengeräusch verlor sich, und Wilbur kroch aus dem Schlafsack, um seine Schuhe anzuziehen und einen vorsichtigen Blick durch eins der beiden scheibenlosen Fenster zu werfen. Zu seiner Linken erstreckten sich weite, von Hecken und einzelnen Bäumen eingefasste Felder, rechts von ihm lag der Ort, aus dem ein hoher, spitz zulaufender Kirchturm ragte. Grüne, waldbestandene Hügel umwogten die Mulde, in der das Städtchen und der See lagen. Nichts bewegte sich im windlosen Morgen, weder das Gras noch die einzelne Wolke am Himmel, die darauf zu warten schien, vor die Sonne geschoben zu werden. Wilbur rollte den Schlafsack zusammen, stopfte ihn in die Segeltuchtasche und trat auf den schmalen Weg hinaus, der zur Straße führte.

In einem Laden im Ort kaufte er ein Sandwich und eine Packung Orangensaft und setzte sich damit in der Nähe der Kirche auf eine Bank. Wäre er nicht so aufgeregt gewesen, hätte er die Schönheit des Städtchens bemerkt, die vielen Bäume und die Holzhäuser und das Katzenkopfpflaster der Innenhöfe, die gestrichenen Zäune, die Blumenkisten vor den Fenstern und den See. Aber nicht einmal zwei weiß und braun gescheckte Pferde, die ein Mann eine Straße entlangführte, konnten ihn aus seinen Gedanken holen. Wenn er sich vorstellte, vielleicht bald seinem Vater gegenüberzustehen, bekam er kaum noch Luft, und sein Herz raste und schlug ihm bis zum Hals. Er atmete, wie Matthew es ihm gezeigt hatte, dann holte er die Umschläge aus der Reisetasche.

Sein Vater hatte die Briefe an Orla adressiert. Weder auf dem Briefpapier noch auf den Umschlägen war seine Anschrift vermerkt, und er erwähnte mit keinem Wort, wo in Nora er wohnte, ob im eigenen Haus, einer Mietwohnung oder draußen auf dem Land. Im ersten Brief schrieb er, dass ihm alles leid tue, und er bat Orla um Verzeihung. Er fragte nach seinem Sohn, von dem er nicht wusste, dass Schwester Lorraine ihn Wilbur getauft hatte. Im zweiten Brief gestand er, ein feiger und verantwortungsloser Mistkerl zu sein, und bettelte erneut um Vergebung. Der dritte war sehr kurz und endete mit Lennards Bitte, dem Kind nichts von seiner Existenz zu erzählen. Im vierten wechselten sich Verzweiflung, Bitterkeit und Selbstvorwürfe ab, und der fünfte war ein in krakeliger Schrift verfasstes Versprechen, sich nicht mehr zu melden.

Wilbur hatte die Briefe schon so oft gelesen, dass er sie auswendig konnte. Trotzdem suchte er in ihnen noch immer nach Antworten auf die Frage, ob sein Vater ihn vermisste oder hasste. Lennard Sandberg schrieb viel von sich, von seiner kleinen dunklen Welt, die nach dem Tod seiner Frau untergegangen war, viel von seinem Schmerz und seiner Unfähigkeit, ins Leben zurückzukehren. Er gab weinerlich zu, schwach zu sein, von der Trauer um Maureen gelähmt. Er bat darum, man möge nicht nach ihm suchen, er sei kein Mensch mehr, mit dem man zu tun haben wolle. Die Briefe waren in hitziger Aufgelöstheit hingeschriebene Beichten und Rechtfertigungen, Abbitten und Anklageschriften gegen sich selbst und die Wendungen des Schicksals. Nirgendwo, auch nicht zwischen den Zeilen, stand, dass er so etwas wie Sehnsucht nach seinem Sohn hatte. Aber es stand auch nirgends, dass er Wilbur für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte. Das Fehlen dieses Vorwurfs war es gewesen, das Wilbur den Mut hatte aufbringen lassen, die Reise zu unternehmen.

Die Briefe stammten alle aus dem Jahr 1985. Wilbur fragte sich, ob Orla sie gelesen hatte oder ob Eamon, der zu jener Zeit vermutlich noch bei Verstand war und jeden Morgen auf den Postboten wartete, sie ihr vorenthalten hatte. Er fragte sich, ob Orla etwas unternommen hätte, um ihren Schwiegersohn zu finden, oder ob sie seinen Wunsch, mit seiner Trauer alleine gelassen zu werden, respektiert hätte. Der Gedanke, sein Vater könnte inzwischen tot sein, war ihm schon zu Hause gekommen, und jetzt, so nahe am Ziel, wünschte er sich fast, es wäre so. Etwas von der Wut, die ihn nach dem ersten Lesen der Briefe erfüllt hatte, stieg wieder in ihm hoch, und er erinnerte sich an den in einem wirren Taumel von Verletztheit und Hass gefassten Plan, seinen Vater aufzuspüren und zu töten. Conor fiel ihm ein, der auf seinen Vater geschossen hatte, und dass es leicht ausgesehen hatte, abzudrücken.

Er verstaute die Briefe in der Reisetasche, warf das angebissene Sandwich und die halbleere Packung Saft in einen Abfalleimer und machte sich auf die Suche nach dem Postamt. Dort blätterte er im Telefonbuch und fand unter Sandberg zwei Einträge, doch keiner gehörte zu seinem Vater. Er schrieb den Namen auf ein Stück Papier und schob es dem Mann hinter dem Schalter zu. Jetzt wünschte er sich, er hätte das Bild dabeigehabt, das Orla ihm damals gegeben hatte und das Lennard Sandberg vor einem Haus in Philadelphia stehend zeigte. Wilburs Mutter hatte das Foto gemacht und, zusammen mit anderen, Orla geschickt. Lennard trug einen hellen Anzug, Hut und Krawatte, und sein Lächeln war irgendwie schief, vielleicht auch nur die Grimasse, die beim Blick in die Sonne entsteht. Er war groß und schlank, seine Schultern hingen ein wenig, beide Hände steckten in den Hosentaschen. Das Haus im Hintergrund, ein mit weißen Holzschindeln verkleideter Bungalow, leuchtete im Licht, im Rasen steckte ein Schild mit der Aufschrift FOR RENT. Wilbur hatte das Bild eine Weile behalten, aber weil ihn immer, wenn er es hervornahm und betrachtete, eine Woge aus Traurigkeit und Wut überschwemmte, hatte er es irgendwann zerrissen und die Fetzen weggeworfen.

Der Schalterbeamte sagte etwas auf Schwedisch, und Wilbur zuckte mit den Schultern und antwortete:»English?«Der Mann schüttelte den Kopf, zeichnete einen Plan auf ein Blatt Papier, schien dem Gewirr aus Linien, Kreuzen und Pfeilen nach einer Weile selber nicht mehr folgen zu können, zerknüllte das Papier und lächelte beschämt. Dann rief er einen Namen durch die offene Tür hinter sich, worauf eine junge Frau mit einem Stapel Briefen in den Händen erschien. Der Mann sagte etwas zu ihr, aus dem Wilbur nur den Namen seines Vaters heraushörte. Die Frau sah Wilbur an, legte die Briefe in ein Regal, schlüpfte unter einer Klappe in der Theke durch und ergriff Wilburs Hand.

Das Haus war in einem blassen Türkis gestrichen und stand zwischen anderen eingeklemmt in einer Straße, die für den Autoverkehr gesperrt war und deren Belag alle paar Meter wechselte, von Asphalt zu Teer, von Naturstein zu Kies und wieder zu Asphalt. Neben einem Haufen Steine stand eine mit Sand gefüllte Schubkarre, in der Zigarettenkippen steckten. Ein paar Schilder, die auf eine Baustelle hinwiesen, lehnten an einer Mauer, ein löchriger Handschuh zierte das Ende eines Schaufelstiels. Die junge Frau sprach ein verkümmertes Schulenglisch und war neben ihm hergegangen wie eine schüchterne Fremdenführerin, die sich für den fehlenden Unterhaltungswert ihrer Tour schämt. Jetzt zeigte sie auf das Haus und sprach den Namen von Wilburs Vater aus. Dann sagte sie etwas, das Wilbur nicht richtig verstand, wiederholte es leicht verändert und lächelte, als Wilbur nickte, obwohl er auch den Sinn der zweiten Aussage nicht begriff. Sie sah ihn an, bis er noch einmal nickte, dann trat sie vor die Tür und drückte auf den Klingelknopf. Das Schrillen ging Wilbur durch Mark und Bein, und wie schon mehrmals zuvor an diesem Tag, verschlug ihm die Angst vor dem Wiedersehen mit seinem Vater fast den Atem. Er schwitzte, und die Tasche erschien ihm plötzlich so schwer, dass er sie zwischen seine Füße auf den Boden stellte. Während sie warteten, las Wilbur den Namen auf dem Türschild und war erstaunt, ihn als Nordahl zu entziffern. Bevor er fragen konnte, wurde die Tür geöffnet.

