Hatte Wilbur vor ein paar Tagen noch gedacht, die Weihnachtsfeier in Four Towers sei an Tristesse nicht zu überbieten, wurde er am Neujahrsfest eines Besseren belehrt. Im Speisesaal waren ein paar farbige Luftballons und Papierschlangen an Schnüren aufgehängt, und auf den Tischen lagen die in weiße Farbe getauchten Tannenzweige vom Heiligabend, über die etwas Konfetti gestreut worden war.
Nach dem Abendessen hielt Robert Moriarty eine Rede, in der achtmal das Wort Zukunft vorkam. Worauf sich die Aufmerksamkeit der Jungen richtete, waren jedoch nicht die gutgemeinten Ratschläge des Direktors, sondern die Brüste seiner Frau Elizabeth. Sie hatte Robert vor einem halben Jahr geheiratet, und es war ihr erstes Silvester im Erziehungsheim. Während ihr Mann von Tugenden und Anstand sprach, hefteten sich die Augen zahlloser in sexuellen Nöten steckender Burschen auf den Busen der Frau, die neben dem Rednerpult saß und an den weißen Handschuhen in ihrem Schoß zupfte.
Auch Wilbur sah hin, aber nicht aus purer Geilheit, sondern weil ihm der Anblick eines weiblichen Wesens ein wenig Trost verschaffte. Miss Rodnick war, wenn sie sich überhaupt einmal im Flur vor dem Büro oder beim Gang über den Hof zeigte, ebenso unnahbar wie unattraktiv, und Geraldine sorgte mit ihrer ruppigen Art dafür, dass die Jungs sie gar nicht erst als Frau wahrnahmen. Denjenigen, die es dennoch taten und lüstern auf ihren Hintern schielten, wenn sie sich bückte, zog sie eins mit dem Kochlöffel über. Elizabeth Moriarty, großgewachsen und mit einer zerstreuten Traurigkeit in den graublauen Augen, erinnerte Wilbur an eine Frau, die er zu kennen glaubte, deren Gesicht und Stimme er sich jedoch nicht ins Gedächtnis rufen konnte.
Aus einem Grund, der ihm verborgen war, musste er im erbärmlich dekorierten Speisesaal an sonnendurchflutete Landschaften denken, an gewundene Feldwege und blaue Himmel, in denen unerreichbare Vögel flatterten, an sommerwarme Wiesen und von grünen Hügeln gesäumte Täler, in die er hineinglitt wie in einen flackernden Tunnel. An all das musste er beim Betrachten von Elizabeth Moriarty denken, deren gewelltes Haar im Schein der an Schnüren baumelnden Laternen rötlich schimmerte.
Ab und zu blickte Wilbur zur Seite. Conor saß drei Reihen weiter vorne und schien ebenfalls in die Betrachtung der Oberweite von Moriartys Frau versunken. Wie immer, wenn er Conor sah, fochten zwei Mächte in Wilbur einen erschöpften Kampf. Die eine wollte, dass er sich mit dem alten Freund versöhnte und ihm verzieh, wollte vergessen und abschließen und dort anknüpfen, wo vor sieben Jahren alles aufgehört hatte. Die andere sah nur das Gesicht, das voller Hass gewesen war, die Hand, deren Finger den Abzug gezogen und die Welt in Dunkelheit gestürzt hatte. Conors Worte gingen unter im himmelzerreißenden Knall des Revolvers. Wilbur hörte die Entschuldigung nicht, nicht die Beteuerungen und die Reue und den Schmerz. Hätte Conor Lynch an jenem Tag nicht auf seinen Vater geschossen, wäre das Pferd nicht losgaloppiert und in Orlas Wagen gerannt. Orla würde noch leben. Wilbur wäre nicht zu Pflegeeltern gekommen, hätte sein Zimmer nicht in Brand gesteckt und säße jetzt nicht hier und müsste sich eine Rede über die Verheißungen der Zukunft anhören.
Irgendwann war die Rede zu Ende. Nachdem die Tische und Stühle zur Seite geschoben worden waren, scherbelte bis fünf Minuten vor Mitternacht aus einem der Bezeichnung Stereoanlage spottenden Gerät Musik, die Robert Moriarty für Pop hielt, und ein paar der Jungen tanzten sich auf der freien Fläche ihre Wut und Frustration aus dem Leib. Um Mitternacht wurde mit alkoholfreiem Fruchtpunsch auf das Neue Jahr ange stoßen. Zehn Minuten später mussten die Jungen in die Wasch räume und dann ins Bett, um Punkt halb eins wurden die Lichter gelöscht. Danach hatten die Zöglinge noch ausreichend Zeit, sich Gedanken über die Ansprache des Direktors zu machen. Stattdessen träumten sie von weichen Brüsten und knirschten vor Sehnsucht mit den Zähnen.
Conor war seit drei Jahren und zwei Monaten in Four Towers. Nachdem er auf seinen Vater geschossen hatte, war er nach Donegal überführt worden, wo er die Nacht auf der Polizeiwache verbracht hatte. Danach hatte man ihn in Sligo verhört und ihn dann in Galway vom selben Psychologen begutachten lassen, der fünf Jahre später auch einen Bericht über einen Cello spielenden Brandstifter verfassen sollte. Anders als bei Wilbur befand der Psychologe jedoch, dass es sich in Conor Lynchs Fall nicht um die Verzweiflungstat eines im Grunde sensiblen und hochintelligenten Kindes handelte, sondern um den kaltblütig versuchten Mord am verhassten Vater, ausgeführt von einem zu Gewalt neigenden Burschen, der auch mehrere Wochen nach dem Verbrechen keine Reue zeigte. Ein Gutachten der Sozialbehörde wies darauf hin, dass die Mutter mit der Weiterführung des Sägewerks, der Erziehung der Tochter und der Betreuung des behinderten Sohnes völlig ausgelastet und der Verbleib Conors in der Familie nicht zu verantworten sei. Aufgrund dieser Einschätzungen wurde Conor, damals zwölf Jahre alt, der Obhut des Staates übergeben.
Die ersten anderthalb Jahre saß er in der Besserungsanstalt für minderjährige Straftäter im County Limerick, wo er neun Stunden täglich Besenstiele lackierte und zweimal in der Woche einen Therapeuten zur Verzweiflung brachte, indem er den Mund nicht öffnete. Dann wurde er probeweise in einen von katholischen Mönchen und ehemaligen Sträflingen geführten Landwirtschaftsbetrieb in Cavan gesteckt. Dort wollte man ihn jedoch bereits nach einem halben Jahr nicht mehr haben, weil er die eingesperrten Kaninchen, Ziegen und Hühner freiließ und sich weigerte, am Schlachttag mitzuhelfen. Zurück am alten Ort, benahm er sich mustergültig und wurde ein Jahr später nach Four Towers verlegt. Hier gehörte er zwar nicht zu den Vorzeigejungen, die bei Besuchen von höherer Stelle im Hof Spalier standen und handgeschnitzte Heugabeln an Kommunalpolitiker verteilten, fiel aber auch nicht oft genug auf, um zu den Problemfällen zu gehören.
Direktor Moriarty betrachtete es als seine moralische Verpflichtung, jedem Jungen eine zweite Chance zu geben, auch Conor Lynch. Er tat das, obwohl er in Conors Akte ein dickes rotes Ausrufezeichen gemalt hatte, das Vorsicht, und daneben ein schwarzes Kreuz, das Mordversuch bedeutete. Neben Conor gab es drei weitere Jungen, deren Akten diese Symbole zierten. Andrew Sheahan hatte auf den Saufkumpan seines Vaters eingestochen, der seiner kleinen Schwester zu nahe gekommen war, Padraig McLoughlin hatte versucht, seine Stiefmutter zu vergiften, und Liam O’Toole war nach einer Schlägerei neben seinem halbtoten Freund aufgewacht.
Moriarty ließ keinen Zweifel daran, dass sich diese Burschen eine große Schuld aufgeladen hatten und zur Rechenschaft gezogen werden mussten, aber sie waren für ihn keine Schwerkriminellen, die es wegzusperren galt. Seine Lebensaufgabe sah er darin, die Zöglinge in Four Towers zu tüchtigen, verantwortungsvollen Menschen heranzubilden, und die Conors Entwicklung betreffenden Notizen, die er in die Akte eintrug, belegten dieses Vorhaben. Tauchten in den Vermerken zu Beginn noch Adjektive wie aufmüpfig, störrisch, aggressiv und unruhig auf, wurden diese im Laufe der Zeit ersetzt durch anpassungsfähig, wissbegierig und kooperativ. Moriarty beobachtete Conors Verhalten sehr genau und beabsichtigte, sich bald für den Jungen einzusetzen und zu bewirken, dass er zurück zu seiner Familie konnte.
Conor hatte alles getan, um vorzeitig wegen guter Führung entlassen zu werden. Er arbeitete fleißig, meldete sich oft freiwillig zum Putz- oder Gartendienst, er prügelte sich nie, bestahl seine Kameraden nicht und übernahm bei jeder Gelegenheit das Ausmisten des Taubenschlages. Was noch fehlte, war ein Gespräch mit dem Direktor, bei dem er endlich Reue zeigte, seinen Vater zum Invaliden gemacht zu haben.
Sean Lynch war nach drei Wochen aus dem künstlichen Koma geholt worden, lag noch fünf Wochen auf der Intensivstation und weitere acht in der Abteilung für Hirnverletzte. Er konnte seit dem Tag, an dem sein Sohn auf ihn geschossen hatte, nicht mehr sprechen. Sein rechter Arm gehorchte ihm kaum noch, sein rechtes Augenlid hing herab, und er erkannte niemanden mehr, auch nicht seine Frau und seine Tochter. Er musste gebadet und gefüttert werden, und wenn er mit der linken Hand ein paar zittrige Striche und krumme Linien, die eine unbeschädigte Kammer seines Hirns für Buchstaben hielt, auf einen Zettel kritzelte, vergingen oft Stunden. Nach drei Monaten wurde er in eine Rehabilitationsklinik im County Cork verlegt, wo er sich so weit erholte, dass ein Wohnheim für Behinderte in Dublin ihn aufnahm. Dort durfte er in der Werkstatt Bilderrahmen schleifen, was er mit versunkener Hingabe tat. Beim ungelenken Hantieren mit dem Schleifpapier lächelte er oft, als erinnere ihn der Geruch des Holzes an etwas Schönes.
Im ersten halben Jahr besuchte Aislin ihren Mann alle zwei Wochen, und einmal im Monat nahm sie Fiona mit. Das damals vierjährige Mädchen begriff nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Er redete nicht mehr und sah komisch aus, und wenn sie ihm eine Zeichnung hinlegte, betrachtete er das Blatt stumm und so lange, dass sie verlegen wurde. Nach anderthalb Jahren war Sean so weit, in der Möbelwerkstatt arbeiten zu können, erst in der Fertigung, dann an den Maschinen, mit denen das Holz zugesägt wurde. Er lernte langsam zu sprechen, und mit seinem linken Arm war er so geschickt wie früher mit dem rechten. Im Frühling des zweiten Jahres teilte die Leitung des Behindertenwohnheims Aislin mit, die Genesung ihres Mannes sei so weit fortgeschritten, dass er ins normale Leben entlassen werden könne.
Aber das Zuhause, das in Sean vielleicht etwas wachgerufen hätte, wenn seine Erinnerung nicht von einer glühenden Kugel ausgelöscht worden wäre, gab es nicht mehr. Aislin hatte das Sägewerk und das Wohnhaus verkauft und lebte mit Kieran und Fiona in einem Cottage außerhalb Sligos, von wo es regelmäßige Zugverbindungen nach Dublin gab. Zudem waren es vom neuen Wohnort nur ein paar wenige Kilometer bis Four Towers.
Es war unmöglich zu sagen, ob Kieran und Sean einander erkannten, ob in ihren defekten Gehirnen etwas passierte, das ein vages Gefühl der Vertrautheit auslöste, oder ob sie Fremde füreinander waren. Der Himmel an jenem letzten Tag im April des Jahres 1994 war tiefblau, weiße Wolken trieben darin, bewegt von einem kalten, unregelmäßigen Wind. Mary O’Sea führte die braune Stute, auf der Kieran saß, am Zügel über die Wiese, als Aislins VW-Bus vor dem Cottage hielt. Mary war Aislins beste Freundin und die Mutter von Rosie, die vor langer Zeit im Meer ertrunken war. Marys Mann hatte nach dem Tod der Tochter angefangen zu trinken und war irgendwann nach England gegangen, von wo er Geld schickte und nicht mehr zurückkehrte. Als Aislin Sägewerk und Haus verkaufte und mit den Kindern nach Sligo zog, besuchte Mary die drei regelmäßig, blieb immer öfter über Nacht und schließlich ganz. Sie kümmerte sich um Kieran, wenn Aislin ihren Mann in Dublin oder Conor in Four Towers besuchte, sie zog Gemüse in einem Garten hinter dem Haus und arbeitete an drei Nachmittagen als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen in Sligo. Die Zeiten, in denen sie ihren Mann vermisste, waren schon lange vorbei, und auch wenn die Erinnerung an Rosie nicht verblasste, so schmerzte sie nicht mehr wie früher. Ihr Leben war jetzt hier, mit Aislin, Kieran und der zehnjährigen Fiona, die sie, ohne Rosies Platz im Herzen herzugeben, liebte wie das eigene Kind.
Aislin stand neben dem VW-Bus und wartete, bis Sean ausgestiegen war. Der einst so kräftige Mann war schmaler geworden und gleichzeitig langsamer, zögernder. Seine Bewegungen hatten nichts Bedrohliches mehr, wirkten auf eine beruhigende Art träge, beinahe sanft. Alles, was er sah, betrachtete er lange, als versetzte ihn seine Umgebung unablässig in Erstaunen. Er trug mittlerweile eine Brille, deren rechtes Glas beschichtet war und das hängende Lid verbarg. Sein Haar war stellenweise grau geworden, aber Aislin hatte dafür gesorgt, dass es nicht mehr alle zwei Wochen geschnitten wurde. Die Autotür, die er vor Jahren achtlos mit dem Fuß zugestoßen hätte, schloss er jetzt vorsichtig und auf rührende Art umständlich, sah sich dann neugierig um und machte dabei winzige Schritte auf dem Kies.
«Komm«, sagte Aislin und ergriff Seans rechte Hand, die kraftlos und immer etwas kühler als die linke war.»Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst. «Bedächtig, als hätten sie alle Zeit der Welt, gingen die beiden zu der Wiese. Mary war mit dem Pferd an den Zaun gekommen und tätschelte den Hals des Tieres. All You Can Eat war eine fünfjährige Fuchsstute, die ihren Namen ihrem enormen Appetit verdankte und deren früherer Besitzer sie loswerden wollte, bevor sie ihm die Haare vom Kopf fraß. Sie hatte wunderschöne Augen mit langen Wimpern, und jeden, der sie fütterte, liebte sie innig.
«Sean, das ist meine Freundin Mary«, sagte Aislin.
Mary lächelte und streckte Sean die Hand entgegen.»Freut mich sehr, Sean.«
«Uun Ag, Ary«, sagte Sean. Seine Stimme war leise und stockend wie die eines jungen Mannes beim ersten Rendezvous, aber er ergriff Marys Hand ohne zu zögern und schüttelte sie lächelnd eine Weile.
«Und das ist Kieran.«
Der inzwischen einundzwanzigjährige Kieran saß ein wenig nach vorne gekrümmt im Sattel, hielt die Zügel fest in beiden Händen und schaukelte mit dem Kopf vor und zurück. Er war ein hübscher Bursche geworden, mit wachen Augen und vollen, geschwungenen Lippen, die sich ständig bewegten, auch im Schlaf. Die Haare, die an Stirn und Nacken unter dem Helmrand heraushingen, schimmerten schwarz. Trotz der vielen Stunden im Freien war seine Haut hell, und hätte man einen Makel an ihm benennen müssen, wären es die von einer leichten Akne und der täglichen Rasur geröteten Stellen an Kinn und Hals gewesen.
Jedem, der Sean Lynch als jungen Mann gekannt hatte, wäre die verblüffende Ähnlichkeit Kierans mit seinem Vater aufgefallen. Aislin musste für einen Moment den Blick von den beiden wenden, um nicht zu weinen. Sie sah zum Haus hinüber, wo Fiona hinter dem Küchenfenster saß und die Szene beobachtete.
«Uun Ag, Kian«, sagte Sean und hielt dem Jungen die Hand hin.
Kieran sah seine Mutter an und ergriff, als Aislin nickte, die Hand seines Vaters. Sean lächelte. Ein Projektil steckte in dem Teil seines Gehirns, das für die Aufbewahrung von Erinnerung zuständig war. Er erkannte die Person nicht, deren Hand er eine Weile freundlich schüttelte. Es war noch nicht lange her, da hatte er in der gleichen Werkstatt gearbeitet wie vor Jahren sein Sohn. Beide hatten Bilderrahmen geschliffen, stumm und eingetaucht in eine Welt, die es nicht mehr gab und die sie in gleißend hellen Gedanken endlos durchstreiften, einsam und verloren und für immer in ihr aufgehoben. Beide wussten nicht oder hatten vergessen, wer sie waren, aber beide lächelten in der unerschütterlichen Gewissheit, in diesem Augenblick glücklich zu sein.
Robert Moriarty hatte schon als Junge in einem leerstehenden Fabrikgebäude außerhalb Dundalks Tauben gezüchtet. Fünf Jahre lang verbarg er seine Leidenschaft vor den Eltern. Sein Vater, ein Busfahrer und Laienprediger, bezeichnete die Tiere als gefiederte Ratten, und seine Mutter, die in einem Friseursalon arbeitete, hätte sich Sorgen wegen der Baufälligkeit des Fabrikgebäudes gemacht. Während seiner Zeit an der Uni, wo er Psychologie und Volkswirtschaft studierte, gab er seine geheime Liebhaberei auf. Er reiste nach England und Frankreich, kehrte nach Dublin zurück und studierte drei Semester Englische Literatur, folgte einer polnischen Sängerin nach Krakau und floh nur Wochen später, eingeschüchtert von todernsten Hochzeitsvorbereitungen, nach Wien.
Vom Geiste Freuds beseelt, fuhr er schließlich heim nach Dundalk, arbeitete auf dem Sozialamt, wurde befördert und war irgendwann Leiter des Jugendamtes. Als er eines Abends eine verletzte Taube auf der Straße fand, nachdem er wenige Stunden zuvor einen vom Vater regelmäßig verprügelten Jungen in die Obhut seines Amtes überführt hatte, war ihm die Idee mit dem therapeutischen Taubenschlag gekommen.
