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Es ist sieben Stunden und fünfzehn Tage her, seit ich Aimee das letzte Mal gesehen habe, genau wie in dem Lied von Sinéad O’Connor, das ich in Orlas Küche gehört habe, als ich zehn war. Sie ist nicht runtergekommen. Eine Weile bin ich noch im Regen herumgestanden und dann zurück ins Hotel gefahren. Sie ist wütend auf mich gewesen an jenem Tag, und als sie mich da unten stehen sah, durchnässt und lächerlich, hat sie vermutlich gedacht, dass es das Beste sei, mich abzuhaken. Vielleicht hat auch der gute alte Stew nachgeholfen, hat sich hinter sie gestellt, für mich unsichtbar, und ihr etwas zugeflüstert. Stewart, der Löwenbändiger, der Aimee Aim nennt und nur eine Tür öffnen muss, um bei ihr zu sein.

Ich habe Aimee nie nach ihrer Telefonnummer gefragt, ihre Adresse habe ich mir nicht gemerkt. Wenn ich in die Bronx fahren würde, um das Haus zu suchen, fände ich es vermutlich, irgendwie, irgendwann. Im Telefonbuch steht sie nicht, auch die Auskunft hatte nur eine Aimee Ward zu bieten, aber die schreibt sich Amy, ist Friseuse und wohnt in New Jersey.

Wo ich bin, weiß sie. Wenn sie mich sehen will, wird sie herkommen. Aber diese Hoffnung habe ich aufgegeben, schon vor Tagen. Ich bin nicht gerade der Typ, der einer Frau nicht mehr aus dem Kopf geht. Wahrscheinlich ist sie froh, mich los zu sein, ohne Geschrei und Tränen, wie ich es aus Filmen kenne.

Gut möglich, dass ich hier noch sitze, wenn ich so alt bin wie die Männer, die sich dieses Hotel als Ort zum Sterben ausgesucht haben. Leonidas ist vorgestern für einen Monat nach Kreta geflogen, wo er mit dreihundert Verwandten den Tod seines Lieblingsonkels betrauert. Heute Morgen kam eine E-Mail von ihm. Seine Mutter habe sich weinend auf den Boden geworfen, als er ihr Haus betrat. Ob aus Freude, ihren Sohn zu sehen, oder aus Kummer über den Tod ihres Bruders, wisse er nicht. Sein Onkel, ein ehemaliger Arzt, sei irgendwie einbalsamiert und in der dekorierten Garage seines Hauses aufgebahrt worden. Hinter der Leiche im Sonntagsanzug hänge ein altes Blechschild, das für Mobi-Motorenöl werbe, und in einer Ecke stehe das Rennrad, mit dem der Verstorbene jedes Wochenende herumgefahren sei. Leonidas wolle eine Story über all das schreiben. Von Theaterstücken, auch Komödien, habe er vorerst die Schnauze voll. Kein Schwein interessiere sich dafür, lässt er mich wissen. Jetzt wolle er es mit Kurzgeschichten versuchen.

Die Nachtschicht ist nicht übel. Die meiste Zeit habe ich Ruhe vor den alten Knackern, die sich in ihren Zimmern in einem unruhigen Schlaf wälzen. Mazursky, Alfred und Enrique sitzen zwar jede Nacht bis drei, vier Uhr morgens in der Lobby, trinken schlechten Wein, quatschen dummes Zeug, spielen Karten oder Domino oder irgendetwas anderes, das Zeit totschlägt, aber sie nerven mich nicht mehr. Spencer geht wie jeden Abend um halb elf nach oben in sein Zimmer, nachdem er eine Weile schweigend auf dem Sofa gesessen hat. Dobbs besucht mich jeweils gegen neun und bringt Tee mit, manchmal Kekse. Dann sitzen wir am Computer aus Winstons Beständen und surfen im Internet. Dobbs ist völlig fasziniert von unseren nächtlichen Ausflügen ins Cyberspace. Wir verbringen Stunden vor dem Bildschirm und geben aufs Geratewohl Stichwörter in die Suchmaschine ein. Dann betrachten wir andächtig Aufnahmen von gesprengten Hochhäusern, Beinprothesen aus China, Termitenbauten, Mondgesteinsproben, Verkehrsunfällen mit Nashörnern, von fliegenden Fertighäusern und tätowierten Männern, die uns traurig ansehen.

