The Player, 1992

Der alte Mann hieß Matthew Fitzgerald. Er war einundsiebzig Jahre alt und Engländer. Bis er zweiundsechzig war, lebte er in Norwich, wo er an der University of East Anglia Cello unterrichtete. Als er den Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, unternahm er eine Reise durch Irland und fand das Haus, das er jetzt bewohnte. Das feuchtkalte Klima im Nordwesten der Insel war zwar Gift für sein Rheuma, dafür schien die frische Luft seinen Lungen gut zu bekommen. Matthew Fitzgerald rauchte, seit er vierzehn war, und er gab sich nicht der Illusion einer Genesung oder gar wundersamen Heilung hin. Aber er schwor auf die lindernde Wirkung der Brise, die ihm während Spaziergängen vom Meer entgegenwehte und die seinen Husten fast zum Verschwinden gebracht hatte, obwohl er sich noch immer hin und wieder eine filterlose Zigarette gönnte.

Er war ein großgewachsener Mann mit kräftigen Händen, denen man den zarten Umgang mit Bogen und Saiten nicht zutraute. Sein Haar war dunkel und drahtig, und das Alter bestrafte ihn weder mit lichten Stellen noch gänzlichem Ergrauen. Essen war ihm lästig, weshalb er nie dick gewesen war und jetzt von Jahr zu Jahr dünner wurde. Sein einziges Gebrechen war eine Sehschwäche, die ihn bei Kriegsausbruch von dem Dienst an der Waffe befreit und ihm möglicherweise das Leben gerettet hatte. Überall im Haus lagen Brillen, deren Gläser dick wie Glasbausteine waren und ohne die er seine Umgebung als düstere, konturenlose Höhle wahrnahm. Eine Zeitlang hatte er kleine Brillen mit runden Gläsern und Gestellen aus Draht getragen, die nichts wogen und in seinem bärtigen Gesicht verschwanden. Jetzt bevorzugte er die massiven Modelle aus Horn oder Kunststoff, schwarze und braune Fassungen, gemasert und glänzend und nicht zu verbiegen, nur zu brechen. Als Kind hatte er sie gehasst, jetzt liebte er ihr Gewicht und den leichten Widerstand der Scharniere, wenn er die Bügel auf- oder zuklappte.

Er war verheiratet gewesen, länger als ein Leben lag das zurück. Cynthia Moss arbeitete beim städtischen Bauamt, wo sie, unter anderem, für die Bewilligungen zum Fällen von Bäumen zuständig war. Matthew hatte das Haus seiner Eltern geerbt, die jung gestorben waren, sie mit Mitte vierzig an Tuberkulose, er ein Jahr darauf an gebrochenem Herzen, noch keine fünfzig. Matthew wollte eine Fichte beseitigen lassen, die bei Wind vor seinem Schlafzimmerfenster schwankte und im Winter unter der Last des Schnees zusammenzubrechen drohte. Aber jetzt, nur wenige Jahre nach dem Krieg, waren Bäume in den Städten selten, und die wenigen verbliebenen standen unter behördlichem Schutz.

Nach einem verbissen geführten Papierkrieg stürmte Matthew eines Tages ins Büro seiner Brieffeindin, bereit, sie mit dem Ast, der am Morgen seinen Kopf nur um Haaresbreite verfehlt hatte, zu erschlagen, als ihn die Liebe, oder das, was er dafür hielt, wie ein Stromstoß traf. Von diesem Tag an stand er allabendlich vor ihrem Büro und flehte um ein gemeinsames Abendessen, einen unverfänglichen Lunch, eine harmlose Tasse Kaffee. Er schwor, den Baum in Ruhe zu lassen, schickte ihr Blumen und schrieb eine Sonate für sie. Er wollte auf dem Flur vor ihrem Büro Cello spielen und wurde des Hauses verwiesen. Er trug ihr ein selbstverfasstes Gedicht am Telefon vor, bis sie nicht mehr auflegte.