Auf einem ungenutzten Flecken Erde im Hinterhof des Sozialamtes baute er in seiner Freizeit aus Brettern und Latten, alten Türen und Fenstern eine kleine Hütte auf Stelzen. Von einem Freund aus früheren Tagen bekam er zwei Taubenpärchen und steckte sie in ihr neues Zuhause. Um die Vögel beobachten zu können, ohne sie zu stören, errichtete er neben der Hütte ein Podest, auf das man über eine Treppe gelangte. Meistens nahm er ein einzelnes Kind mit, um ihm die Tiere zu zeigen. Er erzählte ihm, dass ihr zoologischer Name Columbidae war, dass es Felsentauben und Ringeltauben gab, Hohltauben und Turteltauben und Türkentauben, dass Männchen und Weibchen ein Leben lang zusammenblieben, dass ihre Jungen Nesthocker genannt wurden und dass einige Brieftauben tausend Kilometer weit nach Hause flogen. Das Kind durfte die Tauben füttern, und wenn es sich vor den Tieren nicht fürchtete oder ekelte, durfte es ein besonders zahmes Exemplar auch streicheln.
Moriartys Modell, zu Beginn von vielen Kollegen noch belächelt, galt nach ein paar Jahren als richtungweisend, wenn es um den Einsatz von Tieren bei der seelischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen ging. Seine Methode machte Schule, und ihr Erfinder wurde zum neuen Direktor der Besserungsanstalt außerhalb Sligos ernannt.
Die Gesellschaft, so erklärte Moriarty den Neuankömmlingen in Four Towers, sei ein Taubenvolk. Vorneherum werde gegurrt und hintenherum gehackt, es herrsche ein ewiges Gezanke um Futter und die schönsten Weibchen, und die ganz Fiesen schissen ihresgleichen auf den Kopf. An dieser Stelle grinsten die meisten Jungs, und Moriarty lächelte zufrieden, bevor er fortfuhr. In einer Gesellschaft gehe es um gegenseitige Achtung, um Rücksichtnahme den Schwächeren gegenüber, um Solidarität. Er erläuterte den Jungen die Bedeutung dieses Fremdwortes, machte einen leidlich eleganten Schwenker zum Thema Weltfrieden und zeigte ihnen dazu Taubenbilder von Picasso und Matisse. Den Abschluss seines Vortrags bildete ein kurzer Exkurs in die faszinierende Welt der Brieftauben, deren Orientierungssinn und imposanten Flugkünste.
Im ersten Jahr hatte er den Fehler begangen, von Falken zu erzählen. Sämtliche wissenschaftlichen Fakten zugunsten seiner Weltbildmetapher ignorierend, nannte er sie die Bösewichte im Vogelreich, die im friedfertigen Taubenvolk Unruhe stifteten und nur an Streit und Kampf interessiert seien. Diesen Teil hatte er jedoch schon bald wieder weggelassen, nachdem sich viele der Jungen in der abschließenden Befragung lieber mit imposanten Falken als mit pummeligen Tauben identifizierten.
Jeder Junge musste einmal mit hinauf in den Taubenschlag und die Tiere eine Stunde lang beobachten. Moriarty forderte sie auf, zu beschreiben, was sie sahen. Meistens murmelten die Jungen etwas von verschlafen wirkenden Vögeln, die wie Hühner in ihren Nischen hockten, von den roten Augen, die manche hatten, vom seltsamen Gang der Tiere, den albern zu nennen sie sich nicht trauten, von den Lauten, die aus ihren aufgeplusterten Körpern drangen, von ihren grauen und weißen Federn, von den Ringen an ihren rötlichen, gerippten Füßchen. Einige machten Bemerkungen über den vielen Mist, der überall lag, einige ganz Mutige über die Männchen, die wie zu klein geratene Gockel um die Weibchen balzten.
Moriarty hörte ihnen schweigend zu, oft amüsiert über die Jungen, von denen manche verschüchtert um Worte rangen und andere enthemmt, beinahe panisch drauflosquasselten. Erst am Ende der Stunde zählte er die Begriffe auf, die ihm beim Betrachten der Tauben einfielen. Sanftmut. Wachsamkeit. Innere Ruhe. Dann sahen ihn die Jungen an und nickten pflichtbewusst, und in ihren Köpfen stiegen für Sekunden die Wörter auf, drehten eine Ehrenrunde über Feldern der Ahnungslosigkeit und sanken zurück ins Nichts. Für die meisten Zöglinge waren Tauben einfach irgendwelche Vögel, nicht der Rede wert, im besten Fall bewegliche Ziele für Schießübungen mit der Steinschleuder oder dem Kleinkalibergewehr, für manche Hühnchenersatz in mageren Zeiten. Andere hielten sie, die Ansicht ihrer Eltern übernehmend, für fliegendes Ungeziefer, ekliges Federvieh, auf dem es von Parasiten wimmelte.
Einer der Jungen, Noel Moger, ein ebenso schlauer wie unberechenbarer Bursche aus Tuam, der wegen Einbruchdiebstahls und leichter Körperverletzung in Four Towers war, hatte irgendwo gelesen, Taubenkot zerstöre Gebäude und Denkmäler, weshalb in vielen Städten der Welt versucht werde, die Zahl der geflügelten Pest zu reduzieren. Gift und Geburtenkontrolle seien taugliche Mittel, hatte er heimlich verlauten lassen, aber womit er seine Zuhörer faszinierte, war die Nachricht, an einigen Orten würden abgerichtete Greifvögel gegen die Tauben eingesetzt. Viele der Jungen kamen aus ländlichen Gegenden, wo die Jagd zum Alltag gehört, und die Vorstellung, einen dressierten Falken, Bussard oder Habicht zu besitzen, der Moriartys Viecher vom Himmel holte, ließ sie verträumt lächeln. Natürlich verbargen sie ihre Verachtung für die Tauben vor dem Direktor, aber wann immer ein Raubvogel durch das begrenzte Stück Himmel flog, das ihnen durch ein Fenster oder zwischen den Mauern zu sehen erlaubt war, blitzten für Sekunden ihre Augen auf.
Das Ausmisten war freiwillige Arbeit. Moriarty wollte nicht, dass die Jungen die Tauben hassten, nur weil sie deren Exkremente entfernen mussten. Die meisten taten es ein paar Mal, dann hörten sie auf, sich zu melden, weil es ihnen keine Vergünstigungen einbrachte. Einige hatten Interesse an der Taubenzucht vorgetäuscht, um beim Direktor einen Stein im Brett zu haben, aber so funktionierte Moriartys Theorie nicht. Die Vögel sollten einfach da sein. Der Sinn ihrer Anwesenheit bestand einzig und allein darin, den Jungen zu zeigen, dass Lebewesen durchaus miteinander existieren konnten, ohne sich zu betrügen und zu bestehlen, zu verletzen oder gar umzubringen. Der Kot der Vögel war ein Abfallprodukt dieses Anschauungsunterrichts, und er musste hin und wieder entfernt werden. Aber diese Arbeit wollte Moriarty nicht belohnen, jedenfalls nicht mit direkten Vorteilen. Im Verlauf der Jahre kannte er die paar Burschen, die bei der Stange blieben, und wenn ihre Zeit kam, um eine vorzeitige Entlassung zu beantragen, vermerkte er ihre Stunden im Taubenschlag als freiwillige Einsätze, nicht mehr und nicht weniger. Meldete sich kein Freiwilliger, stieg Moriarty mit Schaufel und Eimer in den Turm hoch und erledigte die Arbeit selber. Er war überzeugt, dass er damit den Jungen ein gutes Beispiel gab.
Conor trug sich jeden Montag in die Liste ein. Die Arbeit im Taubenschlag betrachtete er als eine Möglichkeit, dem Wochentrott zu entfliehen. Mit der Tatsache, eingesperrt zu sein, hatte er sich längst abgefunden, aber die Eintönigkeit der Tagesabläufe machte ihm zu schaffen. Die drei Stunden am Samstagmorgen, wenn seine Mitinsassen die Wände und Böden der Waschräume und der Küche schrubbten, Feuerholz hackten, im Hof mit Stöcken auf ihre Matratzen eindroschen oder auf Knien die Böden der Schlafsäle und Flure bohnerten, schabte er mit einer Blechschaufel Taubenmist vom Boden des Wachturms und genoss die Aussicht.
Bei den ersten Malen waren die Tauben noch weggeflogen. Er hatte ihnen nachgeschaut, wie sie als langgezogene Linie in Richtung Meer verschwanden und dann, weit weg und zum flirrenden Wölkchen geschrumpft, ins Landesinnere abdrehten und in einem großen Bogen zurückkamen, um sich in Gruppen auf den Dächern der anderen Türme niederzulassen. Dort saßen sie dann und warteten, bis er fertig war. Doch Conor ließ sich Zeit. Er hatte drei Stunden für sich alleine, und die schöpfte er aus. Weil Moriarty es so wollte, trug er bei der Arbeit einen grauen Overall, eine Atemmaske aus Zellstoff, eine Schutzbrille und Handschuhe, was sein Gefühl, weit weg und isoliert zu sein, noch verstärkte.
Wenn er mit der Arbeit fertig war und sich an der Landschaft sattgesehen hatte, legte er sich meistens noch eine Weile auf den Rücken, schloss die Augen und hörte den Geräuschen der Tauben zu. An kühlen, verregneten Tagen hockten die Vögel in ihren Nischen und öffneten nicht einmal mehr die Augen, wenn er sie aufhob, um unter ihnen sauberzumachen. Lag er da, eingehüllt in das Gurren und Trippeln und das leise Sirren unter den Flügeln ankommender und wegfliegender Tauben, dann dachte er an seine Mutter und an Fiona und Kieran. Und daran, dass sein Vater, oder das, was von ihm übrig war, wieder bei ihnen lebte. Er rechnete aus, wie viele Tage es bis zum nächsten Besuchstermin noch waren, und fragte sich, ob seine Mutter seinen Wunsch respektieren und seinen Vater nie mitbringen würde. Sie hatte ihm zwar erzählt, dass er niemanden wiedererkenne, dass er sanft wie ein Lamm sei und oft ganze Tage damit verbringe, Ameisen auf einer Fensterbank zu beobachten. Aber so konnte Conor sich seinen Vater nicht vorstellen. Er sah das Bild vor sich, das Mary mit ihrer Kamera gemacht hatte und das Sean Lynch in einem zu großen schwarzen Anzug neben dem Pferd stehend zeigte, aber er traute dem schüchtern wirkenden Lächeln des Mannes nicht. Er malte sich aus, wie er seinem Vater in die Augen sehen würde. Wie in der Hälfte einer Sekunde das kalte Licht der Erinnerung in diesen Augen blitzen und dieses falsche Lächeln verschwinden würde. Er sah, fünfzehn Meter über seinem irdischen Käfig schwebend und von den Lauten friedlicher Vögel getragen, seinen Vater vor sich und keinen anderen, guten Menschen.
Wilbur hatte sich rasch an sein neues Leben gewöhnt. Nach zwei Wochen schierer Verzweiflung hatte er beschlossen, nichts mehr vermissen zu wollen, keine Menschen, keine Empfindungen, keine Dinge, und von da an ging es ihm besser. Er sorgte dafür, dass er beschäftigt war und keine Zeit zum Grübeln hatte. Von halb acht bis zwölf und von halb zwei bis fünf arbeitete er in der Werkstatt und stellte mehr Rattenfallen her als sein Tagessoll verlangte, und nach dem Abendessen und an den Samstagnachmittagen schloss er sich der Gruppe an, die in einem der Kellerräume einen Kraftraum einrichten wollte.
Direktor Moriarty, der sich als Pionier in der Betreuung und Reintegration straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher in Irland sah, hatte schon vor Jahren erwogen, in Four Towers ein Sportprogramm einzuführen, musste seine Pläne jedoch immer wieder wegen fehlender finanzieller Mittel auf Eis legen. Die einzigen körperlichen Ertüchtigungen, die er für seine Schützlinge bisher anordnete, waren zwanzig Minuten Morgengymnastik im Arbeitssaal und an regenfreien Samstagen eine Stunde Freiübungen und Ballspiele auf dem Hof.
Jetzt war etwas Geld vom Staat da, das in die Bereiche Ausbildung, Kultur und Leibesertüchtigung investiert werden musste, und endlich konnte Moriarty seine Vorhaben verwirklichen. Die Traktorenwerkstatt wurde so modernisiert, dass die Burschen, die dort arbeiteten, eine richtige Ausbildung erhielten. In den nächsten Jahren sollten auch die übrigen Bereiche angepasst werden. Die Herstellung von Nagetierfallen für den lokalen Markt konnte man als Notlösung, vielleicht noch als Einarbeitungsprogramm für Neuankömmlinge verstehen, für zukunftstauglich hielt Moriarty diese Art schlecht bezahlter Beschäftigungstherapie jedoch nicht.
Die Bibliothek, die sich vorher in einem dürftig beheizten Zimmer im Erdgeschoss befunden hatte, wurde in die erste Etage neben den Speisesaal verlegt, einen Raum, in den sich die Jungen bisher zurückziehen konnten, um Briefe zu schreiben, zu lesen, Schach zu spielen oder sonst etwas zu tun, das keinen Lärm machte. Moriarty nannte ihn den Raum der Stille, für die Jungen war es die Kammer des fünften Turms oder einfach der Wichsraum. Um den Burschen beim Schreiben ihrer Briefe etwas Privatsphäre zu geben, hatte Moriarty sie in der Werkstatt Paravents aus Holz und Stoff bauen lassen, die jeden der dreißig Tische vor neugierigen Blicken abschirmte. Dass sich die von ihren Hormonen malträtierten Schützlinge hinter diesen Wänden Erleichterung verschafften, ahnte Moriarty nicht, und als er im Zuge der Umbauten die Entfernung der Paravents anordnete, löste das einen Proteststurm aus. Gleichzeitig verwundert und erfreut darüber, wie wichtig seinen Schützlingen ihre Momente der Stille und Einkehr waren, bewahrte er die Faltwände vor der Vernichtung und die Jungen davor, ihre aus Sexheften und Unterwäschekatalogen ausgeschnittenen Bildchen wieder in den Toilettenräumen ausbreiten zu müssen, deren kalte Fliesen jedes Schnaufen und jedes Wimmern schallend zurückwarfen.
Dank der staatlichen Zuschüsse erhielt die Bibliothek Hunderte neuer Bücher, zehn Computer und einen Fernseher, auf dem Moriarty den Jungen Dokumentarfilme über die alten Ägypter und das Leben in den Ozeanen zeigte. Der Fernseher stand in einem abgesperrten Schrank, zu dem nur Moriarty den Schlüssel hatte. Der einzige Zweck des Gerätes bestand darin, Videokassetten mit naturwissenschaftlichen Filmen abzuspielen, doch unter den Jungen gab es technisch versierte, die mit einfachen Hilfsmitteln eine Zimmerantenne bauten und für die das Öffnen eines Schrankschlosses ein Kinderspiel war.
Bald nach Anschaffung des Geräts bildete sich eine Gruppe, die sich The Movie Men nannte und die sich nachts in der neuen Bibliothek versammelte, um sich Filme anzusehen. Die Gruppe bestand aus fünf Burschen, und wer bei ihnen aufgenommen werden wollte, musste Beitrittsgeld bezahlen sowie eine wöchentliche Leihgebühr für ein Paar Kopfhörer. Die meisten der Jungen hatten kein Geld, um beizutreten, andere wollten das Risiko, erwischt zu werden, nicht eingehen, andere interessierten sich nicht für Filme. Den fünf Gründern war das recht, denn mehr als neun Kopfhörer konnten an den eigens gebauten Verteiler nicht angeschlossen werden. Außerdem waren sie Snobs und wollten ihren exklusiven Geheimbund nicht für den Pöbel öffnen, wie sie sagten. Gab es an einem Abend mehr Interessenten für einen Film als Kopfhörer, wurde gelost. Jungen mit Geld kauften sich einen Platz, wenn sie einen Streifen unbedingt sehen wollten. In ihrer Blütezeit zählten die Movie Men dreiundzwanzig Mitglieder. Wilbur war die Nummer neun.
Der erste Film, den Wilbur in der Bibliothek sah, war Hudson Hawk, der einzige Bruce-Willis-Streifen, den er noch nicht kannte. Er und sieben andere Cineasten saßen im Halbkreis um den von Paravents umstellten Fernseher und durften weder lachen noch sonst irgendwelche Geräusche von sich geben. Mit den Kopfhörerkabeln, die zum Verteilerkasten liefen, und den vom Bildschirmlicht bleichen Gesichtern sahen sie aus wie erstarrte, an ein Gerät angeschlossene Versuchskreaturen in einem Science-Fiction-Film. Nach dem Abspann wurden die Kopfhörer und der Verteilerkasten in einem Hohlraum des Tisches versteckt, auf dem der Computer des Bibliothekars stand, und der Fernseher zurück in den Schrank gesperrt. Dann warteten die Mitglieder der Gruppe, bis der Wachmann seine Außenrunde antrat, und gingen über die leeren Flure zu den Schlafräumen.
Am Mittwochnachmittag von drei bis fünf und an den Wochenenden zwischen zwei und fünf war die Bibliothek geöffnet. Hatte Wilbur Dienst, saß er an seinem Tisch und trug die Ausleihdaten in Karten, sortierte zurückgebrachte Bücher ein, schrieb Mahnungen und erfasste Neuanschaffungen im Computer. Gab es nichts zu tun, las er. Weil ihn die Jungen immer wieder fragten, wie das eine oder andere Buch sei und was er empfehlen könne, schrieb er kurze Kritiken zu den Titeln, die er kannte. Zuerst war sein Stil hochtrabend und intellektuell, und keiner seiner Mitinsassen verstand, was er meinte. Dann passte er sich an. Zum Fänger im Roggen schrieb er:»Holden Caulfield ist sechzehn und weiß nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er hasst seine Mitschüler, die sich in der Dusche gegenseitig nasse Handtücher an den Arsch klatschen. Am Schluss ist er etwas klüger als zuvor, aber die Welt ist noch immer ein Irrenhaus. «Unter die Kritik stellte er jeweils eine Kurzbewertung, in diesem Fall:»Flott geschrieben, kaum Fremdwörter. «Das Buch lag trotzdem wie Blei im Regal.
Renner waren Bildbände über Autos und Motorräder mit wenig Text, dicht gefolgt von Werken über Fußball und gälische Sportarten. Der menschliche Körper war ebenfalls meist vergriffen, weil darin die wissenschaftliche Zeichnung einer nackten Frau zu finden war. Dass die Dame zur Hälfte offenlag und ihre inneren Organe zur Schau stellte, schien die Jungen nicht zu irritieren. Die relativ große Nachfrage nach einem Buch über Bergbau konnte Wilbur sich nur damit erklären, dass viele der Jungen am Graben von Schächten und Tunnels interessiert waren. Bücher über fremde Länder, Pferde und Landwirtschaft erfreuten sich ebenfalls einiger Beliebtheit.
Selten wurden Klassiker ausgeliehen wie Stevensons Schatzinsel oder Dickens’ Oliver Twist. Dumas’ Graf von Monte Christo erlebte eine positive Wende, nachdem Wilbur in der Kurzkritik den Ausbruch von der Gefängnisinsel hervorgehoben hatte. Krimis, Bücher, in denen Sex und Gewalt vorkam, und Comics gab es in der Bibliothek nicht, dafür sorgte der Direktor persönlich. Moriarty wiederum ließ sich von verschiedenen Leuten beraten, Freunden meistens, die allesamt in Kirchengruppen, Gemeindeverbänden, katholischen Frauenzirkeln und sonstigen honorigen Verbindungen saßen.