Der Mann, der vor ihm stand, war groß und breit und hatte rotbraunes, dichtes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen Bart in derselben Farbe. Er trug ein altes Paar Jeans und über einem weißen T-Shirt ein kariertes Hemd, das nicht zugeknöpft war und über die Hose hing. Er hatte einen runden Kopf und große Hände und war nie im Leben Lennard Arne Sandberg. Die junge Frau und er wechselten ein paar Sätze, dann verabschiedete sich Wilburs Führerin und ging die lange Baustelle entlang zurück zur Post. Der Mann sah Wilbur mit einer Mischung aus Verwunderung, Skepsis und Freude an, wie jemand, der vor seiner Haustür eine mit einer Geschenkschleife verzierte skurrile Skulptur findet. Er trat zur Seite, machte eine ausholende Armbewegung ins Dunkel des Flurs und bat Wilbur in beinahe akzentfreiem Englisch herein. Wilbur zögerte, doch dann folgte er dem Mann ins Haus und zuckte nicht einmal zusammen, als sich hinter ihm die Tür schloss.

Sune Nordahl war mit Lennard Sandberg zur Schule gegangen. Er war ein schlechter Schüler gewesen, Lennard einer der besten. Seine Familie war arm, die seines Freundes zwar nicht reich, aber dank des gutgehenden Eisenwarenladens frei von finanziellen Sorgen. Lennard schenkte seine Pausenbrote, hartgekochten Eier, Kuchenstücke und Äpfel dem ewig hungrigen Freund, dessen Körper in die Höhe und Breite wachsen wollte und der Nahrung verschlang wie ein Heizkessel Kohle. Zu Hause wurde Lennard gezwungen, seinen gefüllten Teller leer zu essen, und er tat es unter großen Anstrengungen. Dennoch blieb er mager und farblos, und weder drei tägliche Löffel Lebertran noch literweise frische Ziegenmilch vermochten daran etwas zu ändern.

Lennards Mutter Selma, eine kleine, stämmige Frau, die sich als Bauernkind mit fünf Geschwistern um Brot und Butter gebalgt hatte, war es ein Rätsel, weshalb ihr Sohn nicht endlich Pfunde zulegte und eine Haut bekam, die nicht aussah wie das Gänseschmalz, das sie ihm auf die Frühstücksbrote schmierte. Dann fiel ihr Blick auf ihren großen, schlaksigen Mann mit der hellen, von Sommersprossen und Leberflecken gesprenkelten Haut, und sie wusste, wen die Schuld traf.

Magnus Sandberg musste in alten Häusern den Kopf einziehen, wenn er unter einer Tür durchging, und sein hageres Gesicht lag unter einem Bart verborgen, dessen Üppigkeit an die Schwarzweißbilder der Gründer von Nora erinnerte. Seine Finger waren lang und von winzigen Schnitten und Kratzern übersät, und wenn er, ohne auf einen Schemel zu steigen, eine Schraube aus einer der obersten Schubladen nahm, sahen sie aus wie Insektenbeine, die eine Beute festhalten.

Lennard wählte Sune zum Freund, weil er jemanden brauchte, der ihm die Rüpel vom Leib hielt, die geheime Welt der Mädchen eröffnete und an den schulfreien Nachmittagen Orte zeigte, die auf Lennards Karte weiße Flecken waren. Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendwer sein Freund sein wollte, verlangte er alle paar Wochen eine Art Treueschwur, und einmal musste Sune sich Lennards Initialen mit einem Taschenmesser in die Handfläche ritzen, bevor er sein Wurstbrot und den Apfel bekam. Sune hatte nichts gegen diese Beweisrituale, solange er nicht mit leerem Bauch im Unterricht saß. An das kurz aufblitzende Gefühl von Scham, das ihn beim Verschlingen von Lennards Essen befiel, hatte er sich schon lange gewöhnt. Diese kleine Erniedrigung war besser, als den Spott der Mitschüler zu ertragen, wenn er das Klassenzimmer mit den gurgelnden Geräuschen seines unterbeschäftigten Magens füllte.

Sein Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann, der als Gehilfe des Dorfschmieds gearbeitet hatte. Nach dessen Tod fuhr ein neuer Schmied aus Karlskoga mit seinem Lieferwagen zu den Höfen, und Sunes Vater nahm Aushilfsarbeiten an, die nie lange dauerten. Die Leute legten ihm sein Schweigen als Unfreundlichkeit aus, und als jemand das Gerücht verbreitete, er sei ein Wilderer und Dieb, der den Bauern neugeborene Lämmer von der Weide holte, wollte ihn niemand mehr beschäftigen. Er begann aus Holz Figuren zu schnitzen, Einhörner und Waldwesen, gebückte Trolle, denen er ein Stückchen Katzengold in die Hände legte, und Gnome mit Spitzhüten, die einen Kessel voll lackierter Flusssteinchen umschlangen. Oft saß er tagelang im Schuppen neben dem Haus und verließ ihn nur, um mit dem Bus nach Örebro zu fahren, wo er sein Monatswerk an einen Laden verkaufte.

Sunes Mutter hatte Heimweh nach Finnland, woher sie stammte, und jedes Jahr an ihrem Geburtstag stand sie mit zwei gepackten Koffern im Hausflur, schwankend unter dem Einfluss von Alkohol, Schuldgefühlen und einer verbrauchten Euphorie, die in ihr schwelte wie die Reste eines sich selbst überlassenen Feuers. Nachdem sie mehrere Stunden lang geweint und die Tür angestarrt hatte, als würde diese sich gleich öffnen und ihr Vater sie bei der Hand nehmen und nach Hause führen, ging sie ins Schlafzimmer, räumte ihre Sachen zurück in den Schrank, legte sich aufs Bett und verschlief ein weiteres Jahr.

Henrik, einer von Lennards Onkeln mütterlicherseits, lebte seit fast zwanzig Jahren in Philadelphia, wo er und seine Frau Katarina mit einer Reinigungsfirma zu beträchtlichem Wohlstand gekommen waren. Weil die beiden keine eigenen Kinder haben konnten, behandelten sie Lennard, den sie während eines Heimatbesuchs als Dreijährigen gesehen hatten, wie ihren Sohn, und an seinem achtzehnten Geburtstag luden sie ihn ein, sie zu besuchen. Damals arbeitete Lennard seit zwei Jahren im elterlichen Geschäft, das er einmal übernehmen sollte, und Sune half im Lager aus, erledigte Botengänge und kehrte jeden Feierabend den Boden des Ladens und den Gehsteig davor.

Lennards Eltern fanden keinen Gefallen an der Idee, ihren Sohn in ein Land reisen zu lassen, das so weit weg lag, sich in einem Krieg befand und außerdem Keimzelle der verstörenden Musik war, die manchmal aus Sunes Transistorradio durch die Tür des Lagerraums drang. Aber Lennard ließ sich die Möglichkeit, der Enge Noras und der Ereignislosigkeit Västmanlands zu entfliehen, nicht entgehen, und er nahm das Geld des Onkels, kaufte damit statt eines Flugtickets zwei Karten für eine Überfahrt auf dem Schiff und schleppte Sune mit wie ein schweres Stück Gepäck.

Philadelphia war riesig, laut und schmutzig, und es war großartig in den Augen der beiden Jungen vom Land, die sich in der Stadt bewegten wie Astronauten auf einem fremden Stern. Lennard, dessen Entschluss, in Amerika zu bleiben, bereits nach wenigen Wochen feststand, ließ sich von Onkel Henrik in die wunderbare Welt der Buchhaltung einführen, während Sune mit einem der fünf Putztrupps loszog, um Büroböden zu polieren und von Schaufenstern in der Innenstadt schwarzen Ruß zu waschen. In seiner Freizeit fuhr Lennard mit Onkel Henrik und Tante Katarina im silbernen Lincoln durch die Stadt, ging mit ihnen ins Planetarium, in Museen und an historische Orte, und mit jeder Sehenswürdigkeit, die ihm mit schwedisch-amerikanischem Stolz vorgeführt wurde, schwanden seine Erinnerung an die alte Heimat und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.

In langen Briefen nach Hause pries er Philadelphia und sein neues Leben mit Worten, die seine Eltern im Lexikon nachschlagen mussten, um sie zu verstehen. Am Telefon malte er die Bilder der kommenden Jahre so fiebrig, dass sein Vater die Bemühungen, ihn für die Weiterführung des Eisenwarenladens zu gewinnen, bald aufgab. Seine Mutter hielt die Hoffnung noch eine Weile aufrecht, aber wenn ihr Sohn vom baldigen Kauf eines gebrauchten Wagens oder der geplanten Beantragung einer Arbeitserlaubnis erzählte, wurde auch sie stumm und brach nach dem Auflegen in Tränen aus.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis seine Eltern Lennards Entscheidung als unwiderruflich akzeptierten, und auch dann fehlte ihnen das Verständnis, sie zu billigen. In ihren Augen hatte sich ihr Sohn des Verrats schuldig gemacht. Aus einer jugendlichen Laune heraus und aufgewiegelt von rebellischer Musik, kehrte er der Familie den Rücken und gab eine gesicherte Zukunft in der Heimat auf, um fernab seiner Wurzeln fragwürdigen Träumen nachzujagen. Sie waren so enttäuscht und verbittert, dass sie die Briefe aus Philadelphia weder lasen noch beantworteten und bei den immer spärlicher werdenden Anrufen ihres Sohnes nur noch einsilbig bestätigten, am Leben zu sein. Schließlich legten sie wortlos auf, wenn Lennard sich meldete. Ihr einziger Sohn war für sie gestorben, ebenso Henrik und Katarina, die an allem die Schuld trugen.