Manchmal hat Dobbs eine Zeitung oder ein Buch dabei, und wir tippen blind mit einem Kugelschreiber auf ein Wort, das wir dann eingeben. Halloween. Domestizieren. Sprengstoffgürtel. Seerosen. Beziehungsunfähigkeit. Es gibt kurze Filme, die wir uns ansehen. Ein Baum wird maschinell in wenigen Sekunden gefällt, von den Ästen befreit, geschält und in gleich lange Stücke zerlegt. Nackte Menschen, die durch Schnee rennen und in ein ins Eis geschlagenes Loch springen. Eine schwarze Katze, die in ein Aquarium fällt, immer wieder, weil Dobbs endlich mal lacht. Eine Weltumrundung mit dem Satelliten. Die zehn schönsten Touchdowns.

Wir geben Wörter ein, die wir uns ausdenken, oder wir schließen beim Tippen die Augen. Wir versuchen es mit Phantasiewebseiten und folgen abgründigen Links, wir landen in Asien und Russland, bei harmlosen Spinnern und Verrückten und Leuten, um die man sich wirklich Sorgen machen muss. Wir lesen Auszüge aus dem Tagebuch eines chilenischen Opernsängers, staunen beim Anblick von Bisswunden australischer Haie und lernen eine Bildhauerin aus Nevada kennen, die Türme aus Lehmziegeln baut, von denen sie springt, bis sie sich ein Bein bricht. Nach der Heilung legt sie den Gips in den Turm und verschließt ihn. Man kann ihre Werke nicht kaufen, nur mieten. Ich müsste zweieinhalb Jahre hier arbeiten, um einen ihrer Türme einen Monat lang zu mieten.

Als Dobbs auf seinem Zimmer ist, gebe ich bei Google Aimee Ward ein. Drei Treffer. Eine wohnt in Utah, eine in England, die dritte in Wyoming. Eine ist Sportlerin, die andere Bürgermeisterin eines winzigen Kaffs, die in Utah schreibt medizinische Artikel für Fachzeitschriften. Ich gehe auf eine Seite mit Stadtplänen der Bronx und streife durch die Straßen, suche die U-Bahn-Station, an der wir ausgestiegen sind, finde sie aber nicht, gehe hoch zur Fordham Road und zur Kingsbridge Road, runter zur Burnside Avenue, dann rüber zur Tremont Avenue. Der große grüne Fleck ist der Botanische Garten. Auf der Website sehe ich den Kuppelbau aus Glas und die Gewächshäuser, Bäume und Seen und einen Fluss, alles mitten in der Bronx. Ich betrachte Bambussträucher und versuche mich an den Namen einer Bar zu erinnern, an der wir vorbeigegangen sind. Auf der Website des Zoos suche ich nach den Mitarbeitern, aber die Tierpfleger sind nicht aufgeführt. Über Stewart hätte ich Aimee gefunden. Ich könnte in den Zoo gehen und nach ihm fragen. Vielleicht hätte ich Glück und würde ihn dabei erwischen, wie er Zebrakacke in eine Schubkarre lädt. Natürlich könnte ich in der Stadt der Selbstmörder anrufen, bestimmt haben die noch ihre Adresse oder Telefonnummer.

Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung, eintausendzweihundertelf Einträge. Selbstmord, einhundertzwanzig Millionen Treffer. Ich klicke wahllos ein paar Seiten an, stoße auf Selbsthilfegruppen und Polizeiberichte, auf Hemingway und Sylvia Plath und einen kalifornischen Professor, der sich die Mühe gemacht hat, Selbstmordarten nach Erfolgswahrscheinlichkeit, Sterbezeit und Schmerzfaktor aufzulisten. Sich in die Luft zu jagen ist Donald I. Templers Meinung nach am effizientesten. Auf seiner Schmerzskala, die von eins bis hundert reicht, steht bei Sprengstoff eine Vier. Die Chancen, dabei auch wirklich umzukommen, sind mit sechsundneunzig Prozent sehr gut und werden nur noch von einem Kopfschuss übertroffen, wo man zu neunundneunzig Prozent draufgeht und einen Schmerzpegel von sechs aushalten muss, wenn man als Waffe ein Gewehr wählt. Mit einer Pistole sinkt die Erfolgsquote um zwei Prozent, und der Schmerzpegel liegt bei dreizehn. Ein leichtes Schaudern befällt mich, als ich lese, dass Selbstverbrennung mit fünfundneunzig Punkten die schmerzhafteste Art ist, sich zu töten, dass sie im Schnitt siebenundfünfzig Minuten dauert und nur in siebenundsiebzig von einhundert Fällen erfolgreich ist. Das Ertrinken in einem See oder Meer ist mit neunundsiebzig Punkten genauso qualvoll wie das Ertrinken in der Badewanne, und beides dauert durchschnittlich neunzehn Minuten. Für die Naturvariante spricht, dass ihr mit dreiundsechzig Prozent fast dreimal so viel Erfolg winkt wie der häuslichen Lösung.

Wenn die Nachtschicht zu Ende ist, esse ich etwas und lege mich dann für ein paar Stunden hin. Ich brauche nicht viel Schlaf. Gegen zwölf bin ich meistens wieder auf und erledige die Arbeiten, für die Dobbs zu alt ist. Vor einer Woche habe ich Randolph dazu überredet, Dobbs als meinen Assistenten einzustellen. Dobbs ist für die leichten Jobs zuständig, ich mache alles andere. Er wandert mit dem Staubsauger durch das Gebäude, ich schleppe die neuen Gasflaschen für Madame Robespierre in die Küche. Er räumt die alten Zeitungen aus der Lobby und leert die Aschenbecher, ich steige in den Liftschacht, um Alfreds Sozialversicherungskarte rauszuholen. Ich zerre den Abfallcontainer über den Hinterhof bis zur Straßenecke, ich streiche Fett in die Scharniere der Feuerleiter, ich säge die Bretter zu, die unter Mazurskys Matratze kommen, damit sein ausgeleierter Rücken nicht noch krummer wird, und ich suche auf dem Dach nach dem Leck, durch das Wasser ins oberste Stockwerk dringt, während sich der Himmel über mir entleert.

Den Begriff Freizeit habe ich aus meinem Vokabular gestrichen. Wenn ich mal nichts zu tun habe, gehe ich rüber zu Winston und sehe mir die Trümmerteile menschlicher Abstürze an. Oder ich fahre mit dem Bus in der Gegend rum, steige irgendwo aus und suche eine Buchhandlung oder einen Plattenladen. Ich nehme mir ein Buch und setze mich hin, bis die Angestellten mir Blicke zuwerfen oder fragen, ob sie mir helfen können. Dann bedanke ich mich und gehe, ohne etwas zu kaufen. In den Plattenläden höre ich mir stundenlang Musik an. Manchmal bestelle ich eine ausgefallene, nicht vorrätige CD und gebe einen erfundenen Namen und eine falsche Adresse an. Letzte Woche war ich Jimmy Teduski, wohnhaft Montgomery Street 18, Jersey City, und plauderte mit einem Verkäufer aus der Rockabteilung über Kurt Cobains angeblichen Selbstmord und die Frage, ob Elvis sich umgebracht haben könnte. Jimmy Teduski ist der Auftragskiller, den Bruce Willis im Film The Whole Nine Yards spielt.

