Ich sitze in der Ecke des Fahrstuhls. Auf jeder Etage öffnet sich die Tür. Der Hund, der noch nicht weiß, dass ein Auto ihn töten wird, wedelt mit dem Schwanz. Er ist schwarz und weiß gefleckt, ein Auge braun, das andere blau. Ich will ihn warnen, aber die Tür schließt sich, bevor ich ihm sagen kann, er soll Straßen meiden. Die Tür wird zum Vorhang, ein alter Mann steht da und hält mir eine offene Bibel hin, deren Seiten er umblättert. Ich erkenne einzelne Wörter und will sie aussprechen, öffne den Mund. Der Vorhang schließt sich. Ob ich wirklich fahre oder nur diese Tür, dieser Vorhang geöffnet und geschlossen wird, weiß ich nicht. Die Uniform der Schwester ist die Leinwand, auf der Vögel fliegen. Ich greife nach ihnen, die Tür schneidet mir die Hände ab.
Jemand sagt etwas. Ich vermute, dass die Worte mir gelten. Wenn ich nicht zuhöre, bin ich taub. Wenn meine Augen geschlossen sind, bin ich blind. Wenn ich den Mund nicht öffne, bin ich stumm. Ich muss dem Hotel mitteilen, dass ich bei Gelegenheit meinen Koffer hole, diese Pappwände um nichts, um mein ganzes Leben. Ich muss sie davon in Kenntnis setzen, dass Fledermäuse verwesen in den Schränken. Dass die Bibeln ausgeschüttelt werden müssen nach jedem Gast. Jemand fasst mir an die Augen. Sonne. Winzig, aber hell. Meine Pupille, eben noch ein Planet, wird zum Staubkorn. Vorhang runter, dunkel, danke. Zwei Stimmen. Keine Aufregung. Stille. Warum ist man todmüde, nachdem man Ewigkeiten geschlafen hat?
Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Das ist nicht mein Zimmer, nicht der Raum, in dem ich vorher war. Vorher, das war gestern, vor zwei Tagen, drei. Ich erinnere mich an einen dicken Mann, an Fische. Ich möchte mit jemandem sprechen, möchte schweigen. Natürlich sind meine Hände noch da, ich kann sie sehen, bewegen. Die Füße auch, schon stehe ich. Ich setze mich auf den Stuhl neben dem Bett, als würde ich mich besuchen. Ich lege die Hände in den Schoß. Man hat mich in einen weißen Schlafanzug gekleidet, ich habe eine reine Hülle, rieche allerdings etwas streng. Meine Füße sind nackt, Gummischlappen stehen vor dem Bett.
Als Kind hatte ich Fußpilz, nässende Stellen zwischen den Zehen, juckend, anhänglich. Fintan Taggart. Ich habe den Namen des Scheißkerls nicht vergessen, der Geld gesammelt und ein Schwimmbecken gebaut hat, damit wir lernten, nicht abzusaufen wie unsere Großväter, unsere Nachbarn, die am Meeresgrund vermoderten. Eine Halle hatte er errichtet, einen verdammten Tempel, in dem es nach Chlor stank und Moder und ungewaschenen Füßen, ein gekacheltes Loch, ein Schlachthaus. Die Luft war warm und feucht, das Wasser milchig, eine Brühe aus Hautschuppen, Haaren, Rotz und Pisse, das Becken winzig, aber überall so tief, dass man nicht stehen konnte. Stand ich auf dem Einmeterbrett, verschwammen mir die Namen von ertrunkenen Frauen und Männern vor den Augen. Die hatte der Schweinehund auf die Bodenfliesen geschrieben, zur mahnenden Erinnerung an die Opfer der See, wie er uns feierlich erklärte. Fischer, Matrosen, Freizeitsegler, Angler, Paddler, unvorsichtige Kinder, übermütige Jugendliche, der ganze Grund war voll davon, eine einzige Gedenktafel. Eine Warnung, eine Drohung. Eine Prophezeiung.