Sune, der mietfrei über der Garage neben dem Haus wohnte, lebte sein eigenes Leben. Nach der Arbeit trank er bisweilen ein Bier mit den Kollegen, von denen alle, bis auf zwei schwermütige Brüder aus Iowa, mexikanische Einwanderer waren. Bei schönem Wetter setzte er sich an den Abenden in einen Park und sah den Softballspielen zu, einer familientauglichen Version von Baseball, deren Regeln für ihn so rätselhaft waren wie die des Originals. An den Wochenenden kam es gelegentlich vor, dass er und Lennard gemeinsam etwas unternahmen, im Bus und in der U-Bahn herumfuhren, ins Kino gingen oder in eine der Bars, wo man Frauen, die sich auf der Bühne auszogen, Dollarnoten ins Höschen stecken konnte. Sie sahen sich die Villen reicher Leute an, saßen an verregneten Nachmittagen in Dauervorstellungen alter Filme, witzelten verlegen über die künstlichen Brüste der Stripperinnen, waren nach drei Gläsern Bier betrunken und redeten von der Zukunft und Musik und Autos, wurden an der Luft wieder nüchtern und gingen schweigend nebeneinander her und merkten, dass sie sich allmählich aus den Augen verloren und keiner von ihnen die Energie aufzubringen bereit war, diesen Prozess anzuhalten.

Sune war nicht mehr von Lennard abhängig, er verdiente genug, um den kleinen Kühlschrank unter dem Garagendach zu füllen und in einem Billiglokal an einem Abend mehr zu essen, als seine Mutter ihm in einem ganzen Monat gekocht hatte. In Schweden hatte die beiden Kinder ein Bündnis zusammengehalten, das auf dem Tausch von Essen gegen Schutz und Ausflüge in unbekannte Welten beruhte, doch hier war alles anders, und ihnen wurde immer stärker bewusst, dass eigentlich nichts sie verband, nicht einmal Freundschaft.

Kein Jahr nach seiner Ankunft in Amerika wurde Sune während der Arbeit in einem Fitnesscenter verhaftet. Er wischte gerade den Boden in einem der Umkleideräume, als die Männer der Einwanderungsbehörde hereinstürmten wie Schuljungs nach der Turnstunde. In der Abschiebehaft durfte er einen Anruf tätigen und rief Lennard an, weil ihm sonst niemand einfiel. Lennard wollte seinen Onkel dazu bringen, einen Anwalt einzuschalten, aber Sune redete es ihm aus, wünschte ihm viel Glück und legte auf. Am folgenden Tag wurde er in eine Maschine gesetzt, die ihn nach New York brachte, dann in eine mit dem Ziel Stockholm. Sune war über seine Abschiebung nicht unglücklich. Er hatte nie vorgehabt, in Amerika zu bleiben, und in manchen Nächten, während derer er schlaflos in seinem Bett lag und unter ihm der abkühlende Motor des Lincoln knackte, dachte er an Nora und vermisste es. Er hatte Sehnsucht nach den endlosen Feldern, der Stille, die nur vom Schlagen der Kirchturmglocken gestört wurde, nach den Seen, die in seinen Kindertagen Meere gewesen und später zu langweiligen Tümpeln verkommen waren, und er hatte sogar Sehnsucht nach seinen Eltern. Seine Mutter lebte inzwischen wieder in Finnland. Ihr Vater, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte, war einen Monat nach Sunes Abreise gestorben, und sie war von der Beerdigung nicht zurückgekehrt.

Sunes Vater schnitzte noch immer Fabeltiere und Trolle, und er weinte, als sein Sohn an einem warmen Oktoberabend in den Schuppen trat. Lennards Eltern gaben Sune seine alte Arbeit im Lagerraum zurück, und als immer mehr gesundheitliche Probleme sie plagten, stand er unversehens in einer blauen Schürze hinter dem Tresen und bediente die Kundschaft, während sein Vater nebenan neue Lieferungen auspackte und einräumte und das Schnitzen auf die Wochenenden verlegte.


Marklund’s Marvellous Cleaners hatte bereits einige Jahre zuvor wegen einer Handvoll illegal arbeitender Mexikaner Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt, und Sunes Verhaftung schadete der Firma nur deshalb nicht, weil Henrik inzwischen ein angesehener Bürger und pünktlicher Steuerzahler war und zudem ein paar der richtigen Leute kannte. Er war Sponsor der Jugendbibliothek, der Seniorentanzhalle und der Tierauffangstation, war Vizepräsident des Millpark Country Clubs und im Vorstand des Vereins zur Erhaltung historischer Gebäude. Dass seine Putztrupps unentgeltlich die Reinigung von Räumlichkeiten mehrerer gemeinnütziger Organisationen übernahmen, war die weniger reumütige als existenzerhaltende Konsequenz aus der Schwarzarbeiter affäre gewesen und half der Firma jetzt erneut im Kampf um Pluspunkte bei den Behörden.

Als Henrik vorgeladen wurde, versicherte er den Beamten recht glaubhaft, dass Sune nicht wirklich für ihn gearbeitet, sondern lediglich ab und zu eingesprungen sei, wenn Not am Mann war. Sune Nordahl sei ein stolzer junger Mann und habe auf dieser Hilfe bestanden, als Gegenleistung für Unterkunft und Verpflegung und als Dank für die Möglichkeit, im christlichen, von Fleiß und Landesliebe geprägten Familienverband der Marklunds ein aufrechter Amerikaner zu werden. Die Tatsache, dass Sunes Touristenvisum seit mehr als acht Monaten abgelaufen war, konnte Henrik zwar nicht widerlegen, er schaffte sie aber diskret aus der Welt, indem er größere Summen an ausgesuchte leitende Beamte bezahlte, die sich ihrem Berufsethos weniger verpflichtet fühlten als den Wünschen ihrer anspruchsvollen Frauen und Geliebten.

Mit diesen Zuwendungen war der geheime Fonds für Notfälle der Firma Marklund ebenso erschöpft wie Henriks kriminelles Potential. Noch immer erleichtert darüber, dass es statt Lennard den ambitionslosen Sune getroffen hatte, hörte er auf seinen Anwalt, der ihm riet, den Neffen eine Weile von der Firma fernzuhalten, um dessen Chancen auf eine Green Card nicht zu gefährden. Lennard wurde für drei Monate nach Vancouver geschickt, wo er morgens auf einem geliehenen Fahrrad die Stadt erkundete und nachmittags in einer Schule für Ausländer sein Englisch perfektionierte. Nach seiner Rückkehr aus Kanada absolvierte er einen Test, und dank der Tatsache, dass er eingebürgerte Verwandte in Amerika hatte, die ihm einen Job in ihrer Firma anboten, erhielt er kaum sechs Wochen später eine offizielle Aufenthaltsbewilligung.

Jetzt, da die Gefahr der Entdeckung gebannt war, stürzte Lennard sich mit doppelter Hingabe in die Arbeit. Sein Englisch war so gut, dass er mit dem Steuerberater diskutieren, mit Kunden verhandeln und unter Henriks staunenden Blicken den Lieferanten von Reinigungsmitteln bessere Konditionen abringen konnte. Er kam morgens als erster ins Büro und verließ es abends als letzter. Wenn es nötig war, arbeitete er an den Wochenenden und behauptete Henrik gegenüber, das Wort Urlaub habe man ihm in Kanada nicht beigebracht. Er reparierte den Fotokopierer und strich die Wände seines Büros neu, er übersetzte die Gebrauchsanweisung einer Poliermaschine vom Englischen ins Spanische, damit die Putzkolonnen die teure Neuanschaffung nicht ruinierten, er erfand griffige Werbeslogans, holte Aufträge herein und steigerte den Umsatz um fünfundzwanzig Prozent. Onkel Henrik liebte ihn dafür so sehr, dass er Visitenkarten drucken ließ, auf denen, unter dem Firmenlogo und in Prägeschrift, LENNARD A. SANDBERG VICE PRESIDENT stand.

Alles lief wunderbar, der Junge aus Nora träumte den amerikanischen Traum mit offenen Augen, die Welt gehörte ihm.

Nur Tante Katarina spürte, dass Lennard etwas fehlte. Und sie wusste auch genau, was es war. Die Frau, die sie für ihren Neffen aussuchte, war die Tochter eines Zahnarztes und einer Immobilienmaklerin, ein Jahr älter als Lennard und hübsch genug, dass ihr reiches Elternhaus nicht als Entschädigung herhalten musste. Sie hieß Deborah Shuler und studierte Betriebswissenschaften und Politik an der University of Philadelphia. Tante Katarina arrangierte ein Essen in einem der besten Restaurants der Stadt, und sie ließ es Lennard gegenüber so aussehen, als treffe man Frank und Audrey Shuler und deren Tochter rein zufällig. Deborah war nett und intelligent und nach dem dritten Glas Wein sogar gelegentlich witzig, und Lennard schien ihren Ausführungen zur aktuellen Wirtschaftslage und dem Krieg in Vietnam aufmerksam zu lauschen. Tante Katarina und Onkel Henrik und die Shulers beobachteten mit Wohlgefallen, wie gut sich die beiden unterhielten.