Irgendwann gewährte sie ihm ein Abendessen. Er führte sie ins beste Lokal der Stadt und gab dem Kellner Tage zuvor Geld, damit der ihn als Herrn Professor und Stammgast begrüßte. Von da an durfte er sie immer samstags einladen. Cynthia schätzte gutes Essen und teuren Wein, und wenn sie einen besonders raffinierten Nachtisch verschlang, erlaubte sie sich sogar die Blöße eines Lächelns. Bald hatte Matthew die Ehre, seine Liebe zwei- oder dreimal pro Woche durch ihren Magen gehen zu lassen. Mit jedem Pfund, das sie an Gewicht zulegte, bröckelte ihr Widerstand gegen Matthews Avancen, und eines Nachts ging sie, leicht benommen von einem sündhaft teuren Pommard, mit ihm nach Hause.

Begleitet vom Ächzen der Fichte, deren Äste das Mondlicht verwischten, legte Matthew sich neben Cynthia und durchbrach ihre letzte Schranke, rang schwitzend und keuchend um ein bisschen Lust und sank schließlich über ihr zusammen, einen Schrei ausstoßend, in dem Triumph und Selbstverachtung schwangen und eine Verzweiflung, die ihn frösteln ließ und bis zum Morgen wach hielt.

Eine Weile sahen sie sich nicht, und Matthew war froh darüber und hoffte, Cynthia fühle genauso. Er dachte daran, sie ein letztes Mal zum Essen einzuladen und ihr zu sagen, warum er die Beziehung, wenn es denn überhaupt eine war, beenden wollte. Aber er brachte es nicht fertig, sie anzurufen. Er besaß eine Fotografie von ihr, und manchmal nahm er sie hervor und sah sie an. Er hatte die Aufnahme gemacht, sie zeigte Cynthia vor der Fichte stehend, die Arme hinter den Rücken gelegt, das Kinn erhoben. Ihr Blick ging an der Kamera vorbei, nicht schüchtern, sondern kühl und eine Spur hochmütig. Zwei Wochen später warf Matthew das Bild weg und fällte den Baum.

Im Monat darauf teilte Cynthia ihm telefonisch mit, sie sei schwanger. Matthew war am Boden zerstört. Er dachte daran, Cynthia seine Ersparnisse und das Haus zu überlassen und nach Frankreich zu gehen, wo ein ehemaliger Studienfreund ein Weingut betrieb. Dann dachte er an das Kind und daran, dass es ohne Vater aufwachsen würde. Er versuchte sich einzureden, dass er es besuchen würde, aber er wusste, dass es nicht dasselbe wäre. Also blieb er.

Cynthia war konservativ, aber verglichen mit ihren Eltern, die er bald kennenlernte, erschien sie Matthew wie die Verkörperung von Rebellion und Fortschritt. Als sie heirateten, war er einunddreißig, sie fünf Jahre jünger. Er war ein Virtuose auf dem Cello, aber er reiste nicht gerne, und so unterrichtete er, seit er zwanzig war, statt mit Symphonieorchestern durch die Welt zu ziehen. Sie besaß einen Ehrgeiz, der sich aus einem absurden Gefühl der Minderwertigkeit nährte. Wo ihr Intelligenz und Phantasie fehlten, behalf sie sich mit Verbissenheit. Sie glaubte an sozialen Aufstieg, beruflicher Erfolg war ihre Religion. Wenn der selbstauferlegte Druck zu groß und sie schwach wurde, was selten geschah, kam die Frau zum Vorschein, von der Matthew manchmal glaubte, er könne sie sehen, gut gepolstert hinter Disziplin und Stolz. Dann weinte sie ein bisschen und erzählte ihm von ihren Träumen, in denen tropische Wälder vorkamen, breite Ströme und ein Floß, dessen Stämme sie selber gefällt hatte. Dann wurde sie weich, und er tröstete sich mit dem Gedanken, sie vielleicht doch zu lieben, nicht so, wie seine Eltern sich geliebt hatten, aber immerhin genug, um mit ihr zu leben. Ihre Eltern reisten zur Hochzeit aus Manchester an, wo sie eine Kohlehandlung führten, übernachteten einmal im Hotel und schenkten dem Paar eine Waschmaschine.