Ich betaste die schorfige Stelle an meinem Kopf, als sie hereinkommt. Sie ist älter als ich, vielleicht Mitte zwanzig, und sie trägt Pumas, dunkelgrüne Cargohosen mit jeder Menge Taschen und ein T-Shirt in verwaschenem Blau. Von ihrem Gesicht sehe ich nur ein Heftpflaster, das ihre rechte Wange bedeckt, und hellrot geschminkte Lippen. Kurze braune Haare nehme ich noch wahr, bevor ich den Blick abwende, den Kopf senke. Ich bin der Typ, den man aus dem Meer gefischt und der darin die Sprache verloren hat.
«Hallo, wie geht’s denn so?«fragt sie und legt einen Stapel Handtücher in einen Wandschrank. Ihre Stimme klingt eine Spur zu flott für meinen Zustand, immerhin leide ich unter Erinnerungslücken, einer Kopfverletzung und schweren Beinen. Es ist gut möglich, dass man mich hier für einen gescheiterten Selbstmörder hält. Kram beult die Taschen ihrer Hose aus. Sie holt eine Flasche Mineralwasser und einen Teller mit Obst von einem Rollwagen, der auf dem Flur steht, und stellt beides auf die Kommode neben meinem Bett. Ich zucke zusammen, als sie mit einer Hand auf das Kopfkissen eindrischt. Sie lacht.
«Tut mir leid«, sagt sie und wendet das Kissen. Dann schlägt sie die Decke zurück, streicht das Laken glatt und stopft die losen Ecken unter die Matratze. Ohrstöpsel eines Discmans baumeln an einem ihrer Beine. Aus ihrem Hinterkopf ragt ein buschiger Stummel aus Haar, mit einem roten Gummiband zusammengehalten. Ein Stein blitzt in ihrem Ohrläppchen. Sie hebt den Kopf so schnell, dass ich keine Zeit habe, den Blick abzuwenden, und sie sieht mich an, noch immer über das Bett gebeugt.
Nach einer Ewigkeit gelingt es mir, wieder meine Knie zu fixieren. Ich will sie nicht hierhaben, sie soll gehen. Wo ist die mit der Lederhaut und der fremden Sprache, wo die Dicke? Sie schüttelt die Decke und legt sie hin, Luft streicht über mein Gesicht. Sie geht zum Fenster und öffnet es einen Spalt weit, dazu braucht sie einen Schlüssel. Draußen, wo und was immer das ist, herrscht völlige Stille. Meine Zehen sind krumm. Sie soll einfach gehen. Jetzt.
«Bis morgen dann«, sagt sie und geht. Ich höre, wie der Wagen über den Flur geschoben wird, ein leises Quietschen, ein leises Klirren. Ihre Schritte sind unhörbar, vielleicht schwebt sie.
Kurz darauf oder auch Stunden später kommt der Arzt und fragt, ob ich mich an ihn erinnere. Ich liege im Bett und erinnere mich tatsächlich an ihn, seine Stimme, den Akzent, und ich bin irgendwie erleichtert. Er scheint zufrieden, dass ich nicht mehr an die Decke starre. Das wertet er bestimmt als Fortschritt, jedenfalls macht er eifrig Notizen. Ich betrachte die Wand hinter ihm, und wenn er eine neue Frage stellt oder etwas sagt, sehe ich ihn vage an, als löse seine Stimme ein kurzes Leuchten im Dunkel meines Schädels aus, ein Glimmen in der Rumpelkammer meines Gedächtnisses.
An seinem Revers steckt ein Namensschild, M. VERMEER
steht darauf. Dass die Bezeichnung Dr. fehlt, beunruhigt mich nicht.
«Wenn Sie sich besser fühlen, können Sie auf dem Flur spazieren gehen«, sagt Vermeer.»Es gibt ein Fernsehzimmer. Und einen Pingpongtisch.«
Pingpong. Das Wort gefällt mir, sein Klang ist hübsch, das mag am Akzent des Arztes liegen. Kann man Pingpong als Sport bezeichnen? Schwimmen gilt als Sport, obwohl es eigentlich etwas ist, das man tut, um nicht unterzugehen und zu sterben.
«Sie können sich frei bewegen, außer zwischen zehn Uhr abends und sieben Uhr morgens. Da halten wir Zimmerruhe.«
An der Wand hinter dem Arzt sehe ich ein Waschbecken, einen Spiegel, vier Fliesen hoch, fünf quer.