Lennard verliebte sich an diesem Abend tatsächlich. Nur war es nicht Deborah Shuler, an die er sein Herz verlor, sondern eine irische Kellnerin namens Maureen McDermott. Die zierliche Frau mit dem braunen, von mehreren Spangen und Klammern gebändigten Haar und dem Make-up, das aussah, als sei es in aller Eile und ohne große Sachkenntnis aufgetragen worden, betrat den Speisesaal nur ein einziges Mal, um ihrer Kollegin beim Abräumen zu helfen, brachte es dabei aber fertig, mit einem Stapel Teller in den Armen über Deborahs Handtasche zu stolpern, im Fallen einen lauten Fluch auszustoßen und der Länge nach hinzuschlagen. Nach einer Schrecksekunde, während der die Kellnerin sich aufgerappelt hatte, bemühten sich die Marklunds und Shulers peinlich berührt, dem Missgeschick und den Blicken der anderen Gäste keine weitere Beachtung zu schenken, und nahmen das Gespräch über die bemannte Raumfahrt wieder auf, wobei sich vor allem Henrik und Frank ins Zeug legten. Nur Lennard konnte es nicht lassen, immer wieder nach der Frau zu schielen, die neben ihm kauerte, schmutzige Teller einsammelte und mit einer Stoffserviette die Soßenflecken auf dem Teppichboden verrieb.

Lennard hatte sich in seinem Leben schon mehrmals verliebt, angefangen in der ersten Klasse, als Anna Linderoth ihm den Kopf verdrehte, aber noch nie zuvor war er von der Nähe eines weiblichen Wesens so in innere Aufruhr versetzt worden wie an diesem Abend. Das wunderbare Geschöpf wollte gerade die Teller in die Küche tragen, als Deborah einen Fleck auf ihrer Handtasche entdeckte. Der Soßenspritzer wurde von allen am Tisch begutachtet und dann der Kellnerin unter die Nase gehalten. Maureen entschuldigte sich und streckte die Hand mit der Serviette aus, aber Deborah zog die Tasche entsetzt zurück und presste sie an die Brust. Der Geschäftsführer, dem die Aufregung im Speisesaal nicht entgangen war, kam herbei und wurde von Audrey Shuler über den Fall ins Bild gesetzt. Nachdem er den Fleck auf der Handtasche inspiziert hatte, als handle es sich um ein Einschussloch, versicherte er Deborah, das Restaurant werde für den Schaden aufkommen. Zudem bot er an, Nachtisch und Kaffee auf Kosten des Hauses servieren zu lassen.

Damit wäre die Sache erledigt gewesen, hätte Maureen nicht mit der trotzigen Stimme eines zu Unrecht getadelten Mädchens gemurmelt, die verfluchte Tasche habe im Weg gestanden, weshalb die verdammte Schuld nicht bei ihr, sondern bei der eingebildeten Zicke liege. Deborah und ihre Eltern waren über diese unflätige Bemerkung fassungslos, und der Geschäftsführer verlangte von Maureen eine Entschuldigung. Aber die Frau, die mittlerweile zum Zentrum des allgemeinen Interesses geworden war, dachte nicht im Traum daran und verwies auf ihren Knöchel, den sie sich beim Sturz verknackst hatte. Der Geschäftsführer, ein in Frack gekleideter, graumelierter Mittfünfziger, stand erst völlig entgeistert da und lächelte dann wie ein Vater, dessen Kind statt der Weihnachtsgeschichte einen zotigen Witz erzählt hat, fasste sich schließlich und schob Maureen, die zu diesem Zeitpunkt bereits keine Kellnerin mehr war, eilig aus dem Saal. Wenig später ertönte aus einem entfernten Raum, der die Küche sein musste, ein lautes Klirren, das sich nach dem Zerbrechen etlicher Teller anhörte, und während alle am Tisch empört tuschelten und den Kopf schüttelten, wusste Lennard, dass er die Frau seines Lebens gefunden hatte.

Am nächsten Tag fuhr Lennard in seinem gebrauchten goldfarbenen Buick Skylark, den er eine Woche zuvor gekauft hatte, zu dem Restaurant und schaffte es, durch eine der Küchenhilfen Maureens Adresse herauszufinden. Sie wohnte in einem Zweizimmerapartment in einem Viertel, durch das Lennard und Sune früher mit dem Bus gefahren waren und das seit Jahren in einem Zustand zwischen Vernachlässigung und Verfall stagnierte. Die von Abfall gesäumten Straßen waren voller Schlaglöcher, Ampeln funktionierten nicht, und Verkehrsschilder waren mit Farbe beschmiert. Trotzdem fuhren Autos, und alle paar Wochen tauchte ein städtisches Reinigungsfahrzeug oder ein Tankwagen voll flüssigen Teers auf und betrieb ein wenig Kosmetik. Die Häuser befanden sich teilweise in erbarmungswürdigem Zustand, und von den Lampen, die zwischen den Fassaden an Leitungen hingen, brannte nur jede dritte, aber es kam auch immer wieder vor, dass plötzlich und wie durch ein Wunder Löcher verputzt, Mauern neu gestrichen und Glühbirnen ausgewechselt wurden.

Maureens Wohnung lag über einem Geschäft, dessen einzige Schaufensterscheibe mit Packpapier abgedeckt war und vor dem es sich ein streunender Hund bequem gemacht hatte. Es erstaunte Lennard, dass in einer solchen Gegend die Tür zum Treppenhaus nicht abgesperrt war und jeder, der wollte, den dunklen Flur betreten konnte. Was ihn nicht verwunderte, waren die defekte Klingel und das Fehlen einer Gegensprechanlage, doch er war froh über diese technische Rückständigkeit, denn noch während er die Stufen emporstieg, wusste er nicht, wie er die Frage, was er wolle, beantworten sollte.

«Weißt du, was er gesagt hat?«fragte Sune und füllte Wilburs Glas erneut mit Limonade. Wilbur schüttelte den Kopf. Er saß in Sune Nordahls Küche und sog die Geschichte seiner Eltern auf wie ein vertrockneter Boden den Regen. Sune stand am Herd und kochte Abendessen. Wann immer die Pfannen und Töpfe es erlaubten, drehte Sune sich um und erzählte, als habe er jeden Satz, jede Wendung, jede Betonung und jede Pause jahrelang einstudiert und nur darauf gewartet, dass Wilbur von weit her kommen, sich hinsetzen und zuhören würde. Er stellte sich hin und spielte Lennard, der nach Jahren doch noch sein Freund geworden war, versteckte den Kochlöffel hinter dem Rücken und sagte zu Maureen, die die Wohnungstür geöffnet hatte und ihn mit einem Blick, in dem Wiedererkennen und Skepsis lagen, ansah:»Mein Name ist Lennard Arne Sandberg, und ich liebe Sie!«Sune streckte Wilbur den Kochlöffel entgegen wie einen Blumenstrauß, und als der Junge irritiert zurückwich, lachte er und stampfte mit dem Fuß auf.»Genau so hat deine Mutter auch reagiert!«

Sune erzählte gerade, dass Lennard ganze fünf Wochen brauchte, bevor er Maureen zum ersten Mal küssen durfte, als Ulrika hereinkam. Sie war beinahe so groß und breit wie Sune, und nach ihrem Eintreten war in der engen Küche kein Platz mehr. Sune stellte ihr Wilbur vor, der zwar froh war, dass ihm Details zum ersten Kuss seiner Eltern erspart blieben, aber dennoch darauf brannte zu erfahren, wie ihr gemeinsames Leben vor seiner verhängnisvollen Geburt weiter verlaufen war. Ulrika war Sunes Freundin und konnte, nachdem sie von Wilburs Suche nach dem Vater hörte, einen Tränenausbruch nur vermeiden, indem sie in holprigem Englisch etwas von vergessenen Einkäufen murmelte und aus der Küche floh. Nach einem Moment des Zögerns verwarf Sune den Gedanken, ihr zu folgen, und horchte lächelnd auf die schweren Schritte, die das hölzerne Treppenhaus erschütterten, und das dumpfe Schlagen der Haustür.»Frauen«, sagte er, und Wilbur nickte, als wisse er Bescheid.