Dafür, dass nichts Triviales oder gar Anrüchiges den Weg in die Regale der Four-Towers-Bibliothek fand, war gesorgt, und auch dafür, dass kaum ein wirklich guter zeitgenössischer Roman greifbar war, der den vermauerten Horizont eines dahindämmernden Jungen vom Land hätte sprengen können. Wilburs Liste der fehlenden Autoren war lang, sie reichte von Nelson Algren über Roddy Doyle bis zu Kurt Vonnegut und füllte drei Seiten. Ab und zu veränderte, kürzte und entschärfte er diese Liste und zeigte sie Moriarty, der sie zur Prüfung seinen Freunden und Sittenwächtern faxte und dann das eine oder andere Buch für gefahrlos genug befand und seinen Kauf bewilligte. So kamen die nach Weltliteratur lechzenden Insassen von Four Towers zu Werken wie Steinbecks Straße der Ölsardinen, Doyles Commitments oder den gesammelten Erzählungen von Carson McCullers. Weil Wilbur und einer der anderen drei Bibliothekare, ein Junge namens Colum Noland, die einzigen waren, die diese Bücher auch wirklich lasen, manipulierten sie die Ausleihstatistik ein wenig zu ihren Gunsten. Damit sorgten sie sowohl für steten Nachschub an gehaltvoller Literatur als auch für einen zufriedenen Direktor, der von der geistigen Reife eines Teils seiner Schützlinge hingerissen war und seine Bemühungen belohnt sah.
Die Arbeit in der Bibliothek, bei der sich die vier Jungen im Wochenrhythmus abwechselten, war ein willkommener Kontrast zur stupiden Tretmühle der Werkstatt, aber worauf Wilbur sich wirklich freute, war die Fertigstellung des Kraftraums. Nach elf Wochen, während derer er und vierunddreißig andere Jungen feuchten Verputz von Kellerwänden geklopft und weggekarrt, verfaulte Bodenbretter entfernt und Lehm und Schutt herausgeschaufelt, mit Isolationsmaterial, Gipsplatten, Beton und Mörtel hantiert, einen neuen Boden eingezogen, die Wände neu verputzt und gestrichen, eine Heizung und Beleuchtung installiert und Parkett und Teppich verlegt hatten, war der Raum fertig. Was jetzt noch fehlte, waren die Hanteln und Gewichte, die Bänke und Rudergeräte und Sandsäcke.
Wilbur hatte in einem Wissenschaftsmagazin, das ein Arzt der Bibliothek aus seinen Wartezimmerbeständen überließ, einen Artikel über Bodybuilding gelesen und sich vorgenommen, endlich ein paar Muskeln zuzulegen. Er war jetzt siebzehn Jahre alt, einen Meter siebenundfünfzig groß und wog lächerliche achtundvierzig Kilo. Es gab in Four Towers nur noch einen Jungen, der so kurz geraten war. Sein Name war Danny McAllister, aber alle außer Wilbur nannten ihn Midge, kurz für Midget, Liliputaner. Danny war sechzehneinhalb, vier Zentimeter kleiner als Wilbur, dafür elf Kilo schwerer. Er hatte Wilbur auf die Gruppe aufmerksam gemacht, die im Keller einen Kraftraum baute, und ihn dazu überredet, ihr beizutreten. Danny war pummelig und kurzatmig und fest entschlossen, etwas daran zu ändern. Zusammen saßen sie in der Bibliothek und lasen Berichte über Gewichtheben und Muskelbildung, über Eiweiße, Ernährung und Anabolika. Sie lasen das Buch eines ehemaligen Mister Universum mit dem Titel Pump It Up!, in dem viel von Leiden und Schmerzen die Rede war. Sie lernten die Namen von Muskeln auswendig, Trapezmuskel, Deltamuskel, Bizeps, innerer schräger Bauchmuskel, Strecker, Beuger. Wilbur übertrieb es wie immer und las auch alles über Sarkoplasma, Endomysium und Azetylcholin, bis er mit sämtlichen Abläufen innerhalb seiner unterentwickelten Muskulatur vertraut war.
«Protein«, sagte Danny, als sie beim Mittagessen saßen. Es gab Kartoffelbrei, grüne Bohnen und eine Scheibe Rinderbraten, zum Nachtisch Apfelkompott.
«Was ist damit?«Wilbur zwang sich, seinen Teller zu leeren und dabei nicht an Pauline Conway zu denken. Er hatte die Absicht, mehr zu essen und schwerer zu werden. Vielleicht würde er dadurch auch noch wachsen.
«Wir werden eine Menge davon brauchen«, sagte Danny.»Eier wären nicht schlecht.«
Wilbur dachte nach.»Ich werde mit Geraldine reden.«
Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, die Köchin im Four Towers sei bestechlich. Aber das Gerücht hielt sich, Geraldine Dunne sei gegen Bezahlung eines bescheidenen Betrages bereit, den Jungen kulinarische Sonderwünsche zu erfüllen. Wilbur hatte gehört, sie habe dem aus gutem Haus stammenden Peter Summerhill Räucherlachs besorgt und zwei Jungen, die ihr Geld zusammengelegt hatten, zehn Tafeln Nussschokolade. Ein paar Extraeier von ihr zu bekommen sollte kein Problem sein, dachte Wilbur, und er wusste auch schon, wer ihm das Geld dafür geben würde.
Jeden ersten Sonntag im Monat war Besuchstag. Ließ das Wetter es zu, wurden ein paar Tische und Bänke in den Hof gestellt, regnete es, empfingen die Zöglinge ihre Verwandten und Bekannten im Speisesaal. Wer dem Gemurmel, dem Lachen und gelegentlichen Weinen entgehen wollte, durfte mit seinem Besuch in die Bibliothek, wo Foley, O’Carroll oder einer der anderen Wachmänner darauf achtete, dass die Regeln eingehalten wurden. Wilbur zog es vor, mit Henry Conway in der Bibliothek zu sitzen.
Am ersten Sonntag nach Wilburs Ankunft in Four Towers waren Aislin und Fiona Lynch gekommen, um Conor zu besuchen, und Aislin hatte bei Wilburs Anblick zu weinen begonnen und ihn mit Fragen bestürmt. Dann war auch Fiona in Tränen ausgebrochen, und Wilbur war nach ein paar gestammelten Antworten in die Bibliothek geflohen, wohin ihm Henry wenig später verwirrt gefolgt war.
Henry besuchte Wilbur jeden Monat. Er hatte sich drei Tage nach dem Brand von Pauline getrennt und lebte in einer ehemaligen Mühle am River Easky, fünf Kilometer von einem Ort gleichen Namens und zwanzig von Sligo entfernt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen und trug jetzt alte Cordhosen, ausgeleierte Wollpullover und Jacken, deren Löcher er selber stopfte. Seine Anstellung bei der Bank hatte er gekündigt. In der Küche eines Restaurants, dessen Wirt er kennengelernt hatte, half er manchmal aus, putzte Gemüse und spülte Teller. Er hatte sich das Angeln beigebracht und wie man einen Garten anlegt. Das Brennholz für seinen Kamin sammelte er am Meer.
Er sei glücklich, versicherte er Wilbur. Dabei lächelte er und sah seinem Gegenüber in die Augen. Dann senkte er jeweils den Blick und betrachtete seine Hände, deren Haut gebräunt und rissig war. Am Hals war unter dem Pullover ein Stück weißer Hemdkragen und der Knoten einer dunklen Krawatte zu sehen. Wilbur vermutete, dass es sich jeden Monat um dasselbe Hemd und dieselbe Krawatte handelte. Er sah Henry genau an, wenn der von seinen Stangenbohnen erzählte oder einer besonders großen Forelle, die er gefangen hatte. Der Mann, der einmal sein Ziehvater gewesen war, schien vor Leben zu sprühen, und doch war in seinen Augen und seinen Bewegungen etwas, das Wilbur misstrauisch machte. Hinter jedem Lachen und jeder Geschichte und jeder Beteuerung, zufrieden zu sein, lag eine Traurigkeit verborgen, die Wilbur sich nur damit erklären konnte, dass Henry seine Frau vermisste.
«Geht es dir auch wirklich gut hier drin?«fragte Henry, wie er es jedes Mal tat.
«Mir fehlt nichts«, sagte Wilbur, ohne nachzudenken, und lächelte ein wenig.
Henry nickte und sah auf seine schrundigen Hände.»Ich baue jetzt Kartoffeln an, weißt du?«
«Kartoffeln sind okay«, sagte Wilbur.»Hier gibt es viermal die Woche Kartoffeln.«
«Gut«, sagte Henry, nickte erneut und krümmte die Finger so, dass der Dreck unter den Nägeln nicht mehr zu sehen war.
An diesem Sonntag waren sie fast alleine in der Bibliothek. Außer O’Carroll, der immer wieder kurz einnickte, saßen nur noch Tommie Fitzgerald und dessen Eltern und Rory Simmons mit seiner Mutter an den Tischen bei den Fenstern. Im Speisesaal verloren sich eine Handvoll Zöglinge und deren Besucher. Es war Sommer, und die Leute hatten Besseres zu tun, als nach ihren missratenen Söhnen und Enkeln zu sehen.
«Heute Abend werde ich mir einen Kartoffelauflauf im Ofen machen«, sagte Henry.»Mit Dosenspargel und Speck und mit Käse überbacken. «Er nickte eifrig und sah dann aus dem Fenster, wo zwei Tauben vorbeiflogen.
«Klingt lecker«, sagte Wilbur. Er kannte das Rezept, es war von Pauline.
Tommie Fitzgerald regte sich über etwas auf, das sein Vater sagte, wurde laut und fluchte. O’Carroll wachte aus seinem Dämmerzustand auf und wies den Jungen, der wegen Diebstahls und Fahrerflucht hier war, zur Ordnung. Henry schob Wilbur rasch ein paar Scheine zu, die er aus dem Ärmel des Pullovers gezogen hatte. Wilbur nahm das Geld und steckte es unter den enganliegenden Hemdkragen.
«Danke«, sagte er leise.
Henry schloss kurz die Augen und nickte. Tommie hatte sich beruhigt, aber sein Vater stand auf und verließ den Raum. Seine Mutter, eine dicke Frau, die ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut trug wie zu einer Beerdigung, weinte und folgte ihrem Mann. O’Carroll tastete Tommie nachlässig ab und begleitete ihn zur Tür, wo Foley den Jungen in Empfang nahm. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und kämpfte gegen den Schlaf.
Oft redete Henry während der gesamten Besuchszeit von den Plänen, die er für seine Zukunft schmiedete. Er hatte das Auto verkauft und sein Bankkonto aufgelöst und sonst alles, was ihm gehörte, im Haus gelassen. Die Anzüge, Krawatten und Schuhe brauche er nicht mehr, sagte er, die könne Pauline ihrem Bruder geben. Immer wenn er den Namen seiner Frau aussprach, machte er danach eine lange Pause, während der er mit zusammengepressten Lippen leicht den Kopf schüttelte und sich die Handrücken kratzte. Er wolle eine Weile in der alten Mühle bleiben und dann nach Dublin gehen, um Geologie zu studieren. Aufgeregt redete er davon, wie er nach dem Studium im Auftrag von Minengesellschaften und Erdölfirmen in fremde Länder reisen würde, um nach Bodenschätzen zu suchen. An einem Sonntag versprach er, Wilbur als seinen Assistenten mitzunehmen, am nächsten, aus jedem Land eine Karte zu schicken. Einmal war er euphorisch und erzählte von den Büchern, die er gekauft hatte, ein andermal bedrückte ihn der Gedanke, Irland zu verlassen.
Wilbur hörte einfach nur zu. Sollte jemand anders Henry erklären, dass er möglicherweise nicht mehr jung genug für ein Studium sei und sicherlich zu alt, um eine Stelle als Geologe zu bekommen. Er wollte ihm nicht beibringen, dass niemand auf einen weltfremden neunundfünfzigjährigen Mann wartete, der sich einen Bubentraum verwirklichen wollte. Er hörte einfach zu und nickte, und wenn Henry lächelte, lächelte er zurück.
Am Ende der Stunde, die sie hatten, blickte Henry auf die Stelle an seinem linken Handgelenk, wo früher die Uhr gewesen war und wo die Sonnenbräune den hellen Umriss fast zum Verschwinden gebracht hatte.»Also«, sagte er,»ich geh dann besser mal. «Er blieb einen Moment unschlüssig sitzen, legte schließlich die Handflächen auf die Oberschenkel und stand auf.
«Ja«, sagte Wilbur und erhob sich ebenfalls.
O’Carroll beobachtete, wie Wilbur und Henry Conway sich die Hand schüttelten. Wilbur musste am Tisch bleiben und darauf warten, dass O’Carroll ihn kontrollierte und von der Liste strich. Er stand da und sah Henry nach, wie er langsam den Raum verließ, fahrig und leicht gebückt und ein ausgebranntes Feuer mit sich schleppend.
Am Tag vor der Eröffnung des Kraftraums hielt Direktor Moriarty eine Rede. Wie immer wartete er damit bis nach dem Abendessen, und wie immer stand er dazu zwischen den beiden Stahlsäulen vor dem Durchgang zur Küche. Er trug einen dunkelbraunen Anzug mit Weste, eine schwarze Krawatte und schwarze Schuhe. Er sah zufrieden aus, aber auch müde. Einige Jungen witzelten, der Direktor sehe seit der Hochzeit so mitgenommen aus, weil ihm seine sexsüchtige Frau jede Nacht das Äußerste abverlange.
Moriarty betonte erst, wie stolz er auf alle sei, die an einem der Projekte beteiligt waren, einerlei, ob es sich dabei um Kultur oder Sport handle. Er lobte noch einmal die Jungen, die aus der ehemals kümmerlichen Büchersammlung eine ansehnliche Bibliothek gemacht hatten und mit ihrem Einsatz entscheidend dazu beitrugen, der geistigen Bildung in Four Towers den Weg zu ebnen. Sein Aufruf an die Zöglinge, mehr zu lesen, verhallte scheinbar ungehört im Saal, und erst seine erneute Rechtfertigung, die Computer nicht mit Internetanschluss zu versehen, löste missbilligendes Gemurmel aus.
Dann pries er den Fleiß und Durchhaltewillen der Gruppe, die ein schäbiges Kellerloch in einen mehr als nur vorzeigbaren Kraftraum verwandelt hatte. Er erwähnte die Metzgerei Dunphy, die fünf Langhanteln gespendet hatte, und die Landwirtschaftsgenossenschaft, Hauptabnehmerin der Fallen, die für die Kosten von zwei Rudermaschinen aufgekommen war. Das Ende eines schlappen Applauses abwartend, erinnerte er die Jungen daran, dass es bei der Ertüchtigung des Körpers nicht darum gehe, Kraft zu entwickeln, um Schwächere zu drangsalieren, sondern darum, ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu finden. Muskeln seien dazu da, um Arbeit zu verrichten und Gutes zu tun, nicht um die Faust für den Kampf zu stählen.
Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, gab er dem im Hintergrund wartenden Foley ein Zeichen, worauf dieser und Michael Cormack, ein fünfzigjähriger Wachmann mit einem winzigen, von einer Hornbrille beherrschten Kopf, etwas Schweres in den Saal trugen, das unter einem weißen Laken verborgen war. Moriarty erklärte bewegt feierlich, er und seine Frau hätten sich Gedanken zur Einweihung des Kraftraums gemacht und entschieden, die Schenkung eines Sportgeräts sei eine dem besonderen, wenn nicht gar historischen Anlass angemes sene Geste. Nach einem weiteren Zeichen des Direktors entfernte Foley das Laken und enthüllte ein mit einer breiten roten Schleife verziertes Trimm-dich-Fahrrad. Als die Jungen das Gerät ohne sonderliche Gefühlsregungen anstarrten, forderte Moriarty einen von ihnen, den groß gewachsenen Aidan Fogarty, auf, nach vorne zu kommen und probeweise in die Pedale zu treten. Weil weder der Sattel noch der Lenker auf Fogartys Maße eingestellt waren, sahen dessen Bemühungen derart ungelenk aus, dass Moriarty ihm nach kurzer Zeit bedeutete, abzusteigen und sich zurück auf seinen Platz in der ersten Reihe zu setzen.
Der Abend endete damit, dass der kleine Computer am Lenker zu piepen begann und nicht mehr aufhörte und Moriarty die beiden Wachmänner ungewohnt gereizt aufforderte, das Fahrrad zu entfernen, bevor er die Jungen in die Schlafräume entließ.
Wann immer es möglich war, verbrachte Wilbur seine freie Zeit im Kraftraum. Da er einer der Jungen war, die beim Umbau geholfen hatten, war er im Besitz eines A-Passes. Das bedeutete, dass er ein Jahr lang keinen Eintritt in Form von Arbeitsstunden entrichten musste und immer Zutritt hatte, außer es befanden sich bereits zwanzig Inhaber eines A-Passes im Raum. Zwanzig, das war die Zahl, die der Architekt als Richtlinie angegeben und die Moriarty als Gesetz verkündet hatte. Die Begrenzung machte Sinn, und sogar die ewigen Rebellen und Querulanten akzeptierten sie, ohne zu murren. Hätte man jeden reingelassen, der wollte, wären sich die Jungen in den fünfundneunzig Quadratmetern, die zur Hälfte von Geräten beansprucht wurden, auf die Füße getreten.
Jungen, die nur einen B-Pass hatten, konnten sich den Zutritt verdienen. Einmal Kraftraumbenutzung kostete zwei Arbeitsstunden in Küche, Garten, Bibliothek oder Taubenschlag. Für die Einhaltung dieser Regeln sowie Ordnung während des Trainings sorgte jeweils einer der Wachmänner, der neben der Sprossenwand an einem Tisch saß, die Pässe und abgeleisteten Arbeitsstunden kontrollierte und die Jungen zurechtwies, wenn diese mit den Hanteln Unfug trieben oder in zweideutigen Stellungen vor dem Spiegel posierten.
Wilbur und Danny absolvierten ihre Trainingseinheiten gemeinsam. Sie hatten sich komplexe Aufbaupläne zusammengestellt und in der Bibliothek ausgedruckt, und sie befolgten sie stur und demütig und mit einer heimlichen Lust an der Qual. Lag Danny auf der Bank und stöhnte unter dem Gewicht einer Langhantel, die es genau fünfmal zu stemmen galt, stand Wilbur dabei und zählte laut mit, jederzeit bereit, seinem Partner und Leidensgenossen beim Absetzen der Hantelstange zu helfen. Schnaufte Wilbur an der Butterflymaschine, die seine Hühnerbrust in gewölbte Kraftpakete verwandeln sollte, war es Danny, der die Bewegungsabläufe und Zahl der Ausführungen überwachte. Die Übungen, Gewichte und Wiederholungen trugen sie gewissenhaft in ihre Tabellen ein, die sie auf Klemmbrettern mit sich herumtrugen.