«Eine Schwester wird Ihnen nachher Sachen zum Anziehen bringen. «Vermeer lächelt, blättert in seinem Block.
Alle zwei Wochen musste ich das Becken putzen. Barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen stand ich auf den rutschigen Fliesen und schrubbte den Glibber von den Namen. Fearghal McMahon. Roisin Duff. Maigh Faherty. Jede Fliese ein Name, hunderte Fliesen. Ich musste das verdammte Becken alleine reinigen, weil ich als einziger vom Schwimmunterricht freigestellt war. Die alte Brühe war Stunden zuvor abgelassen worden, röchelnd in den beiden vergitterten Öffnungen verschwunden, und trotzdem schrak ich bei jedem Geräusch zusammen, weil ich dachte, gleich würde ich unter sekundenschnell hereinbrechenden Wassermassen begraben. Die Fliesen verstärkten jeden Laut, und die Tatsache, dass ich, um die unterste Leitersprosse zu erreichen, auf den umgedrehten Eimer klettern musste, machte meine Lage nicht erträglicher.
«Ich lasse Ihnen Papier und Stift hier«, sagt Vermeer und legt Papier und Stift auf die Bettdecke.»Falls Sie lieber schreiben als reden.«
Einmal pfiff ich zaghaft vor mich hin, um mir Mut zu machen, da stauchte mich der Herr des Tempels zusammen, brüllte etwas von Respekt gegenüber den Toten und warf einen halbgegessenen Apfel nach mir. Ich war fast zu Tode erschrocken, als er am Rand des Beckens auftauchte, denn üblicherweise kam er erst zurück, wenn ich mit der Arbeit fertig war.
Vermeer geht. Jetzt erst rieche ich sein Aftershave, das sich mit meinen Ausdünstungen schlecht verträgt. Ich hätte ihn gerne gefragt, wo ich eigentlich bin, im Kranken- oder Irrenhaus. Ob er ein Knochenflicker sei oder ein Seelenklempner.
Diesmal klopft sie an, bevor sie das Zimmer betritt. Sie sagt nichts, lächelt nur kurz, ein Reflex, als müsse ich aufgemuntert werden, ermutigt. Auf ihren abgewinkelten Unterarmen liegt ein Bündel Kleidungsstücke, darauf ein Paar helle Segeltuchschuhe. Sie legt alles auf die Bettdecke. Ich sehe die Sachen an, als wären sie mir ein Rätsel. Sie faltet eine Hose auseinander, dann ein buntes Hemd. Unterwäsche kommt zum Vorschein, ein Paar Socken, eierschalenfarben wie die Hose. Alles ziemlich edel, würde ich sagen, aber ich sage ja nichts mehr, zumindest nicht so bald. Beige, sandfarben, fällt mir noch ein, während ich versuche, ihr nicht ins Gesicht zu sehen und auf das Heftpflaster. Khaki, Schlamm, und das Hemd grün, moosgrün.
«Ich schlage vor, du gehst erst mal unter die Dusche.«
Offenbar starre ich sie völlig entgeistert an, denn ein lauter Lacher platzt aus ihr heraus, dann fasst sie sich aber an die Wange mit dem Heftpflaster und sagt:»Aua. «Ich rutsche tiefer unter die Decke. Sie geht zum Schrank und holt einen Bademantel daraus hervor. Den legt sie auf die Bettdecke, bückt sich und stellt die Gummischlappen so, dass der Abstand zwischen ihnen stimmt und sie zur Tür zeigen.