Der Laden unter Maureens Wohnung gehörte Salvador Gustavo Onetti, einem vierundsiebzigjährigen Argentinier, der in den dreißiger Jahren mit seinen Eltern nach Philadelphia gekommen war, fünfzehn Jahre lang im Hafen gearbeitet und schließlich sein eigenes Geschäft eröffnet hatte. Der kleine glatzköpfige Mann mit Bauchansatz und einem Gesicht, das noch immer beinahe ungebührlich hübsch war, bewohnte mit seiner zwölf Jahre jüngeren, aus einer mexikanischen Einwandererfamilie stammenden Frau Sofia das Erdgeschoss des Hauses, in dessen vorderem Teil sich der inzwischen geschlossene Laden befand. Hinter dem ehemaligen Verkaufsraum lagen drei Zimmer, von denen das eine, die Küche, auf einen Innenhof ging, in den gerade genug Sonnenlicht fiel, dass Sofias Gemüse und die Blumen gedeihen konnten.

Lennard lernte das Ehepaar lange vor dem Tag kennen, an dem er Maureen zum ersten Mal küsste. Er hatte es als gutes Zeichen betrachtet, dass Maureen auch dann, als er sie fast täglich besuchte, viel Zeit mit den beiden verbrachte, denn Salvador und Sofia ließen keine Gelegenheit aus, liebevoll spöttische Bemerkungen über Lennards offensichtliche Verliebtheit und Maureens gespielte Gegenwehr zu machen. Zudem war das alte Paar der unumstößliche Beweis dafür, dass die Liebe tatsächlich die stärkste Macht der Welt war und dass die einzige Möglichkeit, ein glückliches Leben zu führen, darin bestand, es mit jemandem zu teilen.

Als der Laden noch geöffnet war, hatte Sofia darin Kunsthandwerk verkauft, Quilts, die sie selber nähte, Vasen, Kelche und Schalen aus ei ner Glasbläserei in Virginia, Silberschmuck aus Arizona, Teller, Tassen und Schüsseln aus einer mexikanischen Töpferei, Weidenkörbe, Tischsets aus Schilf, handgeschöpftes Papier und natürlich die Schalen, Truhen und Möbel aus Kirschbaum, Rosenholz, Eukalyptus und Zeder, die Salvador in seiner zwei Blocks entfernt liegenden Werkstatt hergestellt hatte. Mit dem langsamen Untergang des Quartiers waren auch immer weniger Kunden gekommen, und als Sofia fand, sie habe in ihrem Leben genug Stoffreste zu Tagesdecken verarbeitet, wurde ein Ausverkauf durchgeführt, ein Fest gefeiert und schließlich die Schaufensterscheibe mit braunem Papier verklebt. Das war über drei Jahre her, und der ehemalige Verkaufsraum diente den Onettis jetzt als Vorratskammer, Abstellraum und, unter Zuhilfenahme von Paravents und einem Klappbett, als Notunterkunft für Gäste, die entweder zu mittellos für ein Hotelzimmer oder zu betrunken zum Gehen waren.

Dass Salvador auch nach der Schließung des Ladens noch jeden Tag für mehrere Stunden in seine Werkstatt ging, wusste Lennard, aber was der alte Mann dort machte, erfuhr er erst bei einem Besuch in der ehemaligen Reifenfabrik, die, wenn es nach den halbherzigen Plänen der Stadtverwaltung gegangen wäre, schon seit Jahren hätte abgerissen werden sollen, um einem gutgemeinten und zu keiner Zeit auch nur annähernd finanzierten Projekt für Sozialwohnungen Platz zu machen. Die beiden Stockwerke des schmutziggrauen Klinkergebäudes waren in großzügige Einheiten unterteilt und an Künstler, Handwerker, Antiquitätenhändler und Leute mit Modelleisenbahnen und außer Kontrolle geratenen Bierdeckelsammlungen vermietet.

Lennard hatte erwartet, in Salvadors Zelle knorrige Schalen und polierte Kommoden mit marmorgleichen Maserungen und kleine, nach Leinöl und Hustenbonbons riechende Truhen zu finden, wie der alte Mann sie früher für den Laden hergestellt hatte und mit denen die halbe Wohnung gefüllt war. Doch was sein Freund ihm an einem Nachmittag im September des Jahres 1972 zeigte, überraschte und überwältigte ihn dermaßen, dass er dieses Datum als dasjenige in Erinnerung behielt, an dem für ihn, einmal mehr, ein neues Leben begann.

Salvador baute in seiner fensterlosen und beinahe schalldichten Werkstatt Musikinstrumente aus Holz. In seinen schmalen Händen entstanden Geigen und Bratschen und Violoncellos, ein bis zwei Stück pro Jahr, ohne Eile und mit der Hingabe und Sorgfalt eines Mannes, der die Welt um sich vor die Hunde gehen sah und dieser Tatsache etwas entgegenhalten wollte, das Schönheit besaß. Der Raum, in dem Salvador Gustavo Onetti der Zeit trotzte, war weiß gestrichen und mit ockerfarbenem Linoleum ausgelegt. Unter der Decke spannten sich Bahnen aus Tüll, die das kalte Licht der Neonlampen wärmten, und an den Wänden hingen zwei von Sofias Quilts, vergilbte Baupläne und Skizzen, eine schmutzige und fadenscheinige argentinische Flagge, ein großformatiges Ölbild, das eine Prärielandschaft mit Bisons jagenden Indianern auf Pferden zeigte, Fotos von Möbeln und Menschen, ein Fächer aus geflochtenem Bambus, ein Feuerlöscher und darüber der Fluchtplan für den Fall eines Brandes, ein grauer, mit Leimflecken verzierter Kittel an einem Haken und ein gelber Regenschirm.

Das alles sah Lennard aus den Augenwinkeln, aber was er wirklich und mit allen Sinnen wahrnahm, war der offene Rumpf eines Cellos, der auf dem massiven Arbeitstisch lag, die Werkzeuge, die anzufassen er noch nicht wagte, und die aus verschiedenen Holzarten gefertigten Teile, die darauf warteten, ein Ganzes zu ergeben, und von denen er noch nicht wusste, dass sie Schnecke und Wirbel und Sattel und Stachel genannt wurden. An diesem Abend ging Lennard in Maureens Wohnzimmer hin und her und erzählte ihr aufgeregt, dass er von Salvador lernen wolle, wie man Instrumente baute, und als er mit Maureen, die das Geschirr in die Küche tragen wollte, zusammenstieß und ihr die Teller zu Boden fielen wie einige Wochen zuvor im Restaurant, fasste er sich ein Herz, hielt mit beiden Händen ihren Kopf fest und küsste sie zum allerersten Mal. Er küsste sie richtig, nicht so, wie er damals Anna Linderoth geküsst hatte oder später, mit fünfzehn, Eva Forsberg, deren Lippen trocken und versiegelt waren und ohne jede Magie. Er küsste Maureen McDermott wie ein Mann, der weiß, dass er nie mehr eine andere küssen wird. Dann öffnete er die Augen und wartete ab, was passieren würde. Maureen sah Lennard an, dessen Hände noch immer ihre Ohren bedeckten, als sollten sie verhindern, dass sie sein ängstliches und erregtes Keuchen hörte, und nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, fragte sie ruhig, ob er als Instrumentenbauer eine Familie ernähren könne.

Maureen hatte es mit dem Heiraten nie eilig gehabt. Die Ehe ihrer Eltern schien ihr eher zur Abschreckung denn zur Nachahmung geeignet. Dachte sie an ihre Kindheit, fiel ihr der Garten in Cork ein, der Seerosenteich und der riesige Himmel über ihr, wenn sie auf der Schaukel durch die Luft schwang. Sie hatte das Lachen ihrer Mutter in den Ohren, ihre Rufe, wenn es Zeit zum Essen oder Schlafen war. Dazwischen hörte sie die Vaterstimme, die für ihren tiefen Ton viel zu leise war und die kurzen, beinahe schüchternen Sätze kaum trug. Zusammen erklangen die beiden Stimmen nur selten, einsame Solisten, die, wenn es sein musste, gemeinsam probten, verhalten und disharmonisch und froh, wenn alles Nötige gesagt schien. Ein Baum, der die Wolken berührte, ein von geheimnisvollen Quellen warm gehaltenes Haus und ein Mann und eine Frau, die Verheiratetsein spielten, das war, woran Maureen dachte, wenn sie sich die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens in Erinnerung rief.

Dass sie der Grund sein könnte, weshalb ihre Eltern eine harmonische Ehe simulierten, ahnte Maureen schon als kleines Kind. Sie lachte und redete viel, tollte im Garten herum und polterte durch das Haus, aber gleichzeitig war sie eine aufmerksame Beobachterin, der kaum etwas entging. Ihr fröhliches, lärmendes Äußeres war nur Ablenkung, ein Tarnzelt, unter dem die Forscherin saß, neugierig, staunend und zunehmend besorgt. Was sie sah, waren seltsame Auswüchse der Liebe, Abarten der Treue, Imitationen des Glücks. Sie sah ihren Vater, dessen Präsenz das Haus erfüllte, ohne dass er wirklich vorhanden war, der tagelang in seinem Zimmer hockte und in den vergilbten Artikeln über den Untergang eines Schiffs verschwand, der selbst allmählich versank, schwer von einer Last, die niemand kannte, der plötzlich da war, wenn es verlangt wurde, der einen gebrochenen Arm betrauerte und gute Noten lobte, der einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer schleppte und an Maureens drittem Geburtstag die Tür zum Garten öffnete, wo angeleint ein junger Hund mit einer roten Schleife um den Hals saß.