Vorgestern verwickelte ich als Maarten Vermeer, Vanderbilt Avenue 312, Brooklyn, die junge Angestellte eines Buchladens in ein Gespräch über Virginia Woolf und fragte sie, ob es Aufzeichnungen darüber gebe, wie kalt das Wasser des Flusses war, in dem die Dichterin sich ertränkt hatte. Die Verkäuferin versprach, sich um die Sache zu kümmern, und verschwand in einem Hinterzimmer. Ich gebe mich gerne als jemand anderes aus, ich selber zu sein fällt mir noch immer schwer.

Wenn das Wetter schön ist, nehme ich die Reise zum Prospect Park auf mich und setze mich am Rand einer Wiese auf eine Bank. Oft spielen ein paar Jungs Football, jedenfalls so was Ähnliches. Beim Anblick der herumtobenden Schulschwänzer, Tagediebe und Arbeitslosen muss ich an Conor und mich denken und daran, wie wir auf unserem mickrigen Berg gesessen und in unsere enge Welt geschaut haben, tagelang und beinahe bewegungslos, gedankenverloren Bilder und Geschichten verdauend und auf eine bescheuerte Weise glücklich.

Vor einer Woche saß ich auch da, las Zeitung und sah zu, wie ein Rudel Halbstarker den Rasen umpflügte. Obwohl sie offenbar zwei Teams gebildet hatten, war nicht zu erkennen, wer gegen wen spielte. Kaum hatte der Typ, der sich für den Quarterback hielt, den Ball geworfen, stürzten sich alle auf die Stelle, wo das Ei herunterkam. Dann begannen die Balgerei und das Gegröle, und nach einer Weile rappelten sich alle auf, und das Ganze ging von vorne los. Es sah aus, als ob jemand einen Laib Brot in einen Teich wirft und ein Dutzend Enten sich darum fetzt.

Irgendwann flog der Ball in meine Richtung und kollerte mir vor die Füße. Der Kerl, der mit seinen langen Armen kein übler Fänger war, holte den Ball. Ich legte rasch die Sportbeilage auf den Kulturteil der New York Times vom Vortag und reichte ihm das abgegriffene Leder. Er sah mich an und fragte, ob ich mitspielen wolle. Ich dachte, ich hätte ihn falsch verstanden, sagte nur so etwas wie» nettes Spiel«, aber dann meinte er, sie bräuchten einen zwölften Mann und in der Zeitung stünde eh bloß Mist. Er grinste und drehte den Ball in der Hand und hörte nicht auf seine Kumpel, die ungeduldig wurden. Ich schätze, der Bursche war vierzehn, vielleicht fünfzehn, auf seinem Leibchen stand KILLER WHALE. Mir wurde schlagartig bewusst, dass er mich für etwa gleich alt halten musste.

Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt und einen Meter einundsechzig groß, wiege dreiundfünfzig Kilo und sehe aus wie fünfzehn, nach einer schlaflosen Nacht und bei schlechter Beleuchtung wie sechzehn. Wenn ich Glück habe, lässt man mich mit dreißig in ein Pornokino, ohne meinen Ausweis zu verlangen, und sollten mir mit vierzig endlich graue Haare wachsen, werde ich im Supermarkt vielleicht nicht mehr von minderjährigen Mädchen angesprochen, die sich mit mir verabreden wollen. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich aussehen werde, wenn ich so alt bin wie Dobbs oder Spencer, also Ende siebzig, Anfang achtzig, und sehe einen alten Sack vor mir, der, falls das überhaupt möglich ist, geschrumpft ist und mit trüben Augen aus dem glatten Gesicht eines vergreisten Babys schaut.

Ich sagte, ich hätte mir vor wenigen Tagen den Fuß verstaucht, erfand eine kleine Geschichte, in der ich mich als Feierabendfußballer darstellte, der im Strafraum hart gefoult worden war. Der Typ sagte, tja, da könne man nichts machen, ging zurück aufs Feld und schmiss das Brot in den brodelnden See. Als ich etwas später den Park verließ, humpelte ich, was mir erst auffiel, als ich schon auf der Sterling Street stand.