Als der Junge zur Welt kam, wurde Matthew daran erinnert, was Glück war. Seine Fähigkeit zu lieben, die durch das Leben an Cynthias Seite verkümmert war, wuchs zu einem überwältigenden Gefühl, das ihn alle Bitterkeit und Reue vergessen ließ. Während Cynthia eine Weiterbildung zur Forstökonomin machte und abends und an den Wochenenden lernte, wie Wälder am gewinnträchtigsten bewirtschaftet wurden, gab Matthew seinen Beruf fast völlig auf und kümmerte sich um seinen Sohn. Er war ein hingebungsvoller Vater, obwohl er sich bis zu Williams Geburt nie ernsthaft überlegt hatte, ob er einer werden wolle, und falls ja, ob ihm die Aufgabe liegen würde. Er dachte, er würde das Unterrichten vermissen, die Studenten, seinen Raum in der Universität, den ganzen Betrieb, aber das war nicht der Fall.

Er spielte William auf dem Cello vor und entlockte dem Instrument Geräusche, derer er sich früher geschämt hätte, nur um den Jungen zum Glucksen zu bringen. Sie gingen spazieren, sahen sich im Zoo die seltsamsten Tiere an und lagen nebeneinander auf den Wiesen von Parks und formten die Wolken nach ihren Wünschen. Sie kauerten in Bächen und wendeten jeden Stein, um darunter Welten zu entdecken. Ein Teich wurde zum Ozean, den sie auf Papierschiffen überquerten, bei Regen saßen sie am Küchentisch und bauten aus Fundstücken eine Maschine, die Glück herstellte.

Als William vier Jahre alt war, zog die Familie nach London, wo Cynthia eine Stelle beim Umweltministerium erhalten hatte. Jetzt sah Matthew seine Frau überhaupt nicht mehr, und William blickte seinen Vater ratlos an, wenn der das Wort Mutter benutzte. Ein halbes Jahr später einigten sich Matthew und Cynthia darauf, eine Weile getrennt zu leben. Matthew und William fuhren zurück nach Norwich und wohnten von nun an mit einer alten Dame, der sie das Haus vermietet hatten, unter einem Dach. Eigentlich hatte Miss Baldwin vorgehabt, einen alleinstehenden Herrn als Wohngenossen zu finden, aber die neue Situation gefiel ihr noch besser. Sie war vierundsiebzig und blühte in der Gesellschaft der beiden Männer noch einmal richtig auf. Obwohl sie nie verheiratet gewesen war, liebte sie Kinder über alles. Wenn sie an zwei Nachmittagen in der Woche, an denen Matthew Unterricht gab, auf William aufpasste, wollte sie den Jungen am Abend gar nicht mehr hergeben.

Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, dass die drei gemeinsam aßen, im Park spazierten und sich im Radio Konzerte und Liveberichte von Fußballspielen anhörten. Miss Baldwin war Anhängerin des FC Norwich City, und bald saß das Trio bei jedem Heimspiel im Stadion. Im Gegenzug brachte Matthew ihr die Welt der klassischen Musik näher, spielte ihr auf dem Cello vor, schenkte ihr Schallplatten und lud sie zu Konzerten ein. Es war ihm egal, was die Nachbarn von ihm dachten, und wenn er Agnes einmal pro Woche zum Essen ausführte, sollten die Leute eben denken, sie sei seine Mutter. An diesen Abenden engagierte er eine Babysitterin für William, eine junge Frau, der er das Cellospiel beibrachte und die dem Jungen Kostüme schneiderte, Peter Pan, Prinz Eisenherz, Buffalo Bill.