Sie sah ihre Mutter, deren Schönheit nie verklingende Musik war, nie endender Sommer, die untragbare Kleider nähte und das Kochen aus Büchern lernte, die manchmal heimlich rauchte und weinte, die ohne Hilfe einen Zaun um den Gartenteich baute, die an Feiertagen Kerzen anzündete und Lieder sang und ihren Mann auf die Wange küsste, die sonntags zur Kirche ging, nicht an Wunder glaubte und nicht an die Veränderbarkeit des Schicksals und ihrer Tochter das Gegenteil predigte. Sie sah eine starke, einstmals lebensfrohe Frau, die den Eid, den sie vor dem Pfarrer, Gott und der Welt geleistet hatte, nicht brechen wollte und bei ihrem Mann blieb, auch nachdem sie sich die Sinnlosigkeit ihrer Ehe längst eingestanden hatte.

Mit einundzwanzig ging Maureen aus Irland weg. An einem Septembermorgen verließ sie ihre untröstliche Mutter, den altersschwachen Collie und den von Jahr zu Jahr schemenhafter werdenden Vater mit einer Erleichterung, die sie erschreckte. Orla hatte gewollt, dass ihre Tochter in Cork blieb und studierte, aber in Wirklichkeit ertrug sie den Gedanken nicht, mit Eamon alleine in dem großen Haus zurückzubleiben. Trotzdem kaufte sie das Flugticket nach Ontario, wo eine Cousine von ihr lebte, und besorgte genügend American-Express-Travellerschecks, um Maureen zwölf Monate komfortabel und vierundzwanzig in Bescheidenheit reisen zu lassen. Wenn das Geld aufgebraucht wäre, redete Orla sich ein, würde ihr Kind zurückkommen.

Während des ersten Sommers durchstreifte Maureen Kanada, im Winter arbeitete sie in Mexiko als Zimmermädchen. Sie hatte einen Liebhaber in Montreal und einen in Acapulco, vor Aufregung japsende Bürschchen, deren erhitzte Gesichter sie vergessen hatte, kaum saß sie im Bus. Ihr Herz war ungebunden, ihr Gepäck leicht, und ihre Ziele suchte sie sich so willkürlich aus wie die Gelegenheitsarbeiten, mit denen sie sich über Wasser hielt, nachdem der letzte Scheck eingelöst war. In Miami kellnerte sie auf einem Ausflugsboot, in Chicago saß sie an der Kasse eines Supermarkts, Baltimore erschien ihr so trist wie ihr Job als Putzfrau, und aus Washington floh sie vor einem Mann, der ihr Boss in einem Souvenirladen war und sie heiraten wollte. Sie lebte ein halbes Jahr im mexikanischen Monterrey an der Grenze zu Texas und danach ein halbes in Charleston, South Carolina, hatte eine Affäre mit einem Mathematikprofessor, der für sie seine Frau sitzenließ, beteiligte sich an der jährlichen Green-Card-Verlosung und hatte Glück. Weil ihr der Name gefiel, ging sie nach Philadelphia, wo sie als Schuhverkäuferin, Telefonistin und schließlich Kellnerin arbeitete und Lennard Arne Sandberg begegnete.

Henrik und Katarina waren von Lennards Plänen alles andere als begeistert. Dass er sich in diese rotzfreche irische Kellnerin verguckt hatte, wollten sie ihm noch als Flausen eines in romantischen Angelegenheiten unerfahrenen Jungen durchgehen lassen, die sich im rauhen Klima der Realität bald verflüchtigen würden. Aber seine Absicht, der Firma Marklund und einer blendenden Karriere den Rücken zu kehren, lasteten sie ihm an wie ein Verbrechen gegen die Familie, gegen ihre Ideale und gegen das ganze Land, dem er so viel zu verdanken hatte. In Gesprächen und schließlich einem langen Brief versuchte Lennard den beiden verständlich zu machen, wie groß seine Liebe zu dieser Frau und wie unumstößlich sein Entschluss war, sie zu heiraten und fortan Cellos zu bauen. Doch Henrik und Katarina hatten für diese Absichtserklärungen, die in ihren Ohren wie Süßholzgeraspel eines hormonell überschwemmten dummen Burschen klangen, keinerlei Verständnis, und als sie begriffen, dass es ihm ernst war, warfen sie ihn aus dem Haus und der Firma und verstießen ihn aus ihrer Sippe.

Lennard und Maureen warteten bis zum Mai des nächsten Jahres, dann gaben sie sich das Jawort in einer weiß gestrichenen presbyterianischen Holzkirche in Cedar Hollow. Salvador und Sofia waren die Trauzeugen, eine alte Dame spielte den mit kaum wahrnehmbar falschen Tönen durchwobenen Hochzeitsmarsch auf der Orgel, und ein kleines Mädchen, das im Schatten der Kirche einsam Gummitwist getanzt hatte und dem Lennard einen Dollar gab, verstreute die mitgebrachten Blumen, als das Brautpaar zu seinem Auto ging, einem dunkelbraunen, Zweckdienlichkeit ausstrahlenden Volvo, den Lennard gegen den Buick eingetauscht hatte.

Sofia hatte einen Fotoapparat, mit dem sie den Tag festhielt, und wenn sie durch den Sucher sah, bemerkte sie in Lennards Augen eine Spur Wehmut, die kein Kuss seiner Frau und kein Bitte lächeln ganz zum Verschwinden bringen konnte. Lennards Eltern waren in Schweden, und an diesem Tag vermisste er sie schrecklich. Drei Monate vor der Hochzeit hatte er sie angerufen, um sie einzuladen, aber die beiden ließen sich weder dazu bewegen, zu kommen, noch ihrem Sohn zu vergeben.

Maureen hingegen strahlte auf jedem Bild reine Glückseligkeit aus. Sie lachte und scherzte und warf der Kamera Kusshände zu, sie umarmte den verdutzten Pfarrer und schwang das Mädchen durch die Luft, bis es kreischte. Sie hatte nie heiraten wollen, und wenn doch, dann frühestens mit dreißig. Jetzt war sie fünfundzwanzig und konnte sich nichts anderes mehr vorstellen, als mit Lennard den Rest ihres Lebens zu verbringen. Gedanken an die Ehe ihrer Eltern wischte sie weg in der Gewissheit, dass sie und ihr Mann es anders machen würden, besser. Einmal im Monat rief sie zu Hause an und hielt ihre Mutter über ihr Leben auf dem laufenden. Obwohl sie mittlerweile seit mehr als zwei Jahren in Philadelphia wohnte, erzählte sie Orla, sie sei noch immer auf Reisen, auf der Suche nach dem richtigen Ort, dem richtigen Job und deshalb telefonisch nicht erreichbar.

Sie hasste es, ihre Mutter zu belügen, aber nur so schien es ihr vermeidbar, dass diese plötzlich bei ihr auftauchte, im Schlepptau Eamon, den zu verlassen Orla sich in einer Mischung aus Loyalität, schlechtem Gewissen und Fatalismus nach wie vor weigerte. So unbegreiflich für Maureen die Aufopferung ihrer Mutter war, so wenig verstand Orla, weshalb ihre Tochter wie eine heimatlose Seele durch Amerika flirrte. Alle paar Monate war Orla fest entschlossen herüberzukommen, aber dann erfand Maureen eilig eine neue Reise, eine neue Stelle, die ihr angeboten wurde, eine neue Wohnung, in die sie ziehen musste.

Als sie Lennard kennenlernte, war Maureen versucht, ihrer Mutter von dem Mann, den sie liebte, zu erzählen, aber als sie kurz davor war, verkaufte Eamon das Haus in Cork und zog mit seiner Frau in den Nordwesten, zurück in die Gegend, wo er aufgewachsen war, und von diesem Zeitpunkt an wurde Orla immer schweigsamer und schien die Absicht, ihre Tochter zu besuchen, bald vergessen zu haben. Maureen spürte, wie ihre Mutter unter dem Umzug litt, und als sie Lennard davon erzählte, schlug der vor, Orla solle eine Weile bei ihnen wohnen. Aber Maureen wollte warten, bis sie eine neue, größere Wohnung oder ein kleines Haus fanden oder sie schwanger war. Sie hatte Lennard nie vom Reichtum ihrer Eltern erzählt, nie erwähnt, wie einfach es wäre, sich Geld schenken zu lassen oder zu leihen, und sie tat es auch jetzt nicht. Orla schien noch immer darauf zu hoffen, dass ihr Kind in Amerika scheitern und reumütig nach Hause kommen würde. Aber Maureen hatte ihren Stolz. Sie wollte es ohne die finanzielle Hilfe ihrer Eltern schaffen, wollte ihrer Mutter ein ordentliches Gästezimmer bieten, einen erfolgreichen Mann präsentieren und ein wundervolles Enkelkind in die Arme legen.