«Rechts den Gang runter, auf der Tür ist ein Schild mit einem Duschkopfsymbol. «Damit verlässt sie das Zimmer. Ich bleibe liegen, betrachte die Sachen auf dem Bett und frage mich zum ersten Mal, ob ich beobachtet werde. Steht hinter dem Spiegel der Arzt und schreibt auf seinen Block, was ich hier mache? Habe ich diesen Status, bin ich ein Fall? Ich stehe auf und gehe zum Waschbecken. Der Spiegel sieht aus wie ein Spiegel. Aber das tun Spiegel in Verhörzimmern auch. Ich war nie in einem, aber ich kenne sie aus Filmen. Neben dem Raum, wo die Verdächtigen ausgequetscht werden, befindet sich ein zweiter, und darin stehen meistens zwei Bullen, die ihren Kollegen dabei zusehen, wie sie jemanden in die Mangel nehmen. Ihre Seite des Spiegels ist ein Fenster, sie stehen da, und meistens sagt einer der beiden so etwas wie:»Der war’s nicht, das sehe ich gleich. «Oder:»Ich geh jetzt rein und mach das Schwein fertig. «Ich starre in den Spiegel. Die Ringe unter meinen Augen sind dunkel, und ich denke, ich trage vielleicht etwas zu dick auf, bis mir einfällt, dass sie echt sind. Ich taste nach meinen Wangen, Flaum statt Bartstoppeln, taube Haut. Meine Zunge ist belegt, die Flugaufnahme eines zerklüfteten Gletschers, auf dem sich Industriedreck abgelagert hat. Ob sich der Arzt hinter dem Fenster abwendet? Ich drehe das Wasser auf, betrachte den Strahl eine Weile und drehe den Hahn wieder zu, lausche dem Geräusch in der Röhre.
Ich spiele mit dem Gedanken, den Kopf gegen den Spiegel zu rammen. Das würde meinen Aufenthalt hier nicht nur rechtfertigen, sondern noch verlängern, und außerdem ginge der Spiegel dabei vermutlich in die Brüche und gäbe sein Geheimnis preis. Ich berühre mit der Stirn das kühle Glas, stoße zu, dann etwas fester und schließlich so hart, wie es mein Mut zulässt. Ein leichter Schmerz wabert durch meinen Schädel und verliert sich in der Gruft, in der ein Teil meiner Erinnerungen beigesetzt ist. Ich stütze mich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens. Ein wenig Blut auf der Schläfe wäre schön gewesen, immerhin kann ich in den nächsten Stunden auf ein Hämatom hoffen, einen Fleck, dunkelblau, mit etwas Glück schwarz. Kann ich aufgrund der Tatsache, dass niemand ins Zimmer gestürzt ist, um mich vor mir selber zu retten, davon ausgehen, dass ich nicht beobachtet werde? Oder macht der oder die Observierende gerade Pause?
Der Spiegel ist mit vier Schrauben an der Wand befestigt. Ich entferne mit kaum vorhandenen Fingernägeln die verchromten Kappen, unter denen die Schrauben versteckt sind, drücke eine Kappe auf dem Waschbecken platt und benutze sie als Werkzeug. Ich löse eine Schraube nach der anderen, arbeite konzentriert, vergesse die Zeit dabei. Es fließt doch noch etwas Blut, als ich abrutsche und mir den Finger an einem Schraubenkopf aufreiße. Die rote Kostbarkeit schmiere ich mir auf die Stirn. Ich zähle stumm die Gegenstände auf, die sich in meinem Kulturbeutel im Badezimmer des Hotels befinden. Kamm, Nagelschere, Tube Zahnpasta, Zahnbürste, Zahnseide, Flüssigseife, Fläschchen medizinischer Alkohol, Wattestäbchen, Heftpflaster, Pinzette, Schmerztabletten, Ohrenstöpsel, Lippenpomade, Fußpuder, Mückenstichstift, Miniaturtaschenlampe, Dose Rasierschaum, Nassrasierer, zwei Glasmurmeln, blau und braun.
Die Liste bete ich elfmal herunter, dann halte ich den Spiegel mit der linken Hand fest und drehe alle vier Schrauben heraus. Als ich die letzte Schraube löse, rutscht mir der Spiegel durch die Finger und knallt mit einer Ecke auf das Waschbecken. Schon glaube ich, er sei heil geblieben, als er in drei Teile zerfällt, von denen zwei im Waschbecken zu vielen kleinen Stücken zersplittern. Beim Versuch, das bereits Geschehene zu verhindern, einem unbewussten, dummen und viel zu trägen Reflex, habe ich mir das rechte Handgelenk aufgeschnitten.
Ich sehe noch, dass hinter dem nicht mehr vorhandenen Spiegel kein Beobachtungsfenster, sondern Wand ist, ein helles Rechteck, eingefasst von einem hellgrauen Rand. Ich betrachte das Blut, das in Stößen aus der Wunde schwappt, und setze mich auf den Boden, seltsam erschöpft von der leichten Arbeit.