Sie dehnten jeden Muskel, bevor sie eine Hantel anfassten, achteten auf ihre Atmung, benutzten als einzige Moriartys Rad und ignorierten den Spott der schwitzenden, schnaufenden Banausen, die sich ohne Sinn und Verstand an den Maschinen austobten und blindwütig auf die Sandsäcke eindroschen, als seien es Psychologen oder Polizisten. Am Schluss standen sie abwechselnd auf der Waage, die das Geschenk eines pensionierten Arztes war, und notierten ihr Gewicht in die dafür vorgesehene Spalte auf ihren Blättern. Dann duschten sie, leerten ihre Teller und würgten danach heimlich noch mindestens zwei hartgekochte Eier hinunter, die Geraldine Wilbur zum vierfachen Marktpreis verkaufte.
In den Nächten nach einem Training lag Wilbur in seinem Bett und gab sich dem Ziehen und Brennen in seinen Armen, Beinen und in seiner Brust hin. Der Schmerz fühlte sich gut an, denn er versprach Wachstum. Wilbur stellte sich vor, wie seine Muskeln prall und hart wurden und wie er gleichzeitig in die Höhe schoss, angetrieben von Hormonen und Botenstoffen, von Proteinverbindungen, Aminosäuren und Genen, die aus einem siebzehnjährigen Schlummer erwachten.
Der Tag, an dem Direktor Moriarty Wilbur zu sich kommen ließ, war ein Mittwoch. Wilbur war gerade auf dem Weg zur Bibliothek, als Cormack ihn holte. Jetzt saß er im Büro im Besucherstuhl und wartete. Miss Rodnick hatte ihm gesagt, der Direktor sei noch mit einem Klempner im Heizungskeller beschäftigt, aber gleich bei ihm. Wilbur fragte sich, was er angestellt hatte. Als ihm außer den manipulierten Ausleihdaten der Bibliothek, Henrys Geld und den Eiern, die er damit kaufte, nichts einfiel, kam er zum Schluss, dass die Movie Men aufgeflogen sein mussten. Vor ein paar Tagen hatten fünf Jungen Apocalypse Now gesehen und waren von O’Carroll erwischt worden. Der Wachmann hatte ein Riesentheater gemacht und damit gedroht, Moriarty zu unterrichten. Nur dank Peter Summerhill, der über unerschöpfliche Geldreserven zu verfügen schien und ein großzügiges Schweigegeld zahlte, behielt O’Carroll die Sache für sich.
Aber keiner der Jungen traute Alan O’Carroll, dessen Narbe für die wildesten Gerüchte sorgte, über den Weg. Auch Wilbur hätte es nicht erstaunt, wenn der windige Kerl trotz Bestechung zu seinem Chef gegangen wäre, um den Filmclub hochgehen zu lassen. Der letzte Streifen, den Wilbur gesehen hatte, war The Shawshank Redemption mit Tim Robbins und Morgan Freeman gewesen, und der Gedanke, dass es mit den nächtlichen Treffen bald vorbei sein könnte, machte ihn wütend und traurig.
«Wilbur!«Die Tür war so plötzlich aufgestoßen worden, dass Wilbur zusammenzuckte und seine Halswirbel knirschten, als er den Kopf herumwarf. Robert Moriarty schloss die Tür hinter sich, ging, den Gehstock schwingend, zu seinem Tisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Tief in die Rückenlehne versackt, sah er Wilbur an und tippte mit den Spitzen der Finger, die ein Dach bildeten, gegeneinander.»Wilbur Sandberg«, sagte Moriarty und tätschelte die Akte, die vor ihm lag, um gleich darauf die Hände zu falten, als wolle er beten.
Wilbur rutschte auf seinem Stuhl nach hinten, um ein gerades Kreuz zu machen.
«Ich möchte dich etwas fragen, Wilbur. Kannst du…«Moriarty machte eine seiner unberechenbaren Pausen, drehte sich mit dem Stuhl zum Fenster und sah in einen fahlen, lichtlosen Himmel, der jede Zeitschätzung verunmöglichte.»… mir sagen, wie lange du jetzt schon hier bist? Bei uns in Four Towers?«Er schürzte die Lippen, als müsse er selber überlegen, und sah Wilbur an, die Stirn in tiefe Falten gelegt.
«Ich weiß nicht genau, Sir«, sagte Wilbur.»Vier Monate?«
Moriarty nickte scheinbar gedankenverloren. Er sah wirklich sehr müde aus, dachte Wilbur, aber dass er jede Nacht mit seiner Frau schlief, konnte er sich trotzdem nicht vorstellen. Bestimmt war er einfach überarbeitet. Die Aufgabe, das Geld der Regierung sinnvoll einzusetzen, hatte er sehr ernst genommen und bestimmt ein paar schlaflose Nächte deswegen verbracht. Die bleiche, zarte Elizabeth konnte unmöglich für seine dunklen Augenringe verantwortlich sein.
«Nahe dran«, sagte Moriarty, noch immer nickend. Er stand auf und strich mit einem Finger am Rahmen eines Bildes entlang, als wolle er es geraderücken.»Vier Monate, eine Woche und fünf Tage ist es her, seit ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, dich in meinem Büro zu begrüßen. «Er grinste, ging um den Tisch herum und setzte sich auf die Kante. Er kreuzte die gestreckten Beine und verschränkte die Arme vor der Brust.
«Ich hätte nicht gedacht, dass es schon so lange ist, Sir«, sagte Wilbur. Er fühlte sich unbehaglich. Falls Moriarty etwas gegen ihn in der Hand hatte, wäre es ihm lieber gewesen, damit konfrontiert statt auf die Folter gespannt zu werden.
«Tja, die Zeit fliegt«, sagte Moriarty. Er seufzte und sah aus dem Fenster, wo nichts war. Nicht einmal eine Taube durchquerte das dichte Grau.»Die Zeit fliegt. «Er legte die Hände an die Tischkante und sah Wilbur an.»Deshalb und weil du dich gut gemacht hast, werde ich deine baldige Entlassung beantragen.«
Wilbur brauchte einen Moment, um diese Nachricht zu verdauen. Er hatte sich nie Gedanken über das Ende seiner temporären Aufbewahrung, wie er es nannte, gemacht. Er fühlte sich wohl in Four Towers, wohler jedenfalls als bei den Conways. Die älteren Jungen ließen ihn mehr oder weniger in Ruhe, nachdem er in den ersten Wochen schikaniert und bedroht worden war. Mit einem Teil von Henrys finanziellen Zuwendungen bezahlte er die aus fünf hartgesottenen Burschen bestehende Gang, die von den schwächeren Jungen Schutzgeld kassierte und als Gegenleistung dafür sorgte, dass ihnen nichts passierte. Weil Moriarty Wilburs Intelligenz erkannt hatte, blieb ihm auch der Schulunterricht erspart, jene zwölf Stunden pro Woche, während derer ein Lehrer aus Sligo mit den Jungen Mathematik, Englisch, Geschichte und Biologie paukte. Die vierzehntäglichen Gespräche mit einem Psychologiestudenten, die als therapeutische Begleitmaßnahme bezeichnet wurden und ein Witz waren, brachte er dank seiner bei den Conways einstudierten Verstocktheit inzwischen locker hinter sich. Er hatte vor drei Wochen mit dem Krafttraining begonnen, und obwohl er noch keine Muskelmasse zugelegt hatte, war er zuversichtlich, dass sich die Schinderei bald auszahlen würde.
Er hatte Freunde hier, Danny McAllister und Colum Noland, außerdem verstand er sich gut mit Jack Connolly, einem der anderen Teilzeitbibliothekare. Seine Arbeit verrichtete er mechanisch, den sonntäglichen Gottesdienst brachte er in somnambuler Entrücktheit hinter sich, und an den Umstand, mit sechsundzwanzig Jungen in einem Raum zu schlafen, ihre Atemgeräusche, ihr Gemurmel und Ächzen zu hören, hatte er sich längst gewöhnt. Über eine Zeit nach Four Towers hatte er nie nachgedacht und stellte jetzt mit Entsetzen fest, dass er nicht ewig hierbleiben konnte und keine Ahnung hatte, wie seine Zukunft aussehen würde. Zu Pauline Conway zurück musste er nicht, so viel war sicher. Henry hatte ihm erzählt, sie habe sich von der Liste der Pflegeeltern streichen lassen und sei für unbestimmte Zeit zu ihren Eltern nach Waterford gefahren. Aber natürlich gab es andere Ehepaare, die ihre Kinderliebe oder Erziehungswut ausleben wollten. Und diesmal würden die Behörden bestimmt dafür sorgen, dass er bei Leuten landete, die mit schwierigen Burschen besser zurechtkamen.
«Du scheinst ja nicht gerade überwältigt vor Freude«, sagte Moriarty.
Wilbur senkte den Blick. Seine Schuhe waren blitzsauber. Jetzt wünschte er, sie am Morgen nicht poliert zu haben. Er bereute auch, sich immer so gut benommen zu haben, nie unangenehm aufgefallen zu sein. Hätte er sich wie der latent gefährliche, verkorkste Jugendliche aufgeführt, als den ihn Pauline und der Psychologe beschrieben hatten, würde Moriarty wohl kaum riskieren, ihn in die Gesellschaft zu entlassen.
«Es ist nur… Es kommt ein wenig überraschend«, sagte Wilbur schließlich.
Moriarty lachte.»Oh ja, das Leben steckt voller Überraschungen!«Er öffnete Wilburs Akte und vertiefte sich eine Weile darin.»Hier steht, maximal sechs Monate. «Er sah Wilbur an.»Erinnerst du dich?«
«Ja, Sir«, sagte Wilbur.
«Dann erinnerst du dich bestimmt auch daran, dass ich dir gesagt habe, du seist ein kluger Junge und gehörtest eigentlich nicht hierher.«
«Ja, Sir.«
«An meiner Einschätzung hat sich nichts geändert. Du…«Moriarty nahm seinen Stock und ging zum Fenster. Er blickte hinaus, als läge dort draußen nicht dichtes Grau, sondern eine weite Landschaft, an der sich das Auge sattsehen konnte. Immer wieder strich er mit zwei Fingern der freien Hand über die Krawatte. Es wurde dunkel, und sein Gesicht spiegelte sich im Glas, aber er sah es nicht. Plötzlich drehte er sich um und deutete mit dem Stock auf Wilbur.»… hast dich untadelig verhalten. Kein einziger Vorfall. «Er fuchtelte ein wenig mit dem Stock.»Das ist Rekord!«Er ging um den Schreibtisch und setzte sich.
Wilbur fühlte sich elend. Er dachte daran, Moriarty von seinen Verfehlungen zu berichten. Er besaß Geld, obwohl es verboten war. Moriarty wollte damit verhindern, was im Schatten seiner Vertrauensseligkeit längst geschah, nämlich die heimliche Etablierung einer Klassengesellschaft, in der Jungen mit Geld sich Waren und Dienste und die Komplizenschaft von Wachmännern kauften. Wilbur war ein Mitglied der Movie Men, fälschte Ausleihstatistiken und schlich sich fast jede zweite Nacht aus dem Schlafraum, um eine Stunde lang alleine durch die Gänge zu schlendern. Er kaufte Eier von Geraldine, ein weiteres Vergehen, das er dem Direktor präsentieren konnte.
«Ich werde noch heute alles Nötige in die Wege leiten, um dich so bald wie möglich loszuwerden. «Moriarty lachte erneut, hörte aber auf, als er Wilburs bestürztes Gesicht sah.»Oh, ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, wer sich bis zu deiner Volljährigkeit um dich kümmern wird. «Er zog ein Blatt aus der Akte und warf einen Blick darauf.»Miss Agnes Ferguson. Sagt dir der Name etwas?«
Wilbur war zu überrumpelt, um einen Ton hervorzubringen. Natürlich erinnerte er sich an seine ehemalige Lehrerin. Einen Monat nachdem er auf die neue Schule gewechselt war, hatte sie ihn bei den Conways besucht, um zu sehen, wie es ihrem Lieblingsschüler ging, dem Wunderkind, dessen Zukunft sie in so leuchtenden Farben gezeichnet hatte. Pauline hatte Kaffee gekocht und Kuchen gebacken, und Wilbur hatte auf dem Cello gespielt. Er erinnerte sich daran, dass Miss Ferguson ihm Broschüren englischer Eliteuniversitäten mitgebracht und beim Abschied fast geweint hatte.
«Sie war deine Grundschullehrerin und ist jetzt pensioniert«, sagte Moriarty. Er wartete noch immer auf eine Reaktion von Wilbur.»Sie war in England bei ihrer Schwester und hat erst kürzlich erfahren…«Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, sah eine Weile nachdenklich hinein und schloss sie wieder, ohne ihr etwas zu entnehmen.»… wie es dir ergangen ist in letzter Zeit.«
«Sie weiß, dass ich hier bin?«Wilburs Hirn arbeitete auf Hochtouren, um die möglichen Folgen eines Zusammenlebens mit Miss Ferguson abzuschätzen. Gleichzeitig forderte ihn eine innere Stimme lauthals auf, Moriarty die Geldscheine, die, mit Papier umwickelt, in seinen Schuhen lagen, zu zeigen, die nach Schweiß und Leder riechenden Scheine auf den Tisch zu knallen und ihn über die wahren Zustände in Four Towers aufzuklären. Immer dröhnender befahl ihm die Stimme, sich als einen der Schlimmsten darzustellen, als Unscheinbaren, der dank seiner Intelligenz die Lücken des Systems erkannt hatte und zu nutzen wusste. Die Wahrheit würde den naiven, von Gleichheit und Gerechtigkeit träumenden Menschenfreund so treffen, dass er für keinen der Jungen mehr ein gutes Wort einlegen, für keinen je wieder eine vorzeitige Entlassung beantragen würde.
«Oh ja, selbstverständlich ist sie über deinen momentanen Aufenthaltsort im Bilde. «Moriarty grinste kurz und klappte die Akte zu.»Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gestern zu Hause besucht. Eine äußerst nette und kultivierte Dame, muss ich sagen. Sehr rüstig für ihr Alter. Ich bin sicher, sie wird es mit dir aufnehmen können. «Er erhob sich und ging ohne den Stock zum Bücherregal, um ein gekipptes Buch aufzurichten.»Bis zu deinem achtzehnten Geburtstag dauert es ja sowieso nicht mehr sehr lange, nicht wahr?«
«Nein, Sir. «Wilbur sah sich in einem Bett mit geblümter Wäsche liegen. Er sah Miss Ferguson, die ihm Kekse und einen Becher heißer Milch brachte. Er hörte, wie sie ihn nach der Hauptstadt der Mongolei fragte und der Dauer des Zweiten Punischen Krieges. Am neunzehnten März nächsten Jahres würde er volljährig sein. Am selben Tag würde Bruce Willis seinen dreiundvierzigsten Geburtstag feiern. Er sah sich blutend am Boden liegen, zusammengeschlagen von der Gang als Rache für seinen Verrat, der vielleicht nicht einmal seine Auslieferung an Miss Ferguson verhindern konnte. Er wollte Moriarty alles erzählen, aber er tat es nicht.
«Dann wäre, denke ich, so weit alles geklärt«, sagte Moriarty. Er nahm seinen Stock, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.
Wilbur erhob sich.
«Sobald es Neuigkeiten gibt, werde ich dich darüber in Kenntnis setzen. «Moriarty öffnete die Tür und klopfte Wilbur, der den kalten Flur betrat, auf den Rücken.»Und übertreib es nicht mit dem Gewichteheben.«
«Nein, Sir«, sagte Wilbur.»Danke, Sir. «Er drehte sich nicht mehr um, ging den Flur hinunter und um die Ecke und an O’Carroll vorbei, der mit einer Tasse Kaffee aus dem Raum der Wachmänner kam und ihm nachrief, er solle gefälligst grüßen. Wenig später betrat er die Bibliothek, wo Jack Connolly für ihn eingesprungen war, setzte sich an einen der hintersten Tische und dachte im Schutz des Paravents darüber nach, wie er seinen Aufenthalt in Four Towers verlängern konnte.
Conor hatte es nach ein paar erfolglosen Versuchen aufgegeben, mit Wilbur zu reden und ihn für das, was geschehen war, um Verzeihung zu bitten. Es tat weh, seinen ehemaligen Freund jeden Tag zu sehen und nicht mit ihm sprechen zu können. Obwohl er den Polizisten, dem Psychologen oder Moriarty gegenüber nie Reue über seine Tat gezeigt hatte, zerriss es ihm das Herz beim Gedanken, dass er, wenn vielleicht auch nur indirekt, für Orlas Tod und Wilburs Unglück verantwortlich war. Seit jenem Tag vor sieben Jahren plagten ihn Albträume, aber die Bilder, die ihn nachts schweißnass aufschrecken ließen, zeigten nicht seinen von der Kugel niedergeschossenen Vater, sondern eine regennasse Landstraße, ein zuckendes, sterbendes Pferd und Orla, die über die himmelblaue Wellen werfende Kühlerhaube gebreitet dalag, ihm in die Augen sah und mit den Lippen ein blutiges Wort formte, das er nicht erriet.
Die Einzelheiten des Unfalls hatte er von einem der Polizisten, die ihn verhörten, den Rest aus der Zeitung. Monatelang hatte er einen Artikel mit sich herumgetragen, bis das Papier, wo es gefaltet war, riss und er es kleben musste. Die Schwärze der Schrift hatte sich in feinen Staub aufgelöst, die Buchstaben verblassten und verschwanden teilweise, das Papier wurde weich und dünn und zerfiel an den Rändern. Das Klebeband vergilbte, wurde spröde, bekam Risse und brach. Irgendwann nahm Conor den Ausschnitt aus der Hosentasche und bewahrte ihn in seiner Reisetasche auf. Eines Tages verbrannte er ihn im Taubenschlag, kratzte die Asche zusammen und warf sie vom Turm in den Wind. Doch das Ritual blieb ohne Wirkung, die Träume verschwanden nicht und auch nicht die allabendliche Angst vor ihnen.
Lange Zeit hatte Conor gehofft, Wilbur könnte ihm vergeben und die schlimmen Träume würden seltener werden und irgendwann ganz ausbleiben. Er hätte aus dem Dunkel seiner Wände treten, wieder mit Menschen reden und als ein Mensch leben können, statt zu schweigen und törichte Worte an Tauben zu verschwenden. Er hätte die Umarmung seiner Mutter zugelassen und den Kuss seiner Schwester, und er hätte ihnen vielleicht endlich erlaubt, von seinem Vater und Kieran zu erzählen, davon, wie die beiden abwechselnd auf dem Pferd ritten und in der Sommerhitze im nahen See planschten. Aber sosehr er sich eine Aussöhnung mit seinem alten Freund auch wünschte, so gut verstand er doch, warum Wilbur ihm diese Absolution verweigerte. Den Erlass der Sünden gab es im Beichtstuhl, aber im wahren Leben büßte man bis zuletzt für seine Taten.
Conor erwartete keine Erlösung mehr, keine helleren Tage und kein Glück. Er hatte bis jetzt nicht den Mut gehabt, seine Mutter zu bitten, ihn nicht mehr zu besuchen, aber er würde es bald tun. Er war müde und gleichgültig gegenüber seinem Schicksal. Er wollte nicht mehr reden und nicht mehr jeden ersten Sonntag im Monat seine ganze Kraft aufwenden, um Aislin und Fiona einen behutsam ins Licht zurückkehrenden Sohn und Bruder vorzuspielen, der irgendwann wieder ein Leben haben würde.