Die Flitterwochen, die aus Geldmangel auf ein Wochenende gekürzt wurden, verbrachte das Paar in einem Familienhotel in Norristown, dessen mondänste Attraktion ein allabendlich in farbiges Licht getauchter Springbrunnen in der Empfangshalle war. Auf einem Schild wurden die Gäste darauf hingewiesen, dass das Werfen von Münzen in das Brunnenbecken zur Erfüllung eines Wunsches führen, die Hotelleitung jedoch nicht für unerfüllte Wünsche belangt werden könne. Lennard und Maureen ließen je einen Cent ins Regenbogenwasser fallen, und beide glaubten zu wissen, was der andere sich wünschte.

Über ein Jahr dauerte es, bis Lennard sein Cello baute, das erste, bei dem Salvador ihm nicht half, ihn nicht korrigierte und nicht einmal eingriff, wenn er einen Fehler machte. Aber Lennard machte keinen Fehler, und wenn doch, bemerkte er ihn rechtzeitig und behob ihn. Als das Instrument fertig war und einige Tage geruht hatte, bat Lennard Salvador, darauf zu spielen. Der Mann, der inzwischen ohne seine Brille völlig blind war und immer öfter vergaß, den Topf mit dem Holzleim zu schließen oder die Pinsel ins Glas mit Verdünner zu stellen, bevor der Lack aushärtete und sie unbrauchbar machte, setzte sich auf den Schemel, strich den mit Rosshaar bespannten Bogen leicht und mit geschlossenen Augen über die Saiten, drehte die Schrauben am Wirbelkasten, bis die Töne rein waren und warm und voll klagender Schönheit, drückte dann den Rücken durch und spielte. Er war kein besonders guter Cellist, und seine Finger, die in bald achtzig Jahren kaum einen Tag der Untätigkeit erlebt hatten, waren oft plump, wenn er sie flink, und kraftlos, wenn er sie stark haben wollte. Er kannte nur drei kurze Stücke, zwei von Brahms und eines von Bach, aber er legte so viel Herz in sein Spiel, dass die Abweichungen von der Perfektion nicht ins Gewicht fielen, die Missklänge untergingen im mächtigen Schall, der den Raum ausfüllte wie etwas Greifbares, und die Langsamkeit seiner störrischen Hände die Melodie dehnte, als wolle er sie mit Absicht nicht enden lassen.

In der Nacht des Tages, an dem Salvador zum ersten Mal auf Lennards Cello spielte, wurde das so lange ersehnte Kind gezeugt, das drei Monate später im Bauch seiner Mutter starb. Ein Wunder müsse geschehen, sagte der Arzt, wenn Maureen noch einmal schwanger werden sollte, und ein weiteres, wenn sie das Kind würde austragen können. Die magische Kraft der beiden Münzen, die vielleicht noch immer auf den bunten Fliesen des Hotelspringbrunnens lagen, war aufgebraucht, und nach einem Monat voller Schmerz und Wut richtete Maureen sich in ihrem beschädigten Leben neu ein, arbeitete wieder als Kellnerin und hörte nicht auf, an Wunder zu glauben.

Mit ihrer Mutter telefonierte Maureen nur noch selten, und wenn sie es tat, verkamen die Gespräche zu einem distanzierten Hin und Her von Belanglosigkeiten und Wiederholungen. Es war, als gäbe es eine geheime Abmachung zwischen den beiden Frauen, die es ihnen untersagte, über ihr Unglück zu sprechen. Statt von der Unmöglichkeit, mit Eamon dort oben zu leben, erzählte Orla von einem Garten, den sie trotz des rauhen Wetters anlegen wollte, von Spaziergängen am Strand und Möbeln, die sie sich aus Dublin liefern ließ, und Maureen erfand weiterhin Reisen quer durch das Land, leere Wohnungen und vielversprechende Arbeitsplätze. Irgendwann waren die Pausen, während derer Mutter und Tochter schweigend auf das leise Rauschen in der Leitung horchten, immer länger geworden, und schließlich beschränkte sich Maureen auf kurze Pflichtmeldungen alle paar Monate und eine Grußkarte zu Weihnachten und Orlas Geburtstag.

Lennard verkaufte das Cello an eine Musikschule in Boston, dessen Rektor ein guter Freund von Salvador war. Weil das Geld trotzdem immer knapp war und Maureen darauf beharrte, etwas zur Seite zu legen für das Kind, das sie irgendwann haben würden, nahm er eine Stelle in einer Schreinerei an, die sich auf die Restaurierung wertvoller Möbel spezialisiert hatte. Abends und an den Wochenenden baute er in der Werkstatt, deren Miete er inzwischen alleine bezahlte, Instrumente. Schon bald hatte ein Cello, das im dunklen Bauch den Sandberg-Schriftzug mit dem Notenschlüssel im ersten Buchstaben trug, einen guten Ruf als solides, zuverlässiges Instrument ohne Allüren, das vor allem Anfänger kauften und Leute, die kein Vermögen ausgeben konnten. Aber es gab auch Musiker, die den Klang und die Verarbeitung eines Sandberg-Cellos schätzten, insbesondere wenn Lennard wertvolles, gut gelagertes altes Holz verwendete, das Salvador über Jahrzehnte hinweg zusammengetragen hatte.

Als eine Cellistin, die in New York im Rahmen eines Festivals für Kammermusik auftrat, Lennard bat, zu kommen und sie auf seinem Instrument spielen zu hören, fuhren er und Maureen in Begleitung der Onettis mit dem Volvo los, ohne lange zu überlegen. Lennard und Maureen waren seit Jahren nicht über die Grenzen von Pennsylvania hinausgekommen, und die Onettis hatten das letzte Mal die Stadt verlassen, um als Trauzeugen zu fungieren. Sie stiegen in einem Hotel ab, das erschwinglich und trotzdem zumutbar war, gingen ihren Möglichkeiten entsprechend nobel essen und hörten sich am Abend das Konzert in einem Theater in Brooklyn an. Am nächsten Tag unternahmen sie einen Ausflug nach Liberty Island. Weder Lennard noch Maureen hatten die Freiheitsstatue zuvor gesehen, und Sofia füllte einen ganzen Film auf ihrer betagten Kamera. Nach dem Mittagessen waren Salvador und Sofia so müde, dass sie sich in einem Taxi zum Hotel bringen ließen. Lennard und Maureen nahmen die U-Bahn hinaus nach Coney Island, wo sie auf dem Riesenrad fuhren und am Strand spazierengingen. Auf einem Steg, der in die sanfte Brandung des Atlantik ragte, holte Maureen eine Streichholzschachtel voll Dimes und Quarters aus ihrer Handtasche, Münzen, die sie beim Wischen am Boden des Restaurants gefunden und zu Glücksbringern erklärt hatte. Dann nahm sie Lennards Hand, schloss die Augen und ließ die Geldstücke ins Wasser fallen.

«Sie hat die ganze Handvoll Münzen ins Wasser geworfen, und beide haben zugesehen, wie sie versanken«, sagte Sune. Von dem Essen, das er gekocht hatte, hatte Wilbur nicht viel gegessen. Der Topf mit den Nudeln stand in der Mitte des Tisches, und auf seiner Außenwand krümmte sich die Küche zu einem verzerrten, postkartengroßen Bild, in dessen Mitte Wilbur sein Gesicht als hellen Fleck erkannte.

«Und dabei hat sie sich dich gewünscht«, sagte Ulrika und strich Wilbur über den Kopf. Sie war rechtzeitig zum Essen zurückgekommen, mit Wein- und Sprudelflaschen und einer Schokoladentorte, von der Wilbur, überfüttert mit Geschichten, keinen Bissen hinunterbrachte.

«Ihr Wunsch ging in Erfüllung«, sagte Sune. Er lächelte, aber dann senkte er betreten den Blick, und sein Gesicht wurde ernst.

Ulrika sah Wilbur traurig an und legte ihre Hand auf seine.

Nachdem Sune den Abwasch gemacht hatte, rief er Pauline und Henry an. Wilbur hatte ihm die Telefonnummer nur widerwillig genannt, aber Sune und Ulrika hatten darauf bestanden. Pauline weinte, und als sie sich gefasst hatte, wollte sie mit Wilbur sprechen, aber Sune sagte ihr, der Junge schlafe schon. Auch ihren Vorschlag, Henry nach Schweden zu schicken, um den Jungen abzuholen, wehrte Sune diplomatisch ab, indem er versprach, Wilburs Rückflug zu organisieren. Sune bat sogar darum, Wilbur noch einen Tag hierzubehalten. Er wollte ihm den Ort zeigen und ihn seinen Großeltern vorstellen, und nach einigem Hin und Her gab Pauline nach und erlaubte es.

Im Wohnzimmer war das Sofa als Bett hergerichtet worden, in dem Wilbur schlafen sollte. An den Wänden des kleinen Raumes hingen Ulrikas Bilder mit Landschaften, Dorfszenen, Tieren, alle im Stil der naiven Malerei. Die Balken des Dachstocks knackten, in einem der Hinterhöfe bellte ein Hund. Wilbur lag da und sah an die Decke, an der Mondlicht haftete. Er konnte nicht schlafen, zu viele Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Er streckte die Hand aus und nahm die Fotografie vom Tisch, die Sune ihm gegeben hatte. Sie zeigte Lennard Sandberg vor einem Hauseingang stehend. Er trug eine weite helle Hose und ein dunkelblaues Hemd, und er hielt den Kopf leicht abgewandt. Hinter ihm fing sich Sonnenlicht im Rot einer Tür, auf die mit weißer Farbe die Zahl 73 gemalt war. Ein Stück der Hausmauer war zu sehen, am rechten Bildrand der hintere Teil eines Fahrrads neben einem Müllsack.