Stufen aus Stein einen Berg hinauf. Näher zu Gott, seinem Gott. Er atmet schwer, ächzt, blökt. Möwen? Ja, kreischend im Blau des Himmels wie Schmierereien an einer Wand. Von da komme ich, dorthin will ich nicht zurück. Der Bus hält an, und ich steige aus. Auf dem hintersten Platz sitzt ein dicker Mann und winkt mir zu. Ich weiß, warum du hier bist. Auf meiner Wange klebt ein Heftpflaster, dabei ist es die Stirn, die schmerzt. Ich sehe über ein weites Feld, Schafherden wandern darüber hinweg, nein, es sind die Schatten der Wolken. Der Hund verfolgt einen Hasen, sein bewegtes Fell glitzert im Licht. Der Hase rennt über die Straße, erreicht die andere Seite, das rettende Ufer, ein Wunder. Der Hund darf auf Wunder nicht hoffen, die sind für heute verbraucht. Er weiß nichts von Autos, wird nie lernen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Seinen eigenen Flug erlebt er nicht mehr. Auf der Plakette um seinen Hals steht sein Name, er heißt wie ich, die Telefonnummer erinnert mich an meine Geburtsdaten. Er wird im Himmel meine Mutter treffen. Sie öffnet die Kapsel an seinem Halsband und liest meinen Satz. Es tut mir leid, dass du meinetwegen gestorben bist.
Wieder diese Stimmen. Ich kenne sie inzwischen, so fremd sind sie mir. Man berührt mich, geht mit mir um. Ich lese die Namen, das Chlor brennt in meinen Augen, ich streiche mit der Fingerkuppe über die Fliesen. Páidi O Sé. 1942–1981. Diarmuid Maher. 1961–1972. Bald wird mein Name dazukommen, das Jahr meiner Geburt und das meines Todes. In meiner Armbeuge brennt etwas. Wie viele Leute sind nötig, um mich hochzuheben? Ich hasse den Gedanken, dass dieser Scheißkerl im roten Trainingsanzug mein Leben gerettet hat. Man kann ein Leben nicht retten, das der Gerettete nicht mehr leben will. Es ist, als trage man den Müllsack zu dem zurück, der ihn auf die Straße gestellt hat, und verlange Finderlohn. Ich wollte nicht ertrinken, ich wollte nur nicht schwimmen. Ich hatte keinen Plan. Es war ein Zufall. Das Leben kehrt heim wie ein kurzzeitig verreister Gast, den man aus Pflichtgefühl aufnimmt. Ich beherberge mich, ich gewähre mir Asyl.
Die Stimmen werden leiser, sie verlassen meinen Kopf, meinen Raum. Es wird Nacht. Das Boot, in dem ich liege, hört auf zu schaukeln.
Zimmer kann man das nicht nennen. Menschenkörperaufbewahrungseinheit. Kein Stuhl, auf den man steigen, keine Kommode, von der man sich stürzen, kein Kissenbezug, mit dem man sich ersticken, kein Waschbecken, in dem man sich ertränken könnte. Das Laken ist bestimmt aus einem Material, das sich nicht in Streifen reißen lässt. Keine scharfen Kanten, nirgends. Der Schlauch, der von einem transparenten Beutel in meine Vene mündet, würde nicht einmal dem Gewicht eines Kindes standhalten. Der Beutel hängt an einem polierten armdicken Rohr, von dem keine gefährlichen Teile abgeschraubt werden können. Statt eines Fensters ist ein Lüftungsschacht in die Wand eingelassen, vergittert und unerreichbar. Der Tür fehlt die Klinke. Die Mühe, die beiden Kameras zu verbergen, hat man sich gar nicht erst gemacht.