In der Bibliothek, wo er hinging, wenn Wilbur nicht da war, hatte er ein Buch über Meditation gefunden. Jetzt lag er manchmal nachts in seinem Bett und ließ sich in einen Zustand gleiten, der kein Denken war und kein Empfinden und auch kein Schlaf, sondern das, was er für die Lage seines Vaters hielt. Es war ein tiefes, lichtloses Meer, ein großer Fluss, in dem Bilder trieben, sich wälzten und für Sekunden ihre schimmernden Seiten zeigten wie Fische ihre Bäuche. Es war ein Fallen und Schweben, ein ständiges Entgleiten. Es war ein dumpfes Ahnen, weit weg vom Erinnern. Es wurde ein Versinken, ein Ausruhen, ein halber Tod.
Wilbur war nicht der einzige Nachtwandler. Wenn der Wachmann seine Außenrunde machte, begegneten sich die schlaflosen Jungen auf den Fluren wie Mönche im Kloster. Im Sommer war vielen die Luft im Schlafsaal zu stickig, im Winter flohen sie vor dem Husten der Bettnachbarn. Manche suchten eine stille Ecke zum Rauchen, andere wollten für eine Weile ihre Ruhe. Die Movie Men schlenderten seelenruhig über die Gänge, Neulinge huschten ängstlich umher. Niemand redete oder machte Lärm, niemand stahl oder beschädigte etwas und gefährdete damit den nächtlichen Freiraum. Wer es dennoch tat, bekam es mit der Gang zu tun, die jeden neu Angekommenen über die Regeln aufklärte. Am Tag waren alle hier Gefangene, nachts konnte jeder, der wollte, eine Weile frei sein, solange er sich an die geheimen Gesetze hielt.
Der halbe Liter Pocheen, billiger Kartoffelschnaps aus einer Schwarzbrennerei, hatte Wilbur ein Vermögen gekostet. Der Fusel war, auf zwei Plastikdosen verteilt, in Ersatzteilen für Traktoren eingeschmuggelt worden. Callum Gallagher, dessen kriminelles Potential in Four Towers erst richtig zur Entfaltung kam, hatte seinem Kunden die Hälfte des Geldes als Anzahlung abgenommen und den Rest bei Lieferung. Dann hatte er ihm anschaulich erklärt, was er mit ihm machen würde, falls Wilbur erwischt und seine Quelle preisgeben würde. Wilbur hatte versprochen, vorsichtig zu sein.
Jetzt saß Wilbur in einer Ecke der Bibliothek und zwang sich, den Armeleutewhiskey löffelweise hinunterzuschlucken. Er wusste, dass man sich mit Alkohol Mut antrinken konnte, und genau das beabsichtigte er zu tun. Den Schlüssel zur Bibliothek, eine von vier Kopien, hatte er vom Präsidenten der Movie Men gegen Bezahlung einer horrenden Leihgebühr erhalten. Er steckte im Schloss der abgesperrten Tür. Heute war keine Filmnacht. Im Fernsehen lief nichts Nennenswertes, jedenfalls nicht auf den drei irischen Kanälen, die mit Hilfe der selbstgebastelten Zimmerantenne zu empfangen waren.
Der Alkohol schoss warm durch Wilburs Venen und wuchs im Hirn wie eine schwere schwarze Wolke. Blitze strömten aus der Wolke und sickerten bis in die Fingerspitzen. Der Hals brannte, im Bauch loderte es. Müdigkeit löste Angst ab, danach kamen Übelkeit und ein dummes Grinsen.
Schließlich, nach der ersten Dose, entflammte in Wilbur etwas wie Furchtlosigkeit, vielleicht auch nur Leichtsinn. Jedenfalls war genug davon da, dass Wilbur damit begann, Bücher aus den Regalen zu nehmen und sie auf dem Boden aufzutürmen. Obwohl er schwankte, wählte er die Bücher sorgfältig aus, ließ die Romane, für die er gekämpft hatte, stehen, und warf die Werke von redseligen Pfaffen, Kardinälen, Politikern und anderen Schwätzern auf den Haufen, dazu die billig gebundenen, gekürzten und dennoch nie ausgeliehenen Romane der Sammlung von Reader’s Digest, ein Ratgeberbuch, das Glück versprach, einen Bildband über Schweden, zwei Bände mit dem Titel Deine Zukunft in der Armee, ein bebildertes Werk über Tierfallen sowie alles, was er zu den Themen Pfadfinder, Pilgerreisen und Wasser fand. Die vierzehn Bücher, die sich mit Tauben beschäftigten, stellte er wieder an ihren Platz, nachdem er sich Moriartys Bestürzung ausgemalt hatte.
Irgendwann schüttete er den Rest Fusel aus der zweiten Dose über den Bücherberg, schaffte es nach ein paar zittrigen Versuchen, eins der sündhaft teuren Streichhölzer anzureißen, und ließ es fallen. Der Alkohol flammte blau und weiß auf, das Papier wurde gelb, dann braun und schwarz. Leder warf Blasen und schälte sich, Pappe kräuselte sich in der Hitze. Heller Rauch stieg hoch. Wilbur setzte sich hin, legte den schweren Kopf an die Wand und schloss die Augen. Direktor Moriarty würde enttäuscht sein. Miss Ferguson würde vielleicht weinen. Nein, so einen Jungen konnte sie beim besten Willen nicht in ihr Haus aufnehmen. Einer wie Wilbur Sandberg gehörte genau da hin, wo er war, auch wenn er damit der besseren Welt verlorenging.
Er hörte Moriarty, der nach ihm rief. Vielleicht war es auch Foley oder O’Carroll oder Henry. In seinem Schädel lärmte es. So fühlte es sich also an, wenn man betrunken war. Die Augenlider Vorhänge aus schwerem Samt. Kichern vor Angst und Übermut. Stimmen im Kopf.
«Wilbur!«Laut und deutlich.
Er öffnete die Augen, ein Stück weit nur. Der Rauch war jetzt dunkel, die Flammen loderten. Er atmete die verbrannten Worte ein, legte das Kinn auf die Brust und schloss die Augen.
«Wilbur!«Verweht, von sehr weit weg.
Und das Poltern des Gewitters, entfesselt von der Wolke in seinem Schädel.
Cormack hasste die Nachtschicht. Er hasste es, auf dem schlecht geheizten Turm zu stehen und in die Dunkelheit zu starren. Weil er nicht rauchte, aß er Bonbons und Schokolade, um das langsame Verrinnen der Zeit erträglicher zu machen. Es gab keine Mrs. Cormack, die zu Hause auf ihn wartete, aber eine Katze mit einem Hang zum Trübsinn namens Lady Belle. Während er auf die schwarzen Felder sah, dachte er an das Puppenhaus, das er gerade baute und das er an Weihnachten zusammen mit den anderen verkaufen würde. In weiter Ferne streifte ein Paar Scheinwerfer eine Straße entlang, wurde zu zwei roten Rückleuchten und löste sich auf. Cormack nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. In seinen Uniformtaschen raschelte Bonbonpapier. Er hielt die Hände über den Heizkörper, Wärme waberte über sein Gesicht und verlor sich.
Seit fünfundzwanzig Tagen hatte es keinen Vorfall an den Mauern mehr gegeben. Zuletzt hatte ein Junge einen mit zwanzig Zigarettenpackungen gefüllten und von Schnüren zusammengehaltenen Schuhkarton in den Hof geworfen und war auf dem Mofa, das er zuvor geschoben hatte, davongebraust. Auf dem Deckel des Kartons stand der Name des Empfängers, der die Bestellung Moriarty gegenüber natürlich bestritt. Seither verliefen die Nächte ruhig, was Cormacks Natur entgegenkam. Wenn er nur hätte lesen dürfen auf seinem Turm, oder wenigstens Radio hören. Aber das erlaubte der Direktor nicht, und weil Cormack ein guter Angestellter war, hielt er sich daran.
Hasen kreuzten im schwachen Mondschein die Felder, gestern stand ein Reh auf der Straße, die zum Tor führte. In einem der drei anderen Türme hockte O’Carroll und rauchte. Cormack mochte seinen Kollegen nicht, der ihn Mack nannte und bestahl, Bonbons aus den Taschen klaute und dachte, es bleibe unbemerkt. Im vierten Turm schliefen die Tauben, eine Vorstellung, die Cormack tröstlich erschien. Im Sommer, wenn er die Fenster hochklappte, konnte er ihr Gurren hören. Ein Motorrad lärmte im Nichts, tauchte als weißes, trichterförmiges Licht auf, drehte an der Kreuzung ab und verschwand schaukelnd in Richtung Sligo. Vielleicht jemand mit Schnaps oder Zigaretten auf dem Gepäckträger, der es sich im letzten Moment anders überlegt hat, dachte Cormack.
Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf die Fenster der Bibliothek. Er hatte schon einmal ein Feuer gesehen, drüben in einem der Schuppen, in denen die Werkstätten untergebracht waren. Zwei Jahre war das her. Seine Aufmerksamkeit hatte damals einen riesigen Sachschaden verhindert, möglicherweise eine Katastrophe. Die Flammen des Feuers in der Bibliothek erschienen ihm gelb und rein, nicht wie das schmutzige Lodern der Werkstatt, das Qualm ausgestoßen hatte wie ein Fabrikschlot. Cormack öffnete die Luke im Boden und kletterte die Leiter hinunter, rannte ins Hauptgebäude und löste den Feueralarm aus.
Als Wilbur, vom eigenen Husten geweckt, die Augen öffnete, nahm er gebrochene Dunkelheit wahr. Kein Geräusch drang an sein Ohr, nur seine Lungen pfiffen leise. Sein großer Zeh tat ihm weh, der rechte. An der Decke verlief ein Kabel. Das Metall des Bettgestells war warm, nicht kalt wie das im Schlafraum. Niemand keuchte neben ihm, keiner knurrte und winselte im unruhigen Schlummer. Er drehte den Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite. Aus dem Donner war ein fahles Pochen geworden, etwas in seinem Schädel rutschte und stieß irgendwo dagegen, wenn er sich bewegte. Er blinzelte in die Helligkeit. Im Himmel war er nicht.
Von Müdigkeit ergriffen, schlief er wieder ein. Im Traum hörte er Stimmen. Er schreckte auf, dämmerte vor sich hin. Dann lag er da und lauschte Sätzen wie Regen, der auf ein Dach fällt. Worte plätscherten über seinen Halbschlaf, zerrannen unverständlich. Danach hüllte ihn wieder Dunkelheit ein, umgab ihn Stille.
Später erwachte er mit Kopfschmerzen, wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Mondlicht schwamm durch die Fenster, durchwirkte das Dunkel mit einem Schimmer. Wilbur hustete eine letzte Wolke Bücherasche, dann verstummte das Pfeifen in seinen Lungen. Sein Zeh war versengt und mit einer fettigen Salbe bestrichen. Ein Wasserkrug und ein Glas standen auf dem Nachttisch, daneben, in einem weißen Gefäß, das wie eine Seifenschale aussah, lag eine einzelne Tablette. Wilbur setzte sich auf, ließ die Beine über den Bettrand baumeln und sah sich um. Neben seinem standen noch drei weitere Betten im Raum, aber nur seins war mit weißen Laken bezogen. An einer Wand hing ein Kalender. Die Uhr war kaputt, der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Auf der Kommode neben der Tür standen eine leere Vase, eine braune Flasche und eine nierenförmige Schale aus Chromstahl, in der ein Wattebausch lag. Wilbur wusste, dass er sich auf der Krankenstation befand, obwohl er sie nie von innen gesehen hatte. Er stand auf und ging barfuß zum Fenster, hielt das Gesicht nahe ans Glas und sah hinaus. Einer der Wachmänner bewegte sich gemächlich über den Flur vor der Bibliothek, der schmalen Silhouette nach zu urteilen war es O’Carroll. Sterne standen im Himmel.
Wilbur ging zur Tür und drückte die Klinke, obwohl er wusste, dass man ihn eingeschlossen hatte. Er fragte sich, wie viel von der Bibliothek abgebrannt war. Als er Schritte auf dem Flur hörte, legte er sich zurück ins Bett und stellte sich schlafend. Noch bevor die Tür aufgesperrt wurde, erkannte er die Stimmen von Foley und Miss Rodnick. Das Neonlicht, das sich zitternd und begleitet von knisterndem Summen über ihm ausbreitete, drang durch seine geschlossenen Lider.
«Liegt da, als könnt er kein Wässerchen nicht trüben«, sagte Foley.
«Seinetwegen verpasse ich meine Lieblingssendung«, sagte Miss Rodnick.
Wilbur hörte, wie Wasser aus dem Krug ins Glas floss.
«Was für eine Sendung ist das denn, wenn man fragen darf?«
«Beschwingt in den Abend.«
«Kenn ich nicht. Dabei seh ich eine Menge fern.«
«Ich rede von einer Radiosendung. Und jetzt sollten wir uns um diesen Flegel hier kümmern.«
Wilbur spürte, wie Miss Rodnick ihm mit der Handfläche ein paar Mal leicht auf die Wange schlug.»Aufwachen, junger Mann!«
Foley rüttelte ihn am Arm.»Stell dich nicht tot, Sandberg! Wir haben heute noch was anderes vor als Krankenbesuche!«
Wilbur öffnete die Augen einen Spalt weit. Das harte Licht sickerte in seinen Kopf und benetzte darin Stellen mit dumpfem Schmerz. Miss Rodnick, verärgert, stand links, Foley rechts von ihm, bekümmert und hungrig. Wilbur schloss die Augen. Foley stieß ihn leicht gegen die Schulter.
«Hast du nicht gesagt, du hast keine Streichhölzer dabei?«
«Schluck die Tablette«, sagte Miss Rodnick.
Wilbur öffnete die Augen ein wenig, nahm die Tablette aus Miss Rodnicks Hand, schob sie zwischen die Lippen und trank das Wasserglas leer.
«Angenehme Träume«, sagte Foley.
«Wenn ich mich beeile, höre ich noch den Schluss.«
«Ich bring Sie zum Wagen.«
Das Licht ging aus, die Tür wurde geschlossen und abgesperrt, Schritte und Stimmen entfernten sich. Wilbur setzte sich auf und spuckte die Tablette an die gegenüberliegende Wand.
O’Carroll kannte diese Geräusche. Er wusste, was passierte, und Teil seiner Arbeit wäre gewesen, es zu beenden. Aber er stand da und wartete. Er hatte das Feuer in der Bibliothek auch gesehen und es erst für das flackernde Licht des Fernsehers gehalten, gedacht, die Jungs hätten vergessen, die Paravents so um die Kiste zu stellen, dass das Leuchten des Fernsehers durch die Fenster nicht zu sehen war. Nicht einmal Cormack, der Streber, hatte das nächtliche Treiben der Movie Men bisher entdeckt. Dann hatte O’Carroll genauer hingesehen und die Flammen erkannt. Er war beinahe die Leiter hinuntergefallen, aber da schrillte schon der Alarm. Weil er ein verdächtiges Fahrzeug nicht aus den Augen gelassen hatte, ein Motorrad, das an der Kreuzung langsamer wurde und dann in Richtung Osten verschwand, hatte er das Feuer zu spät bemerkt. Weil er seinen verdammten Dienst getan hatte und das Feuer in seinem Rücken brannte, wo er verflucht noch mal keine Augen hatte.
Eine halbe Minute. Dreißig Sekunden trennten ihn davon, sich im Lob des Direktors zu sonnen. Er säße jetzt im Büro von Moriarty, der wegen des Brandes um zwei Uhr morgens aus dem Bett geklingelt worden und gleich hergefahren war. Er, Alan O’Carroll, wäre der Held der Stunde, nicht Cormack, nicht schon wieder dieser beschissene Musterknabe. Mack mit seinen weibischen Händen, die Puppenhäuser bauten und eine fette Katze streichelten.
O’Carroll ballte die Fäuste. Irgendwann würde er im dunklen Flur von Cormacks Haus warten und diesem elenden Streber eine Tracht Prügel verpassen.
Die Geräusche verstummten. Etwas sackte zu Boden. O’Carroll trat aus dem Schatten und schlenderte um die Ecke. Callum Gallagher und zwei seiner Kumpane sahen ihn ruhig an. Gallagher legte den rechten Zeigefinger an die Lippen und grinste. O’Carroll nickte kühl. Das Trio verschwand in Richtung der Schlafräume. Es war kurz vor vier Uhr morgens. O’Carroll sah sich den Burschen an, den die Gang in die Mangel genommen, für irgendetwas bestraft hatte. Das Gesicht des Jungen wies keinen Kratzer auf, sah man von der geschwollenen Lippe ab. Er lag gekrümmt da, beide Hände in den Magen gepresst, wohin die drei Hüter des Gesetzes ihn geschlagen und getreten hatten.
O’Carroll nahm die Mütze ab wie vor einer Leiche und setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Mauer. Er dachte an seine Kindheit und daran, wie oft er zusammengeschlagen worden war. Er kam auf keine Zahl, es gab keine Summe. Im Nachhinein war es immer viel weniger, weil er sich nicht erinnern wollte an jedes einzelne Mal. Weil er das Brennen nicht mehr spüren wollte, wo seine Haut jahrelang blau gewesen war. Weil er den Biergestank nicht riechen und das Heulen seiner Mutter nicht hören wollte. Weil die Bilder und die Gerüche und das Brennen verschwinden würden, wenn er einfach nicht mehr daran dächte.
O’Carroll strich sich mit dem Finger über die Narbe, dreimal, das brachte Glück. Er kannte den Jungen, der vor ihm am Boden lag wie ein frierender Hund. Das war der Spinner, der jede Woche freiwillig in den Turm hochstieg, um Taubenscheiße abzukratzen. Der nach der Arbeit auf dem Rücken lag und träumte. Er betrachtete den Jungen, der die Augen geschlossen hielt und keuchend atmete. Er streckte die Hand aus und zog sie zurück. Eine Zigarette wäre jetzt das Richtige gewesen, aber hier drin zu riskant. Er fischte stattdessen eins von Cormacks Bonbons aus der Tasche, wickelte es aus und schob es in den Mund. Erdbeere, Weibergeschmack. Der Junge ächzte, krümmte sich noch mehr zusammen. Im Garten hinter dem Haus hatte es Erdbeeren gegeben, groß und rot, wenn das Gekreuche und die Vögel nicht vorher alles holten. Er machte die Augen zu, legte den Kopf an die Wand. Seine Mutter füllte Untertassen mit Guinness, darin ersoffen die Schnecken. Sein Vater sah das Vergeuden von Bier als Sünde, als Verbrechen, und Erdbeeren hasste er.
O’Carroll öffnete die Augen. Der Junge atmete ruhig.
«He, wovon träumste?«flüsterte O’Carroll, als stelle er sich die Frage selber. Er würde noch eine Weile sitzen bleiben und den Jungen dann zur Krankenstation bringen. Bestimmt war der arme Kerl die Treppe hinuntergefallen. Das passierte immer wieder.