Alle zwei Monate setzten sich Matthew und William in den Zug und fuhren nach London, um ein paar Stunden mit einer Frau zu verbringen, die auf dem Papier Matthews Gattin und biologisch gesehen Williams Mutter war. Alles in Cynthias Leben fand zwischen Tür und Angel statt, zwischen Lunch und Dinner, einem Meeting und dem nächsten. Sie überhäufte ihren Sohn mit Geschenken, lauter Dingen, mit denen der Junge nichts anzufangen wusste, und zeigte ihm Prospekte von Privatschulen, als deren Schüler sie ihn bereits sah. William versprach, die Unterlagen zu studieren und eine Liste mit seinen Favoriten anzulegen. Zu Hause in Norwich landeten die Hochglanzbroschüren im Abfall, denn der Junge hatte sich längst für eine Karriere als Profifußballer oder Höhlenforscher entschieden. Matthew wollte nicht mit seiner Frau streiten und sagte ihr deshalb nicht, für wie unsinnig er es hielt, einen Fünfjährigen mit der Planung seiner Zukunft zu behelligen.

In den Londoner Nächten arbeitete Cynthia an Matthew etwas ab, das sie als ihre Pflicht betrachtete und dessen technische Ausführung sie in Büchern nachgeschlagen hatte, als handle es sich dabei um Anleitungen zur Bepflanzung von Steilhängen oder den Schutz von Jungwuchs vor Wildverbiss. Zum Geschlechtsverkehr im eigentlichen Sinn kam es dabei nicht, denn Cynthia wollte kein zweites Mal das Risiko eingehen, schwanger zu werden. Hatte Matthew zu Beginn noch voller Staunen und in einer Mischung aus gestauter Lust und Masochismus auf die neu erworbenen Fertigkeiten seiner Frau reagiert, so wehrte er sich schon bald gegen die immer hastiger und unsinnlicher ausgeführten Zuwendungen, indem er sich einfach umdrehte und tat, als schlafe er. Cynthia schien ein wenig enttäuscht zu sein, aber auch erlöst. Jedenfalls ließ sie ihn in Ruhe, und beim nächsten Besuch schlief sie in ihrem Bürozimmer.

Es war während eines dieser Kurzaufenthalte in London, als die Welt aufhörte, sich zu drehen. William war sechs Jahre alt und der hellste Stern in Matthews Universum. Er hatte die schwachen Augen seines Vaters geerbt, aber auch dessen kräftigen Körperbau und die dunkelbraunen Locken. Der Junge konnte einfache Stücke auf dem Cello spielen, freihändig Fahrrad fahren und einen flachen Stein ein Dutzend Mal über das Wasser hüpfen lassen. Er wusste, wie eine Amsel sang und wie eine Meise, kannte alle Spieler des FC Norwich City, zeichnete Pferde, die als solche zu erkennen waren, und mähte den Rasen vor dem Haus zwei Minuten und elf Sekunden schneller als sein Vater.

Sie besichtigten eine Privatschule im Westen der Stadt, Cynthia hatte darauf bestanden. Es war Ferienzeit, und mehrere Eltern kamen mit ihren Kindern, um sich die leerstehenden, deshalb aber nicht minder imposanten Gebäude zeigen zu lassen. Eine Frau in einem dunkelgrauen Kleid führte sie durch Schlafsäle und Turnhallen, Unterrichtsräume und endlose Flure. Sie sahen in eine Kapelle, eine Küche und eine düstere Bibliothek. Matthew hielt seinen Sohn die ganze Zeit an der Hand, während Cynthia die grau gekleidete Frau mit Fragen überhäufte.

Am nächsten Morgen hatte William Kopfschmerzen und leichtes Fieber, das in der Nacht höher wurde. Im ersten Tageslicht eilte Matthew los, um bei einer Notfallapotheke Medikamente zu besorgen, und als er zurückkam, saß Cynthia schluchzend auf Williams Bett und versuchte den apathischen Jungen anzukleiden. Das Sekretariat der Privatschule hatte angerufen und ihr mitgeteilt, vier Kinder, die am Besichtigungstermin teilgenommen hatten, lägen mit Hirnhautentzündung im Krankenhaus.