Wenn ich vorhatte, eine Weile hierzubleiben, ist mir das vermutlich gelungen. Der verwirrte junge Mann aus dem Meer war ich vielleicht gestern, heute bin ich der Typ, der einen Spiegel abgeschraubt hat, um sich mit den Scherben die Pulsadern aufzuschlitzen. Ich bin ein seriöser Fall, ein Wiederholungstäter. Ich setze alles daran, mein Leben zu beenden. Man darf mich nicht aus den Augen lassen. Leute wechseln sich damit ab, mich zu observieren. Sie essen mitgebrachte Brote, trinken literweise Kaffee und starren auf den Monitor, trauen sich kaum zu blinzeln. Wenn sie aufs Klo müssen, drücken sie einen Knopf, dann kommt jemand und springt für sie ein. Die Kontrolleure werden kontrolliert. Sollte jemand beim Lesen erwischt werden, droht ein internes Verfahren, die Strafen sind massiv. Erwischt man jemanden beim Schlafen, ist die fristlose Kündigung unabwendbar. Ich kann Existenzen vernichten, indem ich heimlich aufhöre zu atmen.
Ich will, dass jemand kommt, und reiße den Schlauch aus meiner Armbeuge. Der Schmerz ist beträchtlich, ich schreie auf. Flüssigkeit rinnt an meinem Unterarm hinab und tropft auf das Laken. Gerade will ich mich aus dem Bett fallen lassen, als die Tür auffliegt und zwei Männer sich auf mich stürzen, um mich daran zu hindern, mir beim Sturz aus vierzig Zentimetern Höhe das Genick zu brechen. Beinahe muss ich lachen.
«Entspann dich, mein Freund«, sagt der eine Pfleger.
«Immer schön ruhig bleiben, Kumpel«, sagt der andere.
Sie sind freundlich, ihre Stimmen angenehm, das ist ihr Job. Ich bin entspannt und ruhig. Ich bin ihr Freund, wir könnten irgendwann zusammen ein Bier trinken gehen. Ich will ihnen keinen Ärger machen. Ich will ein guter Patient werden, ein harmloser Insasse.
Der Arzt eilt an mein Bett. Ich würde ihm gerne versichern, dass er meinetwegen nicht hätte rennen müssen. Dann würde ich ihm die Sache mit dem Spiegel erklären, das Missgeschick mit lebhaften Worten schildern, und wir würden alle lachen. Natürlich müsste man mich noch eine Weile hierbehalten, nur zur Sicherheit. Aber man würde mich zurückstufen und mir erlauben, Pingpong zu spielen. Ich käme wieder auf die Station, wo die spanisch sprechende Schwester ist und die dicke. Ich hätte ein Fenster, einen Stuhl und eine Kommode. Während der Arzt geübt und mit warmer Stimme auf mich einredet, sitzen die beiden Männer links und rechts von mir auf dem Bett. Sie müssen mich nicht festhalten, ich liege ganz still, beinahe entspannt.
Dann kommt sie. Das Heftpflaster ist weg. Unter einem Rechteck Haut, das eine Spur bleicher ist als der Rest, sehe ich eine gebogene Linie, einen hellroten Halbmond. Abgelenkt von den Worten des Arztes, lasse ich mir von ihr die Kanüle in die Armbeuge schieben und mit dem Tropf verbinden. Flüssigkeit gelangt in meinen Körper, aber ich habe die Kontrolle darüber, weil ich es erlaube.
Wenn das Becken sauber war, musste ich auf den Eimer steigen, damit ich die Leiter erreichte. Auf der untersten Sprosse stehend, konnte ich mit dem Stiel des Schrubbers den Eimer am Henkel hochziehen. Dann kletterte ich die fünf Sprossen hoch, warf den Schrubber und den Eimer auf den Boden neben dem Sprungbrett und ging in die kleine, muffig riechende Kammer, die als Umkleidekabine benutzt wurde und über zwei Waschbecken verfügte. Dort wusch ich mir die Hände und Füße mit Seife, bis sie rot und wund waren, krempelte die Hosenbeine runter, zog Strümpfe und Schuhe an und ging nach draußen, um an der frischen Luft auf ihn zu warten. Oft kam der Herr des Tempels erst eine Stunde nachdem ich fertig war. Er zog die Schuhe aus, stieg in das Becken hinab und ging auf die Knie, immer in der Hoffnung, eine von mir nicht gründlich genug gereinigte Stelle zu entdecken.