Wilburs Vater sah alt aus und müde, seine Augen waren schmal und lagen tief in dunklen Höhlen. Auf die Rückseite war ein Datum gekritzelt, aber die Jahre hatten die Tinte ausgebleicht und die Zahlen unleserlich werden lassen. Nach dem Abendessen hatte Sune ihm erzählt, er habe die Aufnahme im Winter 1991 erhalten, zusammen mit einem Brief aus New York. Im März 1993 sei ein zweiter Brief gekommen, das letzte Lebenszeichen von Lennard.

Wilburs Vater war nach dem Tod seiner Frau auf einem Frachtschiff nach Rotterdam gefahren und von dort aus nach Schweden. Beim Wiedersehen mit seinen Eltern fand nicht die erhoffte Aussprache und Versöhnung statt. Sein dürrer Vater, von einem verschwommenen Jugendtraum heimgesucht, baute in einer Scheune an einem Boot, das nie Wasser berühren würde, kauerte im Bauch eines wackligen Holzgerippes und wusste alles über Verantwortung und Treue, Pflicht und Verrat, aber nichts über Vergebung und Liebe. Die Mutter saß vor dem Fernseher und gab vor, ihren Jungen nicht zu kennen, und als Lennard den Apparat ausschaltete, fing die alte Frau an zu weinen und schreien, bis Nachbarn an die Fenster klopften und Lennard in sein ehemaliges Kinderzimmer floh, das noch so aussah wie am Tag seiner Abreise nach Amerika. Er legte sich auf das Bett, döste irgendwann für ein paar Stunden ein und verließ das Haus am frühen Morgen, bevor die Eltern wach waren. Müde und niedergeschlagen ging er durch den Ort seiner Kindheit, legte sich am See auf einen der Bootsstege und dachte an die Streifzüge mit Sune, an die verbotenen Plätze, die hellen Bäuche der betäubten Fische, die Augen der verrückten Bauerntochter, die für ein paar Öre ihre Brüste zeigte, an die Leiche des Jungen aus seiner Klasse, der an Blutvergiftung gestorben und aufgebahrt worden war, an das Gewicht des Messers, das Sune für ihn von einem Marktstand stehlen musste und das Lennard keine Stunde später in den See warf.

Als das Licht des aufsteigenden Tages den Himmel wölbte, schlief Lennard ein. Am Nachmittag setzte er sich in eine Kneipe, und am Abend stolperte er durch die Straßen und in Sunes offene Arme. Fünf Monate blieb Lennard bei seinem Freund, der damals alleine in einem Blockhaus im Wald wohnte, fuhr mit ihm zum Angeln auf den See hinaus, hackte Holz für den Winter und lief tagelang durch die Wälder, froh, niemandem zu begegnen. Dann hielt er den Gedanken an die tote Frau und das zurückgelassene Kind nicht mehr aus, fuhr auf einem Containerschiff nach Saint John und überquerte in einem Bus voller Wochenendausflügler aus New Brunswick die kanadisch-amerikanische Grenze. In New York angekommen, verließ ihn der Mut, seinen Sohn zu sehen, und er beschloss zu warten, bis er bereit dazu war.

Am nächsten Morgen fuhr Ulrika nach Örebro, um Wilburs Flugticket zu besorgen. Sune und Wilbur spazierten durch Nora, sahen sich das Haus an, in dem bis 1979 der Eisenwarenladen von Lennards Eltern untergebracht war, und machten dann auf Sunes Motorrad einen Ausflug aufs Land, wo Magnus und Selma Sandberg wohnten. Entgegen Ulrikas Rat hatte Sune Wilburs Großeltern nicht vorher angerufen, um den Besuch des Enkelkindes anzukündigen, und als er mit dem Jungen den Kiesweg zu dem blauen Holzhaus entlangging, befielen ihn leise Zweifel.

Dann stand plötzlich Magnus in Gummistiefeln und Gartenschürze vor ihm. Sune legte beide Hände auf Wilburs Schultern und stellte ihn dem alten Mann vor. Magnus Sandberg, der groß und dünn wie sein Sohn war, musterte Wilbur stumm. Auch Wilbur gab keinen Ton von sich, erwiderte den Blick seines Großvaters und überlegte, ob der Alte wohl so verrückt war wie Eamon McDermott, der stapelweise Hefte mit wirrem Zeug gefüllt hatte. Sune erzählte irgendetwas von Irland und einer langen Suche, aber weder der Junge noch Magnus hörten ihm zu. Schließlich stellte Magnus die leere Gießkanne auf den Boden, ging zur Haustür, zog umständlich die Stiefel aus und betrat in Socken den Flur. Er sagte nichts, aber weil er die Tür offen ließ, folgten ihm Sune und Wilbur.

Im Wohnzimmer saß Selma in einem Sessel und löste die Knoten eines Wollknäuels. Der Fernseher lief, John Wayne und ein Indianerhäuptling unterhielten sich auf Schwedisch. Magnus stellte sich schweigend neben seine Frau, und Sune erklärte noch einmal, wer Wilbur sei. Selma sah sich Wilbur an, nickte dabei träge und zupfte mit dürren, fleckigen Fingern am Garn. Sune, dem die Situation mit jeder Sekunde unangenehmer wurde, sagte, Wilbur habe den weiten Weg auf sich genommen, um seine Großeltern kennenzulernen, aber auch diese Lüge vermochte den beiden Alten keine Gemütsregung zu entlocken. Als der Film von Werbung unterbrochen wurde, packte Sune den Jungen am Arm und zog ihn wütend murmelnd mit sich hinaus. Er trat gegen das hölzerne Gartentor und einen Blumentopf, der zersprang, ließ den Motor der alten flaschengrünen Husqvarna aufheulen, bis ein Nachbar vor einem weit entfernten Haus erschien, und fuhr, nachdem Wilbur auf dem Sozius saß, mit durchdrehendem Hinterrad davon.

Nach dem Besuch war Sune am Boden zerstört. Er machte sich Vorwürfe und beteuerte, Magnus und Selma noch nie so erlebt zu haben. Er sei es gewohnt, dass die beiden sich in stumme Verschlossenheit kapselten, sobald er Lennard erwähne, aber dass sie ihren Enkelsohn wie einen Fremden, ja wie einen Feind behandelten, könne er nicht begreifen. Wilbur versicherte ihm, die Reaktion seiner Großeltern mache ihm nichts aus, doch erst als Ulrika mit dem Flugticket und Esswaren zurückkam, hellte sich Sunes Stimmung ein wenig auf. Weil schönes Wetter war, gingen sie zum See und legten sich auf eine Wiese. Sune meinte, Wilbur aufmuntern zu müssen, und erzählte, wie er Lennard das verbotene Fischen mit einer Autobatterie beigebracht hatte.

Doch Wilbur bedurfte keines Trostes. Dass das hässliche, sonderbar riechende Paar ihn nicht in die Arme geschlossen hatte, war ihm nur recht gewesen. Hätte diese bucklige Alte etwa Orla ersetzen sollen? Was hatte er überhaupt mit diesen Leuten zu tun? Nur weil sie verwandt waren, bedeutete das noch lange nicht, dass sie mehr als Gleichgültigkeit füreinander empfinden mussten. Wilbur konnte gut auf neue Großeltern verzichten. Wenn die beiden ihren Sohn damals nicht verstoßen hätten, wäre dieser nach dem Tod seiner Frau zu ihnen zurückgekehrt, statt im Chaos von New York City zu verschwinden. Er hätte sich eine Weile in seinem alten Kinderzimmer verkrochen und getrauert, und die Mutter hätte ihm seine Lieblingsspeisen gekocht, um seine Seele zu heilen. Dann, vielleicht nach einem Jahr, hätte er seinen Sohn zu sich geholt. Er wäre mit dem Jungen nach Irland gefahren, um ihn Orla und Eamon zu zeigen. Die Hügel, der weite Himmel und das Meer hätten ihm gefallen, und er wäre geblieben. Seine Eltern wären regelmäßig zu Besuch gekommen, und er und Wilbur hätten einmal im Jahr eine Reise nach Schweden gemacht. In Nora hätte Lennard seinem Sohn das Schwimmen beigebracht. Zu Hause wäre Wilbur von Felsen ins Meer gesprungen, Orla hätte applaudiert. Lennard hätte die Kiste mit dem Revolver gefunden, nicht die beiden Jungen. Conor hätte nicht auf seinen Vater geschossen. Orla wäre nicht verunglückt.

Alles wäre anders geworden.

«Wilbur?«Sunes Stimme summte in Wilburs Kopf.

«Lass ihn«, sagte Ulrika leise,»er schläft.«

Eine Kirchenglocke schlug. Wilbur schlief nicht. Er wollte nur nie wieder die Augen öffnen.

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