Ein Ambulanzwagen und ein Taxi wurden losgeschickt, um Matthew und Cynthia und ihren Sohn zur Klinik zu fahren, wo über einen ganzen Flügel Quarantäne verhängt worden war. Am Nachmittag des folgenden Tages starb ein zwölfjähriges Mädchen, am Abend William. Der Ruck, mit dem die Erde zum Stillstand kam, war so heftig, dass der Boden unter Matthews Füßen wegrutschte.

William wurde auf dem Friedhof beerdigt, der nur wenige Minuten vom Haus entfernt lag und in dessen Steinmauern Eidechsen lebten. An Sommertagen hatten er und sein Vater oft stundenlang vor diesen Mauern gesessen und den Tieren zugesehen, wie sie sich sonnten und Insekten jagten, grün schimmernde Leiber, die in den Ritzen verschwanden, wenn William die Hand nach ihnen ausstreckte. Cynthia hatte bei ihrem Arbeitgeber eine Freistellung auf unbestimmte Zeit beantragt und lebte wieder bei ihrem Mann. Agnes Baldwin fand ein Zimmer ein paar Häuser entfernt und wurde im örtlichen Tierheim tätig, um nicht gänzlich in Schmerz und Trauer zu versinken.

Matthew war drei Monate krankgeschrieben, eine Cellistin aus Polen übernahm seine Unterrichtsstunden. Er ging jeden Tag zu Willliams Grab, weinte, bis er keine Tränen mehr hatte, und verdöste ganze Nachmittage in einem verdunkelten Zimmer. Nachts trank er, bis wieder Tränen flossen, ging am nächsten Morgen zum Grab und taumelte zurück in eine endlose Wiederholung verlorener Tage.

Für Cynthia war die Entscheidung, bei ihrem Mann zu bleiben, eine weitere Pflicht, eine Aufgabe, der sie sich stellen musste. Im Krankenhaus war sie bei der Nachricht vom Tod ihres Kindes zusammengebrochen. Drei Tage lang lag sie in Dunkelheit, dämmerte dahin, gehüllt in eine Stille, die in ihr gewohnt hatte. Es war, als sei all die Härte, von der sie sich jahrelang hatte tragen lassen, zu Staub verfallen, als sei sie ein Baum gewesen, den ein Blitz innerhalb eines Atemzugs zerstören konnte. Am vierten Tag stand sie auf, um zu trauern, am fünften nahm sie ihr Leben wieder in die Hand. Was zu tun war, erledigte sie, organisierte das Begräbnis, die Todesanzeige, die Trauerkarten, die Übernachtung ihrer Eltern. Sie fuhr mit Matthew zurück nach Norwich und kümmerte sich um ihn, wie es die Krankenschwestern in London getan hatten. Wenn er weinte, versuchte sie ihn zu trösten, zitierte den Bestattungsunternehmer und sagte Worte wie Tapferkeit und Zuversicht und Mut. Am meisten benutzte sie das Wort Stärke, obwohl sie sah, dass Matthew davon nichts mehr besaß. Zwei Wochen nach der Beerdigung lag Matthew noch immer Nachmittage lang in einem der Zimmer, und sein Anblick tat ihr weh, aber nach einem Monat empfand sie statt Mitleid Ungeduld, dann leise Abscheu, weil er so schwach war und sie an ihre eigene Verletzbarkeit erinnerte.