Heute ist etwas Unglaubliches passiert. Spencer hat mit mir gesprochen. Beim Frühstück ist er an meinen Tisch gekommen und hat mich gefragt, ob ich ihn zum Arzt begleiten könne. Der Termin sei um vier und die Praxis ganz in der Nähe. Natürlich sagte ich ja. Spencer bedankte sich und ging auf sein Zimmer. Als er mich ansprach und diese eine Frage an mich richtete, wurde es im Speisesaal still. Sogar Alfred und Enrique hielten für einen Moment die Klappe. Spencers Stimme ist dünn, aber tief, er redet leise und sehr deutlich, mit der flüchtigen Spur eines englischen Akzents. Ich fühlte mich geehrt, und als Mazursky Spencer nachäffte, kippte ich ihm meine restlichen Cornflakes über die Rühreier.

Nach fünf Stunden Schlaf erledige ich meine Arbeit, dusche und trinke einen Kaffee. Um halb vier kommt Spencer in seinem guten Anzug in die Lobby, und wir gehen los. Spencer bewegt sich sehr langsam, und wenn wir die Straße überqueren, hält er sich an meinem Arm fest. Versuche ich mit ihm zu reden, hört er mich wegen des Verkehrslärms nicht, und im Wartezimmer will ich nicht fragen, was ihm fehlt, weil so viele Leute um uns herum sitzen.

Zu meiner Überraschung hat Spencer schon im Fahrstuhl ein gefaltetes Etwas aus rotem Plastik aus der Tasche seines Jacketts gezogen und aufgeblasen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er mit seinen verschrumpelten Lungen das Ringkissen gefüllt hatte, aber er schaffte es und setzte sich mit einem um Nachsicht bittenden Lächeln darauf. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Durchblättern von Illustrierten, sehe mir Landhäuser in Maine an und die neue Wintermode und den Typ, den Nicole Kidman gerade abserviert hat. Ab und zu lächle ich Spencer aufmunternd zu, jedenfalls hoffe ich, dass es aufmunternd wirkt.

Spencer bleibt ziemlich lange beim Arzt drin. Dann kommt er endlich und strahlt, als wäre er überrascht, mich noch hier vorzufinden. Ich lade ihn zu einem Kaffee in ein russisches Lokal ein, wo er mir bei einem Glas Eistee erzählt, er habe seit über einem Jahr Prostatakrebs. Als ich ihn entsetzt ansehe, lächelt er und sagt, das sei nicht so schlimm, er sei sowieso nicht besonders scharf darauf, neunzig Jahre alt zu werden. Zu meinem Erstaunen äußert er den Wunsch, ins Kino zu gehen. Was wir uns ansehen, ist ihm egal, und so setzen wir uns in einen Science-Fiction-Film, dessen Dolby-Sorround-Getöse sogar Spencers betagte Ohren erreicht. Ich finde den grässlichen Streifen nur deshalb toll, weil er Spencer begeistert. Als ein Raumschiff einen Meteoriten mit irgendeinem Strahl pulverisiert, lehnt Spencer sich zu mir herüber und sagt, genau das wolle der Arzt mit seiner Prostata tun, aber er lasse es nicht zu.

Später essen wir eine Suppe in einem Imbisslokal, das ein junger Iraner führt und das aussieht wie ein Verkaufsraum für Restposten von Polstermöbeln und Beistelltischen. Spencer versinkt in seinem Ohrensessel und erzählt mir von Pevensey in England, wo er aufgewachsen ist, von seinem Pferd, dessen Name ihm zu seiner großen Verlegenheit nicht mehr einfallen will, von seinen Eltern, seiner Schwester Zelda, vom Krieg und vom Weggehen und vom Ankommen in einem Land, das ihm bis heute fremd geblieben ist. Seine Stimme ist leise, und ich beuge mich zu ihm vor und warte mit dem Kauen, bis er eine Pause macht und einen Löffel Hühnersuppe isst.