Alle sind gegangen. Nur sie nicht. Ich weiß, dass man mir etwas gespritzt hat. Ein Bummelzug aus Beruhigungsmitteln tuckert gemächlich durch meine Venen, Endstation Hirn, Kopfbahnhof. Ich möchte ewig so liegen. Musik dringt aus ihren Ohrstöpseln, Bass, Schlagzeug. Ich lächle, warum lächelt sie nicht? Mein Lächeln liegt unter der Haut, verborgen, deshalb. Sie gibt vor, beschäftigt zu sein, dabei schraubt sie schon ewig am Infusionsregler herum, vor und zurück. Woher hast du die halbmondförmige Narbe an der Wange? Das ist ein Brandzeichen, ich bin Mitglied einer Sekte. Ich verstümmle mich selbst, sieh her, mein Körper ist bedeckt davon. Mir wurde ein Muttermal entfernt. Ich könnte die Frage aufschreiben, aber in diesem Raum hat man mir nicht einmal Papier und Stift gelassen. Er hat sich den Bleistift ins Herz gestoßen. Als wir ihn fanden, war er tot. Kichere ich? Nein, das Geräusch kommt vom Flur. Nächster Halt, Großhirn, dieser Zug fährt weiter nach Sleepy Town, Dreamville und Nightmare City.
Als ich aufwache, ist sie wieder da, oder noch immer. Sie hat einen Stuhl neben das Bett gestellt und liest in einem Buch. Ich betrachte sie aus den Augenwinkeln. Wenn ich den Kopf drehe, merkt sie, dass ich wach bin.
Ich liege schwer in meinem Körper. Sie wendet eine Seite im Buch. Die zusammengebundenen Haare an ihrem Hinterkopf sehen weich aus, ein Rasierpinsel. Ich bewege die Arme. Sie sieht mich an, und ein Lächeln geht in ihrem Gesicht an wie Deckenlicht in einem hellen Raum. Rasch knickt sie eine Ecke um und schließt das Buch, legt es weg und steht auf.
«Wie fühlst du dich?«fragt sie und nimmt mein Handgelenk.
Ich will ihre Hand schütteln, ein Reflex, aber sie misst nur meinen Puls. Dabei sieht sie auf ihre Uhr, ein riesiges Modell, wie es Berufstaucher und Astronauten benutzen.
«Gut«, sagt sie und legt meinen Arm auf die Decke, sanft, als sei er ein schlafendes Tier.»Du hast geträumt.«
Er fand fast immer etwas. Dann musste ich noch einmal barfuß hinab und zwei oder drei Fliesen polieren. Dermot Brennan. Mairead Doherty. Seamus Downey. Dabei stand der Mistkerl oben am Beckenrand und sah mir zu, gab Anweisungen und dirigierte mich. Während ich die nur für ihn sichtbaren Schlieren wegwischte, stellte ich mir vor, wie er den Inhalt der beiden Filterkörbe fraß, die ich bei jeder Reinigung leeren musste. Wie er mit vor Übelkeit zittrigen Fingern Brocken aus der kompakten Masse menschlicher Auswürfe und Absonderungen pulte und sich in den Mund stopfte, das Gesicht verzerrt vor Ekel und Scham. Wie er sich übergab und winselte und wie ich ihn zwang, auch sein Erbrochenes zu essen. Ich hatte eine Waffe, eine doppelläufige Schrotflinte, und wenn meine Knie schmerzten und mir die Kiefermuskeln hart wurden vor Hass, schoss ich ihm den Kopf weg. Schoss seinen verdammten Kopf in Stücke und sprenkelte damit die Wände. Saß auf dem Eimer und sah zu, wie sein Blut die Namen bedeckte, ein roter Vorhang, der sich senkt.
«Bist du hungrig?«
Bist du hungrig. Orla durfte das fragen, es ist ihre Frage, für immer. Hast du dir wehgetan. Wollen wir spazierengehen. Niemand sonst darf mir diese Fragen stellen.
«Es gibt eine leckere Karottensuppe. Mit Basilikum. Oder Dill. «Sie sieht mich an.
In meinem Hinterkopf liegt ein Gewicht, das mich daran hindert, den Kopf zu schütteln, ihn leicht hin und her zu bewegen. Sedimente. Ablagerungen aus Medikamenten.
«Du musst was essen«, sagt sie und verlässt das Zimmer.
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