Aus dem Baumstrunk wuchs ein Trieb, an dessen Ende eine Knospe saß. Matthew entdeckte ihn, als er durch den Garten ging, dessen Rasen braun und verfilzt über die Platten des Gehwegs wucherte. Er war für nichts empfänglich, weder für die Appelle seiner Frau noch für die rührenden Versuche von Agnes, ihn zu einem Besuch im Stadion zu überreden, und schon gar nicht für ein plumpes Symbol, das aus den Überresten eines Baumes spross. Sein Kündigungsschreiben lag auf dem Tisch neben der Haustür, drei Sätze, eine fahrige Unterschrift. Er wollte nicht zurück an die Universität, konnte sich nicht dem Mitgefühl seiner Kollegen aussetzen, nicht dem Trost seiner Schülerinnen. Das Cello würde keinen Ton mehr hervorbringen, keinen Laut, der sein Herz zu berühren vermochte.

Cynthia würde bald gehen, seiner Trauer überdrüssig. Sie würde sich neu in ihr Leben einspuren, deren ausgeleuchtete Bahn sie nur für drei Tage und Nächte verlassen hatte, und würde weitermachen, jetzt erst recht. Er wusste, sie würde die Scheidung wollen. Sie war für klare Verhältnisse, das Kind, um dessentwillen man geheiratet hatte, gab es nicht mehr und damit auch keinen Grund, ein Zusammensein vorzutäuschen. Es war ihm egal. Er richtete sich darauf ein, das Haus zu verkaufen und ihr die Hälfte des Gewinns zu geben. Mit dem Geld würde er eine Weile über die Runden kommen, er stellte sich nichts vor, die Zukunft war ein geschlossenes Fenster, hinter dem die Nacht zu keinem Ende kam. Im Schlaf, der Erschöpfung war und ein heilloser Rausch, fielen Gedanken aus dem Dunkel auf ihn herab, aber keiner davon war klar genug, um den Tod zu wünschen, und keiner taugte dazu, Leben zu wollen.

Ein Vierteljahr nach Williams Tod ging Cynthia zurück nach London. Sie wollte kein Geld, nur die Scheidung. Sie schrieb Matthew einen Brief, dessen Ton zwischen Aufmunterung und Anklage pendelte und der, die Scheidung vorwegnehmend, mit Cynthia Moss unterschrieben war. Es wurde Sommer, und Matthew saß ganze Tage vor der Steinmauer des Friedhofs und sah den Eidechsen zu. Irgendwann setzte sich eine auf seinen Schuh und sah zu ihm hoch. Er hielt ihr die offene Hand hin, und sie setzte sich darauf. Am Himmel erschienen ab und zu Wolken, die der Frühling dort vergessen hatte, dann duckte sich das Tier in die Wärme von Matthews Handfläche und wartete, bis die Sonne es erneut traf. Leute gingen auf den Wegen hinter ihm, Matthew konnte das Weinen einer Frau hören. Der Gärtner war mit einer Schubkarre, aus der eine farbige Schleife hing, auf dem Weg zum Komposthaufen. Auf der anderen Seite der Mauer wehte aus einem offenen Auto ein Lied, nichts Trauriges. Ein Kind rief etwas, im schmutzigen Himmelblau spannte sich eine Schnur, an deren Ende ein Flugzeug hing.

Matthew weinte, aber er wusste, dass es aufhören würde. Heute würde er nach Hause gehen und Licht ins Zimmer lassen. Er würde den Umschlag mit der Kündigung wegwerfen, das Cello aus dem Kasten nehmen und darauf spielen. Die Töne würden zuerst wehtun, aber er würde nicht aufhören zu spielen. Er würde versuchen weiterzuleben. Er schob die Eidechse sanft von seiner Handfläche, stand auf und ging nach Hause.

Eine Woche später bat er Agnes, wieder bei ihm einzuziehen, was die alte Dame mit Freuden tat. Die polnische Cellistin schloss sich einem vagabundierenden Streichensemble an, das in Kurorten spielte, und Cynthia ging nach Kanada, wo sie Konzerne beriet, wie man am gewinnbringendsten Wälder abholzte. In den ersten Wochen nach ihrer Abreise rief sie Matthew regelmäßig an, um zu fragen, wie es ihm ging, dann meldete sie sich noch einmal im Monat und schließlich gar nicht mehr. Matthew und Agnes besuchten wieder Konzerte und Fußballspiele, und aus einem Abendessen im Restaurant pro Woche wurden zwei und manchmal drei. Am Wochenende gingen die beiden mit Hunden aus dem Tierheim spazieren, und eines der Tiere, einen Boxer mit nur einem Auge, nahmen sie zu sich.