Wilbur atmete mit einem falschen Ächzen, gespielt angestrengt und stockend. Er fragte sich, wie lange man ihn in Ruhe lassen würde, wenn er eine Rauchvergiftung und Erschöpfung vortäuschte, und kam auf einen halben Tag. Dann würde Moriarty mit ihm reden wollen. Wilbur hoffte, dass er wütend war, wütend und enttäuscht genug, um ihn noch eine Weile hierzubehalten, am besten ein Jahr. Dann wäre Wilbur alt genug, um sein Erbe anzutreten, das Geld zu nehmen und zu verschwinden.
«Ich werde Miss Ferguson anrufen müssen«, sagte Moriarty leise, um Wilbur nicht zu wecken.
«Die Arme«, sagte Elizabeth.»Es wird ihr das Herz brechen.«
Wilbur gelang ein rasselndes Pfeifen, das er aus den Tiefen seiner Lungen holte. Er hätte sich gerne das Kissen über den Kopf gelegt, um nichts mehr zu hören. Er wollte niemanden enttäuschen, niemanden verletzen, weder Moriarty noch seine alte Lehrerin. Hier drin bleiben wollte er, die Eintönigkeit der Tage über sich ergehen lassen, Nagetierfallen bauen und Zeit totschlagen. Er verlangte nichts außer diesen Mauern, die ihn aufheben sollten, bis er achtzehn war.
«Gerade noch hat er Gewichte gestemmt, als hinge sein Leben davon ab. «Moriartys geräuschvolles Ausatmen erfüllte, getragen von einem langen Seufzer seiner Frau, den Raum.»Ich verstehe das nicht.«
«Dabei hast du so viel Hoffnung für diesen Jungen gehabt. «Ihr Flüstern war der Ton aus einem Radio, dem ein Kind unter der Bettdecke lauscht.
Wilbur wünschte, Elizabeth Moriarty würde nicht an seinem Bett stehen und solche Dinge sagen. Der Klang ihrer Stimme bewirkte, dass er sich schäbig fühlte, feige und dumm. Sie musste mit ihrem Mann hergekommen sein, überlegte er, mitten in der Nacht und nur seinetwegen. Er schämte sich und hoffte, die beiden würden bald gehen.
«Die Hoffnung habe ich nicht aufgegeben«, sagte Moriarty so leise, dass Wilbur es kaum verstand.»Das tue ich nie.«
Eine Weile standen die beiden noch schweigend da, dann verließen sie den Raum. Wilbur hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Er blieb auf der Seite liegen und wartete, bis die Schritte sich entfernt hatten, wartete, bis das Kreisen der Gedanken langsamer wurde und der Drang, weinen zu müssen, nachließ. Dann öffnete er die Augen und schlug die Bettdecke zurück, wo sie auf dem verbrannten Zeh lag. Er überlegte, ob er so betrunken gewesen war, dass er nicht gemerkt hatte, wie er Feuer fing. Wären die Flammen über seinen Fuß das Bein hochgekrochen, im Stoff der Hose Nahrung findend? Wäre er verbrannt, zusammen mit sämtlichen Büchern, dem Schund, dem Mittelmaß und dem Lesenswerten? Das brachte ihn auf die Frage, wer ihn gerettet hatte.
Conors Lippen sahen aus, als hätte er zwei Würstchen unter sie geschoben, wie Stuart Maguire es manchmal im Speisesaal tat, wenn er den Clown gab. Die Haut um seine Rippen war dunkel verfärbt, am rechten Unterarm prangte ein blauer, faustgroßer Fleck. Wenn er atmete, tat es weh, und wenn er sich aufrichtete, ritzten Messer seine Bauchmuskeln.
Doktor Carrigan, der in dieser Nacht zum zweiten Mal nach Four Towers hinausgefahren und entsprechend übel gelaunt war, hatte ihn untersucht und eine Überweisung ins Krankenhaus für unnötig befunden. Der alte Arzt hatte mit seiner Frau neun Kinder großgezogen, darunter fünf Söhne, und er nahm Conor kein Wort von der Geschichte mit dem Treppensturz ab.»Wenn du gefallen bist«, hatte er gesagt,»bin ich geflogen. Von Collooney bis hierher, wie ein Vögelchen. «Dann hatte er Moriarty eine Salbe gegen Prellungen und eine Handvoll Schmerztabletten gegeben und war nach Hause gefahren zu seiner Frau, die in einem warmen Bett auf ihn wartete. Moriarty hatte die Tabletten in den Medizinschrank gesperrt, Foley angewiesen, alle zwei Stunden nach den beiden Patienten zu sehen, und war dann mit Elizabeth ebenfalls nach Hause gefahren, um noch zu ein paar Stunden Schlaf zu kommen.
Jetzt lag Conor in dem Bett, das dem von Wilbur schräg gegenüber stand, und horchte auf den Atem des Jungen, der einmal sein Freund gewesen war. Die Tabletten begannen zu wirken. Ihre Inhaltsstoffe dockten an den richtigen Stellen seiner Nervenbahnen an, blockierten gezielt Impulse und legten sein Versandzentrum für Schmerzen lahm. Er lag auf dem Rücken und glitt mit den Fingern über jede einzelne Rippe, nur um sicherzugehen. Draußen drückte Licht durch die Dunkelheit wie Feuchtigkeit durch schweren Stoff. In seinem Kopf leierte eine simple Melodie. Er betastete seine Lippen. Für einen Spiegel hätte er aufs Frühstück und Mittagessen verzichtet. Er war nicht müde, nur erschöpft.
«Ich hab die gefragt, ob ich zur Beerdigung darf, aber sie haben’s nicht erlaubt. «Conors Stimme war wie die Deckenlampe, die unschlüssig und nervös angesprungen war, als O’Carroll ihn hergebracht hatte. Sie war wie Strom, nicht wie Licht, und floss schwankend in einer dunklen Bahn.»Ich hab denen gesagt, sie können zehn Bullen mitnehmen, um mich zu bewachen. Oder ich seh von Weitem zu, aus ’m Fenster von ’nem Polizeiwagen. Nichts zu machen.«
Eine Weile herrschte Stille. Wilbur atmete, ohne sich zu rühren.»War vielleicht besser so, wer weiß. Hätte nicht mal Blumen besorgen können. Wilde Margeriten, die hat Orla doch so gemocht. «Conor blickte an die Decke, das schillernde Rechteck, getüncht mit Mondschein. Als sie zur Leinwand wurde, drehte er den Kopf und sah zur Tür.»Hätt eh keinem in die Augen sehen können.«
Wilbur atmete aus, das Ächzen kam von alleine und ohne Absicht. Sein Zeh juckte.
«Wenn ich hier rauskomm, geh ich zum Grab und leg ihr die Blumen hin. Ich weiß ’ne Straße, da wachsen sträußeweise Margeriten. Zwischen Kies und ’nem Zaun wachsen die, Hunderte, man würd’s nicht glauben. «Conor spürte die Stellen, wo Elizabeth Moriarty die Salbe mit ihren Händen eingerieben, die Haut dabei fast nicht berührt hatte. Sie glühten.
Wilbur wedelte mit dem Fuß, um den Zeh zu kühlen.
«Deinem Großvater leg ich auch ’n paar hin. Wenn er sie nicht will, soll er sich beschweren.«
Wilbur gluckste, hielt den Atem an. Draußen verzog sich der Nebel.
«Dann geh ich weg. Irgendwohin, wo mich keiner kennt. Ich fahr mit dem Schiff, je größer das Meer, umso besser.«
Wilbur hustete.
«Wahrscheinlich heuer ich auf ’nem Frachter an. Da werd ich bezahlt und seh was von der Welt.«
Wilbur sah aus dem Fenster. Die Sonne strahlte den Mond an, und der gab von seiner Helligkeit der Erde ab, die Dinge leuchten ließ. Wilbur musste daran denken, dass manche der Sterne, deren Funkeln er sah, schon vor langer Zeit erloschen waren. Nichts war für die Unendlichkeit bestimmt, nicht einmal die Lebensspanne eines Planeten.
«Tasmanien«, sagte Wilbur.
Die Stille, die folgte, dauerte eine Ewigkeit.
«Mindanao«, sagte Conor endlich, und Licht schwebte in seiner Stimme.
Als Folge des Brandes würde die Bibliothek für mindestens zehn Tage geschlossen bleiben. Das bedeutete, dass den Jungen ein wichtiger Ort des Rückzugs genommen wurde, wozu auch immer jeder einzelne diese Momente nutzte. Zudem mussten alle ein paar Stunden damit verbringen, die schlammige Masse aus Löschwasser, verkohlten Büchern und Teppichfetzen vom ruinierten Parkett zu kratzen, Ruß von den Wänden und der Decke zu wischen und alles neu zu streichen. Die Movie Men radierten Wilbur von ihrer Mitgliederliste und schworen Rache.
Die Gang, deren geheime Gesetze Wilbur mit Füßen getreten hatte, würde ihn bestrafen. Conor hatte sich bei seinem nächtlichen Ausflug erwischen lassen, und man hatte ihm eine Lektion erteilt. Dass er jemanden gerettet und ein Feuer gelöscht hatte, war belanglos. Moriarty würde nicht nur in der Bibliothek aufräumen. Er würde wissen wollen, warum Wilbur um Mitternacht durch die Flure spazieren und eine verschlossene Tür öffnen konnte, woher er den nachgemachten Schlüssel hatte und wie er an den Schnaps und die Streichhölzer gekommen war. Es würde eine Untersuchung geben, und das war das letzte, was die Gang in ihren Mauern brauchte. Wilbur würde nicht die Treppe hinunterfallen, er würde von einem Güterzug überrollt werden.
Conor musste die Krankenstation nach einem Tag verlassen. Doktor Carrigan hatte ihm Zähigkeit und eine gute Gesundheit bescheinigt, auf die Schulter geklopft und die Salbe gegen Prellungen geschenkt. Moriarty, von Foley begleitet, holte Conor ab und unterhielt sich dann über eine Stunde in seinem Büro mit dem Jungen, dessen Lippen nach wie vor geschwollen waren. Conor musste dem Direktor noch einmal die ganze Geschichte erzählen, wie er nicht schlafen konnte, den Rauch roch und die Tür eintrat, wie er den halb bewusstlosen Wilbur vom Feuer wegzerrte und die Flammen mit einem Teppich und Wasser aus einer Vase und einer Gießkanne löschte. Wie er später in der Nacht, nachdem er Moriarty den Hergang zum ersten Mal geschildert hatte, den Schlafsaal verließ, um frische Luft zu schnappen, und, vom Rauch noch leicht benebelt, die Treppe hinunterstürzte.
Anders als Doktor Carrigan war Moriarty dazu bereit, Conors Geschichte zu glauben, zumindest teilweise. Dass manche nicht schlafen konnten, aus schlechten Träumen aufwachten oder bei einem einsamen Gang durch die Flure ihren Gedanken nachhängen wollten, konnte er verstehen. Das verstieß zwar gegen die Regeln, aber es war kein Verbrechen. Bei seinem Antritt hatte Moriarty die Anordnung seines Vorgängers, die Türen der Schlafräume nachts abzusperren, aufgehoben, nachdem er über den Brand in einem südamerikanischen Gefängnis gelesen hatte, bei dem zahllose Gefangene umgekommen waren. Er fragte Conor, ob er Wilburs Motive kenne, und gab sich mit einem ahnungslosen Nein zufrieden. Bevor er ihn gehen ließ, zeigte er ihm den Brief, den er vor ein paar Tagen verfasst hatte und in dem er Conors vorzeitige Entlassung anregte.
Nachdem Conor gegangen war, stellte Moriarty sich eine Weile ans Fenster und blickte auf die fernen Hügel, die zum ersten Mal seit Tagen im Sonnenlicht schimmerten. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Stocks, seine Augen waren müde. Er wollte sich setzen, blieb aber stehen und dachte daran, wie es wäre, diese Arbeit aufzugeben. Ob es leicht sein würde, Four Towers zu verlassen und die Jungen und Miss Rodnick, Foley, Cormack, Geraldine und alle anderen im Stich zu lassen. Er überlegte, wie er sein Kündigungsschreiben formulieren würde, ob er den Mut haben würde, Versäumnisse einzuräumen. Ob er seinen guten Ruf aufs Spiel setzen und zugeben würde, dass hier Dinge geschahen, die er nicht für möglich gehalten hatte. Zugeben, dass in seiner Anstalt Jungen andere Jungen krankenhausreif prügelten, dass neben seinem noch ein anderes Gesetz herrschte, ein strengeres.
Tauben flogen vorbei, und er fragte sich, was aus ihnen werden würde, wenn er ginge. Sein Lebenswerk, überlegte er, würde Schaden nehmen, ein Falke seinen Platz einnehmen und Four Towers mit eiserner Hand führen. Er würde sich eine andere Stelle suchen müssen, mit vierundfünfzig. Elizabeth wäre vermutlich nicht angetan von diesen Veränderungen. Nicht jetzt, wo ein Kind in ihr wuchs.
Seine Hand zitterte, und er wechselte den Stock in die Linke. Wolken zogen heran, die Hügel wurden zu sanften, dunklen Wellen. Er war der Kapitän, und dies war sein Schiff. Nichts von dem, was hier geschehen war, musste nach außen dringen. Keiner der Vorfälle der letzten Tage war besorgniserregend genug, um die Pferde scheu zu machen. Er hatte alles unter Kontrolle, brauchte keine Ratschläge von externen Experten, die durch sein Reich stolzierten und von Videoüberwachung und Disziplinierungsmaßnahmen schwärmten. Er konnte auf die Gutachten dieser eiskalten Kerle verzichten, die das Gefängniswesen in Amerika studiert hatten und aus seinen Kindern Verbrecher und dem Taubenschlag wieder einen Wachturm machen wollten. Er kannte sie von Kongressen, diese Karrieretypen mit ihren Mobiltelefonen und elektronischen Notizbüchern, diese Angeber, die hinter seinem Rücken seinen Führungsstil kritisierten und Witze über seinen Stock rissen. Er hatte ihnen zugehört und wollte sie nicht hierhaben.
Er ging zum Schreibtisch, setzte sich hin und wählte Bill Carrigans Nummer. Der alte Mann war auf seiner Seite, Moriarty wollte es sich nur bestätigen lassen.
Wilbur hatte den Brief immer wieder gelesen, so lange, bis er ihn auswendig konnte, wie Conor. Er lag in seinem Bett auf der Krankenstation und murmelte die Worte vor sich hin, fing nach dem letzten wieder beim ersten an, endlos. Ein Matrose hatte sie aufgeschrieben, Abschiedsworte an seine Frau. Eamon McDermott hatte sie unterschlagen, gestohlen und in eine Kiste gelegt, die Kiste in einen verlassenen Dachsbau geschoben. Conor Lynch hatte den Brief gefunden, unter Tüchern, unter dem Fernrohr und dem Messer und dem Revolver, den er in jener Nacht holte. Im Mondlicht hatte er den Brief gelesen und entschieden, ihn Wilbur nicht zu zeigen, schon damals ahnend, was er bedeutete.
Als Wilbur Schritte auf dem Flur hörte, zerriss er das Blatt, auf das Conor den Brief aus dem Gedächtnis geschrieben hatte, und stopfte die Streifen in eine Lücke zwischen den Fliesen und dem Abflussrohr des Waschbeckens. Er war seit Stunden angezogen, die frische Kleidung hatte Foley am Morgen auf das Nachbarbett gelegt. Sein Kater war verflogen, Appetit hatte er trotzdem keinen. Am linken Fuß trug er einen Schuh, am rechten nur einen zu großen Strumpf, weil der Zeh noch immer bandagiert war. Er stand neben dem Bett, als Moriarty und O’Carroll die Tür aufsperrten und das Zimmer betraten. Geraldine folgte ihnen mit Putzzeug und einem Wäschekorb. Moriarty wirkte bekümmert, als er sich im Raum umsah.
«Na, wie geht es uns denn heute?«fragte er und zwang sich zu einem Lächeln und einem munteren Ton.
Wilbur zuckte mit den Schultern. Hose und Hemd waren ihm zu groß. Dass der Alkoholkonsum für eine Schrumpfung seines Körpers verantwortlich sein könnte, erschien ihm unwahrscheinlich und bei näherer Betrachtung absurd. Er hatte viel über die schrecklichen Folgen unmäßigen Trinkens gehört und gelesen, aber in seinem Fall handelte es sich offensichtlich nur um eine Fehleinschätzung der Kleidergröße.
«Doktor Carrigan sagt, wenn du nicht mehr husten würdest, sei dein Urlaub beendet. «Moriarty setzte sich auf eins der leeren Betten und blickte nach draußen, wo Regen niederging. Seewind trieb Wolken über einen Himmel, der ständig seine Farben wechselte, in einer Minute grau auf die Hügelkuppen drückte und in der nächsten blau erstrahlte. Regen fiel nach dem gleichen unregelmäßigen Muster und trocknete rasch in den heftigen Böen und der Sonne, die nach jedem Wolkenschub über die Landschaft flutete.
Wilbur dachte daran, zu husten, räusperte sich dann aber nur. Geraldine rieb mit einem Putzlappen über das Waschbecken, zog danach die Laken von Wilburs Bett und legte sie in den Korb. O’Carroll stand bei der Tür, die Arme im Rücken gekreuzt. In der Stille konnte man die Regentropfen hören, die der Wind gegen das Glas warf.
Moriarty sah Wilbur nachdenklich an.»Ich würde gerne mit dir reden, Wilbur«, sagte er schließlich.»In meinem Büro. «Er erhob sich, wobei er beide Hände auf den Stock legte, sah eine Weile selbstvergessen zu, wie Geraldine die Knöpfe des Kissenbezugs öffnete, und ging dann zur Tür, die O’Carroll für ihn öffnete.
Conor saß im Taubenschlag und sah in den von Licht geweiteten Himmel. Er war mit der Arbeit fertig, aber hinlegen wollte er sich nicht. Dass Wilbur mit ihm gesprochen, dass er ihm vielleicht verziehen hatte und sie wieder so etwas wie Freunde waren, ließ ihn vor Unruhe immer wieder aufstehen und herumgehen, obwohl hier oben kaum Platz war. Die Schwellung seiner Lippen war zurückgegangen, und er konnte sich wieder ohne Schmerzen im Bauch strecken und die Schuhe binden. Callum Gallagher und die Typen aus der Gang ließen ihn in Ruhe. Sie hatten ihn nach Wilburs Zustand gefragt, und er hatte ihnen gesagt, Wilbur habe eine üble Rauchvergiftung und schwere Verbrennungen und müsse wohl noch eine Weile auf der Krankenstation bleiben. Die Gang war enttäuscht, ihr stand der Sinn nach Rache und Bestrafung, nicht nach Warten.