Auf dem Weg zum Hotel holt er in einer Apotheke seine Medikamente. Die Packungen mit den Pillen und Kapseln füllen die ganze Einkaufstüte, die er aus dem Jackett zaubert wie zuvor das aufblasbare Kissen.

«Die hier sind gegen die Schlaflosigkeit«, sagt er zu mir,»die gegen die Schmerzen, die gegen die schlimmen Schmerzen.«

«Und die hier?«frage ich und lege eine Packung in die Tüte.

«Habe ich vergessen«, sagt Spencer.»Vermutlich gegen das Sterben.«

Offenbar sehe ich ihn mit einer Mischung aus Bestürzung und Verlegenheit an, denn er lächelt, stopft die letzte Packung in die Tüte und schiebt mich aus dem Laden.

«Kommen Sie, Wilbur, das ist kein Ort für einen gesunden jungen Mann.«

Wir treten auf die Straße, und Spencer hakt sich bei mir ein. Im wogenden Fluss der Menschheit sind wir zwei Steine, die langsam am Grund entlangkollern, Millionen von Jahren alt.

Nachts sitze ich am Empfang und lese. Das Hotel ist zwar nicht voll belegt, aber es kommt nur sehr selten vor, dass nach acht Uhr abends jemand ein Zimmer will. Wir vermieten nur an Männer, das steht groß auf einem Schild an der Fassade. Als Randolph mal seine gesprächigen fünf Minuten hatte, erzählte er mir, dass diese Einschränkung bis vor ein paar Jahren nicht gegolten hatte. Aber Frauen, vertraute Randolph mir an, seien die Wurzel allen Übels, und Frauen und Männer unter einem Dach die Garantie für Chaos, Zerstörung und das Ende der Zivilisation. Ich hörte mir Geschichten an von Ehebruch und Prügeleien, von nackten Typen auf Feuerleitern und Polizisten, denen hysterische Furien das Gesicht zerkratzten.»Keine Frauen in diesem Laden«, hatte Randolph mir eingeschärft.»Madame Robespierre und deine Kleine sind Ausnahmen.«

Meine Kleine. Nicht mal ein Bild habe ich von ihr.

Mit Leonidas habe ich mal darüber gesprochen, ein Drehbuch zu schreiben. Er findet Hollywood zum Kotzen und würde nie für dieses, wie er sagt, kulturlose und geldgeile Inzuchtpack arbeiten. Aber Leonidas findet auch Shakespeare zum Kotzen, weil dessen Stücke so oft gespielt werden. Im Kino liefen heute die Trailer zu drei Filmen, zwei davon waren Action-Streifen. Ich warte seit fünf Jahren auf den vierten Teil von Die Hard und hätte ein paar Ideen, wie er aussehen könnte. Als ich Leonidas davon erzählt habe, fand er meinen Plot gar nicht so übel, auch wenn ihm die Handlung zu wenig dramatisch war. Das Leid der Hauptfigur, John McClane, müsse noch stärker spürbar sein, der Held müsse am Rand der Vernichtung stehen, um aus der Asche aufsteigen und erstrahlen zu können. Ich tat so, als würde ich mir den Rat zu Herzen nehmen, und bedankte mich für die Bücher zum Thema griechische Tragödie, die er mir lieh. In seiner Mail von gestern meinte er, falls ich das Ding noch immer schreiben wolle, solle ich mehr Heiterkeit reinpacken. Leonidas arbeitet gerade an einer witzigen Kurzgeschichte über seine Reise nach Kreta, danach will er seinen Job im Hotel der alten Männer humoristisch verwerten. Wenn ich morgen von ihm erfahren würde, er wolle Haikus oder Kinderbücher verfassen, wäre ich nicht überrascht.