Als die Stadt den Friedhof vergrößern und dabei die alten Steinmauern abreißen wollte, gründeten sie ein Komitee. Sie sammelten Unterschriften, aber die Leute hatten andere Sorgen. Zwei Wochen bevor die Bulldozer kamen, gingen Matthew und Agnes und eine Handvoll Mitglieder des Tierschutzvereins mit Netzen und Eimern los und fingen so viele Eidechsen, wie es die Flinkheit der Tiere und die Zeit erlaubten. Agnes hatte Mehlwürmer als Köder besorgt und Matthew Fallen aus Abflussrohren gebaut. Drei Tage vor dem Abriss waren die Fallen leer, und Matthew hatte das Gefühl, das Bestmögliche getan zu haben. Er, Agnes und Stuart Doyle, ein fünfundsiebzigjähriger ehemaliger Feuerwehrmann, dem das Leben im Altersheim zu wenig bot, fuhren in Stuarts Auto zu einer ehemaligen Kiesgrube und setzten die Eidechsen aus. Bis in den Abend saßen sie auf warmen Felsen und tranken Wein. Agnes und Stuart hielten sich an der Hand, und Matthew lächelte vor sich hin. Von diesem Tag an erwachte er nicht mehr jede Nacht, aufgeschreckt durch einen Traum, in dem sein Sohn starb.

Wochen vergingen und Monate, und schließlich verschwanden die Albträume ganz. Stuart zog bei ihnen ein, er war der alleinstehende Herr, auf den Agnes gewartet hatte. Wenn sie am Abend Karten spielten, stellte Matthew sich vor, die beiden seien seine Eltern, und obwohl ihn die Sehnsucht nach William nie loslassen würde, obwohl das Tierheim vor dem Ruin und die Welt am Rand des nächsten Krieges stand, fühlte er etwas in sich, das er als Glück wiedererkannte.

Wilbur wurde nicht Matthews Sohn, auch nicht sein Enkel. Er nahm keinen Platz ein, füllte keine Lücke aus. Er war ein Junge, der vorbeikam, ein Besucher, der das Cellospiel lernte. Nicht die Sehnsucht nach einem toten Kind linderte er, sondern den Schmerz des Alleinseins. Er liebte das Cello, das kleiner war als das von Matthew, geeignet für seine winzigen Hände und kurzen Finger, die nach den ersten Stunden voller Blasen waren. Beim Spielen legte er manchmal die Wange an das Instrument und ließ das Summen, das jetzt greifbar schien, in seinen Kopf strömen. Matthew wies ihn nicht zurecht, er lächelte und spürte die Schwingungen an der eigenen Haut. Wilbur war eine Batterie, die sich durch die Töne des Cellos speiste, und je voller und energiegeladener er wurde, desto leuchtender geriet sein Spiel. Der Umgang mit dem Instrument kam ihm nicht wie Lernen vor, vielmehr schien es ihm, als würde er sich an Fähigkeiten erinnern, die er einmal besessen hatte. Es war, als löse jede Tonfolge eine neue Schicht des Erinnerns, unter der eine längst beherrschte Fertigkeit lag, als sei jeder Griff und jeder Zug des Bogens die Seite eines Buches, in dem er zurückblätterte.