Conor sah hinunter in den Hof, wo die Jungen mit Holzstöcken auf ihre Matratzen einschlugen. Sie hassten diese Arbeit, und ihr Hass entlud sich in den Hieben, die auf dem Turm wie weit entferntes Gewehrfeuer klangen. Conor würde seine Matratze später ins Freie schleppen, um den Staub und den Milbenkot aus ihr zu prügeln und sie mit einer Lösung zu besprühen, die die Jungen Moriartys Nebel nannten. Auch zum Haareschneiden würde er erst gehen, nachdem der letzte Kunde vom Sessel geklettert war. Er fuhr sich mit der Hand über die Haare, die so kurz waren, dass sie sich nicht mehr wie früher lockten.
Direktor Moriarty, der als Vorsteher des Sozialamtes verwahrloste Kinder mit Läusen und den Bisswunden von Wanzen gesehen hatte, war vom Tag seines Amtsantritts darum bemüht gewesen, die hygienischen Bedingungen in Four Towers zu verbessern und das Ungeziefer, das sich unter dem Regiment seines Vorgängers vermehrt hatte, ein für alle Mal auszumerzen. Groteske Geschichten über seinen Feldzug machten die Runde, und alle rochen nach Essig und Salmiak und Schwefel und dem Mittel, das jede Woche auf die Matratzen gesprüht wurde. Berichte von ehemaligen Insassen kursierten, in denen geschrubbt und geschwitzt und mit kochendem Wasser hantiert wurde. Anekdoten hielten sich, in denen von Quarantänen die Rede war, von Ausräucherungsaktionen und tiefgefrorenen Kissen, von Vorträgen über Wanzenlarven und Milbeneier, von zwischen die Glasplättchen eines Mikroskops gequetschten Flöhen und von Fotos asiatischer Kakerlaken, groß wie Mäuse.
Und von einer Frau wurde den Neuankömmlingen erzählt, die drall und sinnlich war und aus deren Fingerspitzen heiße Strahlen in die Kopfhaut ihrer willigen Opfer schossen, direkt ins brodelnde Gehirn. Die Berührungen dieser Frau, schwärmten die Alteingesessenen, entschädigten für Moriartys manischen Sauberkeitsfimmel, jeder ihrer Atemstöße ins Ohr machte das wöchentliche Schleppen der Matratzen in den Hof wett, und wenn einen ihr praller Busen an der Schulter oder Wange streifte, entlohnte das für all die Nächte, in denen man, benebelt von chemischen Ausdünstungen, im Schlafsaal lag und bei offenen Fenstern fror.
Molly Keegan, die vor ihrer Heirat als Friseuse gearbeitet hatte, kam jeden Monat mit einem Kamm und einem elektrischen Scherapparat nach Four Towers. Im modrig riechenden Duschraum stutzte sie das Haar der Jungen auf die vorgeschriebenen drei Zentimeter, eine Länge, die Moriartys Hygieneanspruch genügte, ohne zu sehr nach dem uniformen Kahlschlag eines militärischen Millimeterschnitts auszusehen. Molly war sechsundvierzig Jahre alt und hatte einen Mann und drei Kinder. Sie schnitt auch Männern in Altersheimen die Haare, und wenn sie nicht mit Kamm und Schere auf Achse war, fuhr sie Blumen aus. Sie selber hielt sich für verblüht und mäßig attraktiv, und nur manchmal, wenn sie nach einer Kissenschlacht mit ihren Töchtern ihr erhitztes Gesicht im Badezimmerspiegel sah, erinnerte sie sich an die junge Frau, die sie einmal gewesen war.
Dass ihr Anblick den alten Männern im Heim ebenso das Blut in die Lenden treiben könnte wie den halben Kindern in Four Towers, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Wenn ihre Kunden mit geschlossenen Augen auf dem Sessel saßen und dabei unruhig wackelten und leise ächzten, dachte sie entweder an altersbedingte Zuckungen oder jugendliche Ungeduld. Und eilten die Knaben, die ihre Söhne hätten sein können, nach dem Haarschnitt davon, ohne sich zu bedanken oder ihr auch nur in die Augen zu sehen, legte sie es ihnen als Schüchternheit aus.
Molly machte diese Arbeit, weil die Familie das Geld brauchte, aber eigentlich schnitt sie nicht gern Haare. Sie liebte Locken und Pferdeschwänze, aufwendige Hochsteckfrisuren, sanft geschwungene Strähnen und zügellose Mähnen, die bis zur Hüfte reichten. An den kurz gehaltenen Schöpfen herumzuschnippeln widerstrebte ihr zutiefst, die Einheitsschädel fand sie traurig, und die Jungen taten ihr leid. Davon, dass ihre Kunden sich von ihr eine Glatze hätten scheren lassen, um ein paar selige Minuten in der Nähe ihres himmlischen Fleisches zu verbringen, ahnte sie nichts.
Conor war es egal, wer ihm die Haare schnitt und was für ein Bild er danach abgab. Weder seine Frisur noch seine von einer leichten Akne befallene Haut oder sein schlaksiger, unfertiger Körper kümmerten ihn. Den innerhalb von Monaten auf die dreifache Größe gewachsenen Adamsapfel nahm er mit derselben Gleichgültigkeit hin wie die Tatsache, dass die schwarzen Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammenwuchsen und an seinen langen Armen riesige ungeschickte Hände baumelten. Er würde sich auf den eigens gezimmerten Sessel setzen und Mollys Routine hingeben. Er würde ihren Geruch aus Seife und Schweiß und aufgewärmtem Essen einatmen, dem Summen des Geräts lauschen und dabei die Augen geschlossen halten. Er würde versuchen, nicht daran zu denken, woran die meisten Jungen in diesem Sessel dachten, nämlich dass das Schergerät ein Vibrator sei und das heftige Atmen der übergewichtigen Molly ein nahender Orgasmus. Oder dass sich die mit Sicherheit unglücklich Verheiratete nach getaner Arbeit die Kleider vom üppigen Leib reißen und die flaumigen Achselhaare rasieren würde, auf dem Rücken liegend und vor Lust keuchend. Er würde auch versuchen, sich nicht vorzustellen, was fast jeder von Mollys Kunden unter dem schwarzen, mit Haaren aller Farben bedeckten Umhang trieb, der ihnen vom Hals bis zu den Knien ging. Dasitzen würde er, die Augen geschlossen, und überlegen, was er anfangen sollte draußen in der drohenden Freiheit.
Das Auto sah Conor schon, als es von der Hauptstraße abbog. Es war ein dunkler Lieferwagen, und er blieb nach etwa hundert Metern auf dem Zufahrtsweg stehen. Mächtige Wolken flogen über einen blauen Himmel, ihre Schatten waren Teiche und Seen, die sich für keinen Ort in der Landschaft entscheiden konnten, über die Hügel glitten und verschwanden. Ein Fuchs, rotbraun wie Mollys Haar, schoss aus einer Hecke und rannte über ein Feld. Der Wagen setzte sich in Bewegung, wurde schneller und raste auf das Haupttor zu. Als der Fuchs in ein Wäldchen tauchte, prallte das Fahrzeug gegen das Tor. Einen Moment lang blieb es mit eingedrückter Schnauze stehen, ein benommenes Tier, dem zischend Atem entstieg, dann setzte es zurück, heulte ein paar Mal auf und preschte erneut vor.
Beim ersten Knall war Foley, der die Aufsicht über die im Hof arbeitenden Jungen hatte, zum Tor gerannt und hatte durch das Guckloch gespäht. Jetzt redete er aufgeregt in sein Funkgerät und sah zum Turm hoch, wo wie erstarrt Cormack stand. Als es zum zweiten Mal krachte, schrie Foley die Jungen an, ins Hauptgebäude zu gehen, aber seine Befehle gingen im anschwellenden Jaulen einer Sirene und dem Gejohle der Jungen unter. In den dritten Aufprall mischten sich berstendes Blech und splitterndes Holz, das Tor schwang auf und krachte gegen die Mauern. Was vom Lieferwagen übrig war, kroch auf den Hof und starb in einem Pilz aus Dampf und Rauch und einer Wolke schwarzer Abgase. Hinter der Windschutzscheibe, die halb aus dem Rahmen gesprungen, aber intakt war, hing eine dunkle Gestalt über dem Lenkrad und hob den Kopf. Die Fahrertür ging auf, und der Mann kippte vom Sitz und fiel zwischen zwei Pfützen auf den Teerboden. Foley zerriss sich in drei Teile. Einer versuchte, die Jungen ins Gebäude zu treiben, der zweite wollte den Verrückten fangen und der dritte das Tor schließen.
Als Cormack endlich von seinem Turm herunterkam, waren schon ein Dutzend Jungen auf und davon. Der Fahrer hatte sich aufgerappelt und rannte torkelnd über den Platz, beschrieb Ellipsen und Achten, blieb plötzlich stehen und duckte sich unter Foleys offenen Armen weg, stolperte zum Wagen, umrundete ihn, verschwand im Laderaum und kollerte zur Beifahrertür wieder hinaus. Irgendwann konnte Foley nicht mehr, setzte sich hin und keuchte und bellte in sein Funkgerät. Immer mehr Jungen drängten durch das offene Tor und verteilten sich auf den Feldern, während Cormack den verfolgte, der als einziger die Straße als Fluchtweg gewählt hatte.
Moriarty stand am Fenster seines Büros und sah dem Treiben im Hof und auf den Feldern in einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung zu. Er wusste, dass er zum Telefon gehen und die Polizei informieren sollte, dass es eine gute Idee wäre, hinunterzugehen und die Jungen, die unschlüssig vorm Tor hin und her liefen, zum Bleiben zu überreden, aber er stand nur da, überwältigt von den Geschehnissen und unfähig, sich zu rühren. Miss Rodnick, die vor wenigen Augenblicken zu ihm hereingestürmt war und hysterisch geschrien hatte, würde bestimmt die Polizei anrufen.
Vom Meer her kamen Regenwolken und schütteten sich Minuten später aus. Die Jungen, die über die Felder rannten, hinfielen, sich aufrappelten und weiterhetzten, erinnerten Moriarty an Hasen. Hinter ihm stand ein Schrank, darin waren zwei Gewehre eingeschlossen. Der Schlüssel hing an einem Bund, der warm in seiner Hosentasche lag. Er spürte ihn zwischen den Fingern, er war kürzer als die anderen und sein Schaft hohl wie der Lauf einer winzigen Waffe. Regen prasselte auf das Dach des Lieferwagens, aus dem plötzlich der Mann stürzte und etwas schrie, das vom Lärm der Sirene geschluckt wurde.
«Willst du nicht gehen?«fragte Moriarty, ohne den Blick vom Hof zu nehmen.
Wilbur antwortete nicht. Er sah zu, wie Henry über die Kühlerhaube des Lieferwagens auf das Dach kletterte und dabei Foley abschüttelte, der seinen Fuß zu fassen bekommen hatte. Als die Sirene verstummte, hörte Wilbur, dass Henry seinen Namen rief. In der Stille entschieden sich ein paar Jungen zur Flucht, andere trotteten durchnässt ins Gebäude zurück. O’Carroll stürmte an ihnen vorbei und schien zu fliegen, als er sich auf Henry warf. Die beiden Männer stürzten zu Boden, und O’Carroll drosch mit einem der herumliegenden Holzknüppel auf Henry ein, der sich auf den Bauch gewälzt hatte. Foley, vor Kälte oder Angst zitternd, zerrte O’Carroll weg und legte sich auf Henry, bedeckte ihn vollständig mit seinem schweren, bebenden Körper. So plötzlich, wie er eingesetzt hatte, hörte der Regen auf. Sonnenlicht schwemmte über die Felder und jeden Fliehenden, über die Mauern und den Wagen und über Foley, der auf Henry lag, eine massige, dunkel glänzende Robbe.
Moriarty drehte sich um, ging zum Schreibtisch und setzte sich in den Sessel. Eine Weile sah er vor sich hin, die Hände zum spitzen Dach gefaltet. Schließlich nahm er das Foto seiner Frau in die Hand und betrachtete es. Aus weiter Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Moriarty seufzte und sah Wilbur nach, der den Raum verließ. Er wollte rufen, dem Jungen etwas mit auf den Weg geben, aber es fiel ihm nichts von Bedeutung ein.
Eine Woche nach dem Vorfall waren achtundvierzig der sechsundfünfzig Ausreißer gefasst. Callum Gallagher war nicht unter ihnen. Nur einer aus der Gang hatte sich erwischen lassen und saß jetzt in einer Jugendstrafanstalt im Norden Dublins, weil er auf der Flucht ein Auto gestohlen und zu Schrott gefahren hatte. Wilbur wurde in Ruhe gelassen. Die meiste Zeit des Tages verbrachten die Jungen in der Bibliothek und in den Schlafsälen. Vor den Türen standen Wächter, zwei davon eben erst eingestellt. Männer in Anzügen gingen durch das reparierte Tor ein und aus, schritten zielstrebig über die Flure, kletterten auf die Türme und machten Fotos.
Im Büro, das Moriarty geräumt hatte, wurden Sitzungen abgehalten. Miss Rodnick kochte in fünf Tagen mehr Kaffee als in den fünf Jahren davor. Die Tür zum Kraftraum war verriegelt worden, eine Bestrafungsaktion, die allen Insassen galt, auch denen, die am Tag der großen Flucht im Gebäude geblieben waren. Doktor Carrigan kam jeden Tag vorbei und sah nach den zwei Jungen, die auf der Krankenstation lagen. Einer hatte sich beim Rennen über die Felder den Fuß verstaucht, der andere den Arm gebrochen, als er vor der anrückenden Polizei auf einen Baum geklettert und heruntergefallen war. Irgendjemand hatte Geraldine angewiesen, bis auf Weiteres keinen Nachtisch mehr zuzubereiten, auch das eine Strafmaßnahme.
Um Gruppenbildungen und Verschwörungszirkeln vorzubeugen, wurden den Jungen neue Nummern zugeteilt. Wilbur musste in einen anderen Schlafsaal umziehen, und der Zufall wollte es, dass er mit Conor zusammengelegt wurde. Während der Nachmittagsstunden, in denen sie eingesperrt waren, lagen die meisten Jungen auf ihren Betten, lasen, hingen ihren Gedanken nach oder dösten vor sich hin. Obwohl Redeverbot herrschte, setzten sich Wilbur und Conor in eine Ecke und unterhielten sich leise. Weil die Jungen nicht arbeiteten, den Kraftraum nicht benutzen durften und ganze Tage verschliefen, waren sie nachts hellwach. Dann wurden siebenundzwanzig flüsternde Stimmen zum Lärm, und so teilten sie sich in Gruppen von je neun auf, unterhielten sich eine Stunde, schwiegen zwei und redeten dann weiter.
Wilbur und Conor hatten viel nachzuholen und verbrachten jede Minute ihrer Sprechzeit zusammen. Zum ersten Mal erzählte Wilbur jemandem von seiner Zeit bei den Conways, von Ari’s Mega Video Store, von den Besuchen bei Colm, von Matthew Fitzgerald, vom Cellospielen und der Reise nach Schweden. Im Flüsterton vorgetragen, klang die Geschichte wie ein seltsames Märchen, dem Conor, zum staunenden Kind geworden, atemlos lauschte.
Sieben Tage und Nächte dauerte es, bis beide ihre sieben Jahre losgeworden waren. Dann sprachen sie wieder über Schiffe und fremde Länder, über Meeresgetier und Flugzeuge und Bücher, wie sie es früher auf dem kleinen Hügel vor Orlas Haus getan hatten. Trotz Moriartys Weggang und den Veränderungen, die ein anonymes Gremium anordnete, waren die beiden Freunde glücklich und beschlossen, noch eine Weile in Four Towers zu bleiben. Für Wilbur standen die Chancen dafür nicht schlecht, denn seine Brandstiftung in der Bibliothek war inzwischen aktenkundig, und auch Conor durfte sich Hoffnungen machen, da man an höherer Stelle nicht mehr viel von Robert Moriartys Empfehlungsschreiben hielt und erst einmal sämtliche vorzeitigen Entlassungen auf Eis legte.
Die zuständigen Behörden waren Robert Moriartys Kündigungsgesuch zuvorgekommen und hatten ihn fristlos entlassen. Noel Moger, ein Mitglied der ehemaligen Gang, war auf der Flucht gefasst worden und hatte über die vergleichsweise paradiesischen Zustände in Four Towers geplaudert und damit Moriartys alten Gegnern reichlich Munition geliefert und sogar Leute im Justizministerium alarmiert. Bei seiner Vernehmung erzählte Moger von nächtlichen Fernsehvergnügen und Schutzgelderpressungen ebenso freimütig wie von eingeschmuggelten Pornoheften und den Preisen für Alkohol und Zigaretten. Er zitierte munter aus dem Gesetzbuch der Gang und schilderte, wie Übertretungen bestraft wurden und dass die Jungen, die über die Jahre hinweg mit Prellungen und blauen Flecken auf der Krankenstation gelandet waren, keineswegs immer nur einen Treppensturz hinter sich hatten. Seine Aussagen deckten sich mit denjenigen von anderen Jungen, die im Zuge der Untersuchungen befragt wurden und bereitwillig über alle möglichen geheimen Freiheiten, das vertuschte Feuer in der Bibliothek und einen bestechlichen Wachmann berichteten. Gegen Moriarty wurde ein Verfahren eingeleitet, O’Carroll wurde vom Dienst suspendiert.
Elf Tage nachdem der angetrunkene Henry Conway im Lieferwagen des Restaurants, für das er manchmal in der Küche arbeitete, das Tor durchbrochen hatte, trat ein neuer Direktor offiziell sein Amt an. Er hieß John Townsend, war zweiundvierzig, hatte einen von frühmorgendlichen Waldläufen gestählten Körper und kürzeres Haar als die jugendlichen Delinquenten, deren Aufenthalt in Four Towers er grundlegend zu ändern gedachte. Er trug dunkelblaue Anzüge mit Weste, hörte in seinem Ford Mondeo klassische Musik und trank täglich drei Liter stilles Wasser. Miss Rodnick rief er Gloria und leitete an seinem ersten Arbeitstag die vorzeitige Pensionierung der unter seinem Kommando gleichzeitig überforderten und aufblühenden Frau in die Wege. Mit den Wachmännern, den altgedienten und den von ihm eingestellten, pflegte er einen jovialen Umgang und erwartete von ihnen unbezahlte Überstunden als Zugeständnis unter Freunden.
Er ließ eine Stechuhr installieren und Videokameras, Bewegungsmelder und Sicherheitsschlösser. Aus dem Taubenschlag wurde wieder ein Wachturm, aus der Bibliothek ein Arbeitsraum für die kalte Jahreszeit. Die vom Brand verschonten Bücher kamen in einen Raum neben Miss Rodnicks Büro, wo Briefpapier und alte Ordner lagerten. Die tägliche Arbeitszeit der Insassen wurde um eine Stunde verlängert, Besuchstag war nur noch jeden zweiten Monat. Die Öffnungszeiten des Kraftraums beschränkten sich auf jeweils zwei Stunden am Samstag und Sonntag, wobei nur die Jungen Zugang hatten, die sich in der laufenden Woche keine Fehltritte erlaubt und ihre Arbeitsvorgaben erfüllt hatten. Um nicht als Unmensch zu gelten, ließ der neue Direktor im Hof zwei Basketballkörbe anbringen und wenigstens am Sonntag wieder einen Nachtisch servieren, den nicht mehr die wegen Bestechlichkeit entlassene Geraldine zubereitete, sondern ein Koch.