Einen Titel hat mein Drehbuch auch schon, Die Hard 4 — No Return. Bruce Willis, also John McClane, wird darin sterben. Ich finde, vier Teile sind genug, und Helden, die im Einsatz statt an Altersschwäche oder verdorbenem Essen sterben, halten sich am längsten, siehe Jesse James, John F. Kennedy, Jesus. Der größte Teil der Geschichte spielt in einem Schloss in Schottland, wohin McClane, seine Frau Holly und seine beiden Kinder Lucy und John Jr. eingeladen worden sind. Spendiert hat die Reise ein reicher Kerl, dem McClane in Die Hard 3 das Leben gerettet hat. Das riesige, aus dunklem Stein gebaute Schloss ist von einem Wassergraben umgeben und mit der funktionierenden Zugbrücke vor allem bei reichen amerikanischen und japanischen Gästen beliebt. Waltraud Gruber, die Mutter von Hans und Simon, die McClane in Die Hard 1 und Die Hard 3 getötet hat, taucht aus ihrem Exil in Argentinien auf, wo sie und alte Nazifreunde ein Weingut betreiben und mit Drogen- und Waffenhandel den weltweiten Aufbau von rechtsextremen Zellen finanzieren. Natürlich ist sie die anonyme Spenderin der Familienreise, und natürlich will sie Rache für ihre Söhne. Ihr Plan ist es, Holly und die Kinder umzubringen und es so aussehen zu lassen, als habe McClane die Morde begangen, weil Holly ihn verlassen wollte. Dazu engagiert sie einen Spezialisten, der in Hollys Schrift einen Trennungsbrief verfasst, den die Polizei später bei McClane finden soll. Waltraud nimmt Drogen und ist völlig durchgeknallt, und sie will sehen, wie McClane leidet und sich aus Verzweiflung das Leben nimmt. Das Drehbuch ist düster und ziemlich schräg, es kommen Geister darin vor, die im Schloss spuken, und eine Weile lasse ich die Zuschauer im Glauben, die süße Lucy sei tot, aber außer der Schurkin, ihren Komplizen und John McClane muss niemand sterben. Ein Schuss Humor kommt auch in die Geschichte, weil sich einer der Zimmerkellner unsterblich in Waltraud verliebt und ihr bei ihren Mordplänen im Weg steht, so ähnlich wie Jack Lemmon dem Profikiller Walter Matthau in Buddy, Buddy. In der Rolle Waltrauds sehe ich Judi Dench oder Meryl Streep.

Ich habe keine Ahnung, wie man Drehbücher schreibt, aber in der Bibliothek gibt es Literatur zu dem Thema. Es scheint, als hätten sämtliche Autoren, von denen mal ein Script verfilmt wurde, ein Lehrbuch verfasst. Die Anleitungen sind meistens für Anfänger gedacht, Studenten und Hausfrauen, Leute, die es zur Abwechslung mit Drehbuchschreiben statt Gedichten oder naiver Malerei versuchen wollen. Vielleicht gehe ich die Sache wirklich mal an, um zu sehen, ob ich eine erste Fassung hinkriege. Ich könnte mir bei Winston eine gebrauchte Schreibmaschine besorgen und nachts arbeiten, wenn hier sowieso nichts los ist. In einem Monat sollten die hundertzwanzig Seiten zu schaffen sein.

Vielleicht fliege ich mit dem fertigen Drehbuch nach Los Angeles und biete es einem Agenten an. Vielleicht ist ganz Hollywood von mir begeistert, und ich plaudere schon bald mit Bruce Willis am Set meines Films, für den man mir außer ein paar Millionen auch die Regie angeboten hat.

Vielleicht steht Aimee morgen in der Hotellobby und wir sind wieder zusammen.

Ich liege auf meinem Bett und schließe die Augen. Aus Dobbs’ Zimmer dringt kaum hörbar das Radio. Dobbs mag Swing, er versetzt ihn in die Zeit, bevor die Dinge passiert sind, die ihn aus der Bahn geworfen haben. Ich versuche mich an Musik zu erinnern.

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