Wenn er spielte, war er sich nicht bewusst, dass er eine Abfolge von Bewegungen ausführte, die ein Ziel verfolgten, weil er das Ziel erst erkannte, wenn es sich als gefundener Klang im Raum ausbreitete. Er holte einfach Töne aus dem Holzbauch heraus und spielte sie so lange falsch, bis sie es nicht mehr waren. Dabei entstand eine endlose, monotone Melodie, deren Schieflage sich derart langsam dem gesuchten Ton entgegenneigte, dass jemand, der nur eine Weile zuhörte, keinen Fortschritt hätte erkennen können. Matthew fühlte sich an sein altes Radio erinnert, dessen Skalenregler er oft minutenlang drehte, bis er die klaren Signale eines Senders fand. Das Cello war Wilburs Radio, auf dem er Töne suchte und Klänge fand und auf Bruchstücke stieß, Akkorde, die sich zu Melodien formten und irgendwann zu Musik.

Manchmal saßen Matthew und Wilbur einen ganzen Nachmittag lang da und hörten Schallplatten, oft dieselbe immer und immer wieder. Oder Wilbur lernte Notenlesen. Matthew erklärte ihm eines Tages das Grundprinzip, danach blieb dem alten Mann nur noch Staunen. War Wilburs Gehirn in der Schule ein Schwamm, der sich wie von selbst mit Wissen vollsog, dann war es jetzt ein riesiger Planet, der fiebrig glühend kreiste und jede Information anzog und seiner Masse einverleibte.

In seinem Zimmer schrieb Wilbur Sonaten ab, ganze Symphonien. Vor dem Einschlafen summte er das am Tag Gehörte, nach dem Aufwachen pfiff er, was er später spielen würde. Pauline fand, ihr Pflegesohn übertreibe es mit der Begeisterung für Musik ein wenig, aber sie kannte Matthew Fitzgerald, und obwohl er kein Katholik, ja nicht einmal Protestant war, teilte sie die Ansicht der Leute im Ort, er sei ein anständiger Mann.

Als Wilbur immer öfter bis zum Abend verschwunden war, hatte sie ihn zur Rede gestellt, und Wilbur hatte ihr von den Cellolektionen erzählt. Wenig später waren Pauline und Henry zu Gast bei Matthew und überzeugten sich davon, dass der alte Mann dem Jungen beibrachte, ein Instrument zu spielen. Es gab Tee und Gebäck, und Wilbur setzte ein paar Töne aneinander, die entfernt an eine Melodie erinnerten. Matthew trug seinen besten Anzug und versprach den Conways beim Abschied, bis Weihnachten könne Wilbur auf dem Cello Stille Nacht spielen. Pauline war von dieser Aussicht begeistert und malte sich bereits aus, wie der dank ihres Einflusses wohlgeratene Ziehsohn beim Gottesdienst die Gemeinde in Beifallsstürme ausbrechen ließ.

Henry meinte, der magere Junge solle sich neben der Musik auch dem Sport widmen und Gaelic Football oder Hurling spielen, aber damit fand er weder bei Wilbur noch seiner Frau Gehör. Wilbur hasste jede Form von Sport oder sogenannten Spielen, bei denen es um Körperkraft und deren brutalen Einsatz ging, und seit Fintan Taggart sein Turnlehrer war, hatte sich sein Widerwillen noch verstärkt. Pauline teilte Wilburs Abscheu gegenüber roher, als Wettkampf getarnter Gewalt, doch stieß sie sich vielmehr an der Tatsache, dass die muskulösen, verschwitzten Leiber der Burschen bei den jungen Zuschauerinnen unzüchtige Gedanken auslösten. Zudem gefiel ihr die Vorstellung, Wilbur im Bekanntenkreis bald als Hausmusikanten ankündigen zu können, ausnehmend gut, und sie wollte nicht, dass dieser zukünftigen Attraktion ein zum Cellospiel benötigter Finger gebrochen wurde.

Ein halbes Jahr später spielte Wilbur in der Kirche Stille Nacht, wie Matthew Fitzgerald es versprochen hatte, und alle Anwesenden waren sich darin einig, dass Gott mit diesem talentierten Jungen Großes vorhatte.

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