In der zweiten Woche nach seinem Amtsantritt beorderte Townsend Wilbur zu sich. Er hatte die Absicht, sämtliche Insassen der Reihe nach zu empfangen, um sich einen Eindruck von ihrem moralischen Zustand zu verschaffen und ihnen mitzuteilen, dass er nichts von dem, was unter Moriartys Leitung möglich war, auch nur ansatzweise dulden würde. Eigentlich hatte er sich die gefassten Flüchtlinge zuerst vorknöpfen wollen, aber dann erhielt er einen Anruf und setzte Wilbur Sandberg zuoberst auf seine Liste. Er saß hinter einem Schreibtisch aus getöntem Glas und Chromstahl und hob nicht einmal den Kopf, als Cormack Wilbur in den Raum schob.
«Danke, Michael«, sagte Townsend, während er mit einem Metallstift auf das Bedienungsfeld des Organizers tippte, der vor ihm auf der fast leeren Tischplatte lag.
«Keine Ursache, Mr. Townsend, Sir. «Cormack verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Wilbur stand da und wartete, betrachtete die leeren, weiß gestrichenen Wände und die neuen Regale, auf denen Reihen dicker, gleichfarbiger Bücher standen. Er wusste, dass er der erste war, den Townsend zu sich bestellte, und er fragte sich, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
«Es gibt offenbar Menschen«, sagte Townsend, klappte das Gerät zu und kritzelte etwas auf einen Notizblock,»die bereit sind, einen Teil ihres Lebens darauf zu verwenden, Burschen wie dir zu helfen. Ihnen den Weg zu weisen, Werte aufzuzeigen. «Er riss den obersten Zettel ab, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Brusttasche seines Jacketts. Dann schenkte er sich Wasser aus einer Karaffe in ein Glas und trank einen Schluck, wobei er den Sessel so drehte, dass er Wilbur sein Profil zuwandte.»Ich persönlich ziehe es vor, dir und deinesgleichen den Charakter zu schleifen. Dir hier drin beizubringen, was richtig ist und was falsch. Was gut ist und was schlecht. Wo die Grenzen deiner individuellen Freiheit verlaufen und mit wem du dich verflucht noch mal besser nicht anlegen solltest. «Er trank das Glas leer, drehte sich um und sah Wilbur an. Das tat er eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dabei schien er keine Sekunde zu erwägen, Wilbur zum Hinsetzen aufzufordern.
«Diese Menschen meinen es gut mit dir«, sagte er schließlich.»Sie setzen Hoffnungen in dich. Dass du diese Hoffnungen enttäuschst, ist nicht der Fehler dieser Menschen. Das ist einzig und allein dein Verschulden. «Er stieß sich mit den Händen von der Tischkante ab und rollte auf dem Stuhl ein Stück weit zurück. Wieder betrachtete er Wilbur eine Zeitlang.»Ehrlich gesagt, würde ich dich gerne noch ein halbes Jahr hierbehalten. Dir zeigen, wie man sich zu verhalten hat. Dich Respekt lehren vor Menschen, die sich deiner annehmen. Dankbarkeit. Demut. Disziplin. Das würde ich dir gerne beibringen in den nächsten sechs Monaten. «Er zog sich an den Tisch zurück, drückte eine Taste des Laptops und sah auf den Bildschirm.
Wilbur blickte zu Boden. Ein weiteres halbes Jahr in Four Towers wäre ihm recht gewesen. Die neuen Bedingungen waren zwar unangenehm, aber auszuhalten. Vielleicht würden die strengen Regeln wieder gelockert, wenn sich die Aufregung nach dem Massenausbruch und Moriartys Entlassung gelegt hätte. Ein halbes Jahr war kein Problem, nicht mit Conor an seiner Seite.
Die Tastatur klickte leise unter Townsends Fingern.»Fast ein wenig schade, dass du uns verlassen musst«, sagte Townsend, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.
Wilbur sah hoch.»Was?«Das Wort blieb auf halbem Weg in seiner Kehle stecken, er räusperte sich.
«Wie bitte, Sir, heißt das!«Townsends Stimme war laut und schneidend, aber er sah Wilbur nicht an, tippte weiter und schrieb dann etwas auf den Notizblock. Nach einer Weile sah er Wilbur an, erwartete offensichtlich etwas von ihm.
«Wie bitte, Sir?«sagte Wilbur. Draußen im fahlen Licht bemerkte er Tauben. Drei oder vier flogen um den Turm, der bis vor kurzem ihr Zuhause gewesen war. Einer der neuen Wachmänner, ein ehemaliger Mittelgewichtsboxer mit einem blinden Auge, schwenkte einen Besen aus dem offenen Kippfenster, um die Tiere zu vertreiben.
«Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz unglücklich darüber, dich loszuwerden. «Townsend verschränkte die Arme vor der Brust und atmete tief ein und aus. Seine Augen waren braun, nicht wirklich unfreundlich. Er hatte eine geschwungene Oberlippe und kleine, viereckige Zähne.»In deiner Akte steht zwar, dass du überdurchschnittlich intelligent seist. Ein Genie. Musikalisch. «Zum ersten Mal lächelte er, ein spöttisches Grinsen.»Das mag alles sein. Mich interessiert aber viel mehr, dass du Häuser anzündest. Dass du dein superkluges Hirn dafür benutzt, Feuer zu legen. Brände, bei denen du nicht nur dein verpfuschtes Leben beenden willst, sondern auch das anständiger Menschen. «Er erhob sich, knöpfte sein Jackett zu und sah dabei auf eine helle Tafel, an der mit Magneten Zettel gleicher Größe befestigt waren.»Deshalb bin ich froh, dass du verschwindest. Soll sich deine neue Beschützerin mit deinem verkorksten Ego herumschlagen. «Er ging zum Schreibtisch, nahm einen Umschlag auf und wedelte damit in Wilburs Richtung.
Wilbur machte ein paar Schritte auf Townsend zu und ließ sich den Umschlag geben. ENTLASSUNGSSCHEIN, SANDBERG, WILBUR stand darauf.
Townsend drückte einen Knopf auf der neuen Gegensprechanlage.
«Schicken Sie Michael rein, bitte. «Er atmete hörbar aus, verschränkte die Arme und sah Wilbur an.
Kurz darauf betrat Cormack den Raum und blieb neben der offenen Tür stehen. Wilbur betrachtete den Umschlag. Er wollte Townsend fragen, was das alles zu bedeuten habe, warum er entlassen werde, nachdem er den Brand gelegt hatte, aber er brachte kein Wort hervor.
«Alles Gute, Sandberg«, sagte Townsend und nickte Cormack zu.
«Gehen wir«, sagte Cormack, wartete, bis Wilbur durch die Tür ging, und folgte ihm auf den Flur.
Am Nachmittag saß Wilbur alleine im Speisesaal. Colms Koffer, so gut wie leer, lag auf seinen Knien. Der Koch und drei Jungen arbeiteten in der Küche, aus der leises Scheppern drang. Wilbur hatte beim Mittagessen gefehlt, weil er, von Cormack beaufsichtigt, seine Habseligkeiten packen und die Anstaltskleidung zurückgeben musste. Er hätte sowieso keinen Bissen herunterbekommen. Wäre noch etwas von Henrys Geld da gewesen, hätte er eine Nachricht für Conor schreiben und Danny geben können, aber so bestand keine Möglichkeit, Conor, der mit den übrigen Jungen in einer der Werkstätten arbeitete, über das unerwartete Ereignis zu informieren.
Foley holte ihn ab und ging mit ihm hinunter und über den regennassen Hof. Wilbur wollte ihm danken, dass er Henry vor O’Carrolls Schlägen geschützt hatte, schwieg dann aber. Einer der neuen Wachmänner erwartete sie. Er ließ sich von Wilbur die Entlassungspapiere geben, verschwand damit in der winzigen Holzhütte, die seit ein paar Tagen an die Mauer gedrückt dastand, kam nach kurzer Zeit wieder heraus und öffnete dann mit mehreren Schlüsseln die ins Tor eingelassene Tür. Wilbur drehte sich um, sah Licht in Townsends Büro und eine einzelne Taube über dem Turm kreisen, ging zu dem wartenden Polizeifahrzeug und stieg ein.
«Lass dich hier bloß nicht mehr blicken«, sagte Foley ernst. Dann grinste er und warf die Wagentür zu.
Wilbur nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Das Auto fuhr los, feiner Regen fiel auf die schmutzigen Scheiben. Auf einem Feld lag ein einzelner Schuh. Wilbur war froh, dass der Beamte schwieg und das Radio nicht einschaltete. Er drehte sich nicht mehr um und schloss die Augen.
Auf der Polizeiwache wurde Wilbur in einen Raum gesperrt, wo sonst aufgegriffene Betrunkene ihren Rausch ausschliefen und es nach schmutzigen Kleidern, Erbrochenem und Reinigungsmittel roch. An den beiden Längswänden war je eine Pritsche angebracht, auf der eine mit Plastik überzogene Schaumstoffmatte lag. In der Deckenmitte brann te eine vergitterte Lampe. Wilbur stand da und dachte nach. Dass Miss Ferguson ihre Meinung geändert hatte und ihn nun doch bei sich aufnehmen wollte, erstaunte ihn. Ihr Vertrauen und ihre Zuversicht in ihn mussten grenzenlos sein. Die Vorstellung, die nächsten paar Monate mit seiner ehemaligen Lehrerin, einer alten, pingeligen Jungfer, verbringen zu müssen, erschien ihm so absurd, dass er es schon beinahe komisch fand.
Eine Stunde später holte man ihn aus der Ausnüchterungszelle und brachte ihn in ein Büro. Ein Polizist stellte ihm die Anwesenden vor, eine Vertreterin des Sozialamtes und einen Anwalt, der angeblich Wilburs Interessen vertrat. Der Anwalt war jung und nervös und überreichte Wilbur seine Karte. TOBEY SHEEHAN las Wilbur und steckte die Karte ein. Kurz darauf betrat eine Frau den Raum, die mit Sicherheit nicht Miss Ferguson war. Sie war vielleicht Anfang vierzig und ungewöhnlich groß, und sie hatte helles, rötlich schimmerndes Haar. Bleich vor Aufregung setzte sie sich neben Wilbur, sah ihn eine Weile nur an, ergriff schließlich seine Hand und lächelte, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Die Dame sei Alice Krugshank, sagte der Anwalt, und hier, um Wilbur nach Amerika mitzunehmen.
Nach Erledigung der Formalitäten verließen Wilbur und Alice Krugshank den Polizeiposten von Sligo und setzten sich in eine Kneipe. Die trotz ihrer Größe und ungewöhnlichen Ausstrahlung schüchterne Frau erklärte Wilbur, wie lange ein privater Ermittler nach ihm gesucht habe und wie glücklich sie gewesen sei, als die Nachricht kam, der so lange Vermisste sei gefunden. Immer wieder ergriff Alice Wilburs Hand, hielt sie für Sekunden fest und schüttelte lächelnd und den Tränen nahe den Kopf.
Sie wollte gleich mit ihm zum Flughafen Shannon fahren und in der nächsten Maschine nach New York fliegen, aber Wilbur bat sie, ihn in den Norden nach Portsalon zu bringen, wo er etwas Wichtiges zu erledigen habe. Alice entschuldigte sich für ihre Ungeduld und meinte, sie würde sehr gerne sehen, wo Wilbur aufgewachsen sei. Sie ließen den Kaffee und die Cola unangerührt stehen, setzten sich in den von ihr gemieteten Wagen und fuhren los. Alice war eine ängstliche, unkonzentrierte Lenkerin und Linksverkehr nicht gewohnt. Bei jedem Auto, das ihnen hinter einer Kurve entgegenkam, zuckte sie zusammen, lachte dann nervös auf und machte einen Scherz über ihre Fahrkünste.
Wilbur saß auf dem Beifahrersitz und hörte der Frau zu, die ihm von einem Kinderheim erzählte, von Ausflügen auf dem Rad, Seeüberquerungen im Ruderboot, Libellen und Fischen, Stutenmilch und Tanzlektionen. Er erinnerte sich an nichts, und trotzdem kamen ihm die geschilderten Orte und Ereignisse seltsam vertraut vor. Und er war froh, dass die Frau neben ihm unaufhörlich redete und keinen Moment der Stille zuließ, während der er sich hätte fragen müssen, was eigentlich mit ihm passierte.
Gegen Abend kamen sie in Portsalon an. Wilbur sagte Alice, wie sie durch den Ort fahren musste, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Nachdem sie vor dem Haus angehalten hatten, blieb er eine Weile sitzen und versuchte, richtig zu atmen. Alice tat dasselbe, darauf wartend, dass Wilbur ihr von Henry und Pauline Conway erzählte. Aber dazu hätte Wilbur bei Orla anfangen und die Zeit mit Colm erwähnen müssen, und das wollte er nicht. In seinem Kopf stürzten die Erinnerungen durcheinander, außerdem war die Frau neben ihm eine Fremde, auch wenn sie das Gegenteil behauptete.
Schließlich stieg Wilbur aus und ging über die Einfahrt zur Garage, aus der er eine Schaufel holte. Im Garten grub er an der Stelle zwischen der Esche und der Steinmauer in der feuchten Erde, bis das Schaufelblatt auf etwas Hartes stieß. Er legte die Schaufel weg und kniete sich hin.
«Guten Tag, Wilbur.«
Wilbur hob den Kopf. Er war nicht erstaunt, Pauline Conway zu begegnen. Er hatte damit gerechnet, dass sie hinter dem Vorhang stehen und ihn beobachten würde, und es war ihm egal. Er blickte ihr ins Gesicht und sagte nichts.
«Ich…«Pauline verstummte und starrte auf den Boden, als würde dort etwas ihre Aufmerksamkeit erfordern. Dann sah sie erneut Wilbur an.»Man hat mich angerufen und über die Situation informiert. «Sie strich sich mit beiden Händen die Schürze glatt, obwohl sie tadellos gebügelt war.»Ich wünsche dir viel Glück in Amerika.«
Wilbur betrachtete das ausgehobene Loch. Er hatte einen Wurm zerteilt, dessen Teile sich wanden. In einem der Nachbarsgärten bellte ein Hund. Wilbur wischte mit den Händen Erde beiseite und legte ein Stück Rot frei. Dann ergriff er die Blechdose, zog sie hervor und stand auf. Er wollte weggehen, aber dann besann er sich, nahm die Schaufel und schüttete das Loch wieder zu.
Pauline kam über den nassen Rasen. Sie trug Hausschuhe aus Stoff, aber das schien sie ebenso wenig zu beachten wie die abendliche Kühle. Wilbur legte den Placken aus Erde und Grasnarbe auf das Rechteck, wo das Loch gewesen war, und trat ihn vorsichtig fest.
«Zeigst du mir, was du da drin hast?«Pauline stand vor ihm. Sie wirkte kleiner als früher, weniger einschüchternd, beinahe zart. Sie versuchte ein Lächeln, und man sah, dass sie es lange nicht getan hatte.
Wilbur zögerte, dann nahm er den Deckel von der Büchse. Ohne sie anzufassen, sah Pauline sich die Schätze an, Strohhalme aus Colms Scheune, die Eintrittskarte eines Dubliner Kinos, Matthews Wörterbuch, die Uhr, die Orla Wilbur geschenkt hatte, nachdem ihm die erste gestohlen worden war. Unten in der Büchse lagen die Briefe von seinem Vater und von Sune, vier gefaltete Seiten aus Eamons Heften, das Foto, das Orla in Sligo zeigte, und der Zeitungsartikel über ihren Kampf mit den Behörden.
Pauline griff in die Tasche ihrer Schürze, holte drei Briefe hervor und legte sie in die Blechdose. Auf einem Umschlag erkannte Wilbur Sunes eckige Buchstaben, auf den anderen beiden Matthews verschnörkelte Schrift und Marken mit dem Kopf der Queen.
«Die bin ich dir noch schuldig«, sagte Pauline.»Es tut mir leid. «Sie wartete, aber als Wilbur weiter schwieg, berührte sie ihn flüchtig am Arm, wandte sich ab und ging zur Verandatür.
«Wie geht es Mr. Conway?«
Pauline blieb stehen und drehte sich um. Ihr Lächeln war so flackernd und traurig, dass sie verlegen den Kopf senkte.»Es geht ihm gut«, sagte sie.»Die Leute dort kümmern sich um ihn. «Ihr war kalt, und sie legte die Arme um sich.»Er war krank, aber jetzt geht es ihm gut.«
«Bitte grüßen Sie ihn von mir«, sagte Wilbur.»Würden Sie das tun?«
Pauline nickte, und für einen Augenblick gelang ihr ein wirkliches Lächeln. Es schien, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann ging sie ins Haus, schloss die Verandatür und zog den Vorhang zu. Wilbur sah zum Fenster hoch, hinter dem sein früheres Zimmer lag. Jetzt erst bemerkte er das Fehlen der Satellitenschüssel. Er fragte sich, was Pauline Conway wohl die ganze Zeit alleine machte, aber dann fiel ihm ein, dass sie ja noch Gott hatte.
Er ging zurück zur Straße, legte die Blechdose zum Koffer auf den Rücksitz, setzte sich neben Alice und bat sie, die kurze Strecke bis zu Matthew Fitzgeralds Haus zu fahren. Es wurde dunkel, aber Alice hatte es nicht eilig und stellte keine Fragen. Wilbur wusste, dass Matthew nicht mehr hier wohnte. Über einen gemähten Rasen ging er zum Holzschuppen, der aussah, als hätte ihn jemand instand gestellt, und als er sich dem Haus näherte, bemerkte er die gelb gestrichene Fassade und die neuen Fensterläden. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm kam zur Hintertür heraus. Der kleine Junge aß eine Scheibe Brot und sah Wilbur regungslos an. Wilbur fragte die Frau, ob sie wisse, wo Matthew Fitzgerald sei, und sie sagte, er sei nach dem Verkauf des Hauses zurück nach England gegangen. Wilbur bedankte sich und verließ das Grundstück auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte. Er kletterte über die Steinmauer hinter dem Schuppen und ging zu dem Auto, in dem die Frau saß, die ihn in ein anderes Land bringen würde, in ein anderes Leben.
Sie übernachteten in einem Hotel in Letterkenny. Bis zum frühen Morgen lag Wilbur wach in seinem Zimmer auf dem Bett und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Beim Frühstück, von dem er keinen Bissen herunterbekam, dachte er daran, Alice zu fragen, ob sie zum Friedhof fahren und Orlas und Colms Gräber besuchen könnten, ließ es dann aber bleiben. Er spürte den Indianer und das Pferd in der Hosentasche, aber es half nicht viel. Er sah aus dem Fenster auf die leere Straße und in den Himmel, über den Wolken glitten, grau gefleckt wie ein riesiger Taubenschwarm.
Im Regen fuhren sie nach Shannon und saßen am Abend in einem Flugzeug nach New York.