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In der Karottensuppe ist weder Basilikum noch Dill, sondern Majoran. Meine Großmutter hat aus dem Sandkasten einen Kräutergarten gemacht, nachdem wir aufgehört hatten, mit den Indianerfiguren zu spielen. Keine Ahnung, warum ich nicht mehr spielen wollte. Vermutlich hatte ich es plötzlich eilig, erwachsen zu werden. Ich gäbe einiges darum, die Zeit zurückzudrehen und wieder mit Orla Städte in den Sand zu bauen, während uns die Sonne auf die Köpfe scheint. In meinem Koffer im Hotel liegen der Indianer und das weiße Pferd. Ich muss bald raus hier und ihn holen. Nur Orla und ich dürfen die Figuren berühren.

«Da hat aber jemand mächtig Appetit gehabt. «Sie schiebt mir den letzten Löffel Suppe in den Mund und wischt mit der Serviette über meine Lippen. Sie heißt Aimee Ward, so steht es auf dem Namensschild, das an ihrem blauen Sweatshirt steckt und das mir gestern nicht aufgefallen war. Die Taschen ihrer Cargohose sind noch immer vollgestopft mit irgendwelchem Zeug, die Kabel der Ohrstöpsel hängen raus und die schlaffen Finger weißer Gummihandschuhe. Aimee bleibt am Bettrand sitzen, den leeren Teller auf den Knien, und sieht mich an.

«Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du könntest wirklich ein Bad vertragen. «Sie erhebt sich und stellt den Teller auf das Tablett. Dann öffnet sie mit einem Schlüssel eine Klappe an der Wand neben der Tür und dreht einen Schalter, vermutlich die Klimaanlage. Dazu hebt sie das Sweatshirt hoch, weil der Schlüssel an einem Bund vor ihrem Bauch hängt.

Ich muss zugeben, dass ich stinke. Wenn ich die Bettdecke anhebe, weht mir ein süßlichfauliger Geruch entgegen, streng und beinahe unmenschlich, als würden da unten exotische Tiere ihre Jungen aufziehen.

«Soll ich dir ein Bad einlassen?«fragt Aimee. Sie verschließt das Türchen, damit ich mich nicht mit Hilfe der Klimaanlage umbringen kann, zieht das Sweatshirt runter und dreht sich um. Sie nimmt das Tablett vom Stuhl, sieht mich an.»Nick einfach, der Rest wird erledigt.«

Ich sehe an die Decke. Meine Kopfhaut juckt, ich kann das ranzige Fett in meinen Haaren riechen. Die Wunde am linken Handgelenk kribbelt unter dem Verband. Ich frage mich, ob der Schnitt genäht werden musste. Habe ich mir gestern eigentlich in die Hose gepisst? Oder war das, wenn überhaupt, vorgestern, vor drei Tagen? Den Aromen nach zu urteilen, die mir entströmen, liege ich hier schon eine Ewigkeit. Ich ekle mich vor mir selber. Ich nicke.

«Einmal Vollbad, wird sofort erledigt. «Aimee lächelt und verlässt das Zimmer.

Ich liege da und bereue es, genickt zu haben. Eine Dusche wäre mir lieber gewesen. Ich hätte um Papier und Stift bitten sollen, stumm natürlich, mit Gesten, oder eine Dusche pantomimisch darstellen, die Finger flatternd über meinem Kopf, langsam rieselnde Tropfen. Ich hätte mir mit imaginärem Duschgel die Achseln einseifen, mit unsichtbarem Shampoo die Haare waschen sollen. Vor meinem verhinderten Ertrinken im Loch der verlorenen Seelen hatte ich nichts gegen Badewannen. Orla steckte mich mindestens dreimal die Woche hinein, und ich fand es überhaupt nicht beängstigend. Ich hatte ein kleines Schiff aus rotem und gelbem Plastik, einen Schlepper, der sich durch die schaumige See zwischen zwei Inseln kämpfte, meinen Knien. Orla sang Seemannslieder und wusch mir die Haare. Dampf hing in der Luft und legte sich als feine Schicht auf den Spiegel, in die Orla später unsere Namen und ein Herz zeichnete.

Warum erinnere ich mich bloß an diese Dinge und nicht daran, was vor ein paar Tagen passiert ist? Wo bin ich ins Meer gefallen? Bin ich reingesprungen? Wie bin ich dorthin gekommen? Warum träume ich von einem toten Hund? Als ich mich aufsetze, wird mir schwindlig, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen wie Hologramme von dicken Fliegen.

Die Tür geht auf, und meine beiden Kumpels kommen rein, als wären wir zu einem Abend vor dem Fernseher verabredet. Sie tragen weiße Hosen und Poloshirts, ein grünes und ein gelbes, reden aufgekratzt auf mich ein, stellen mich auf die Beine und ziehen mir einen riesigen weißen Bademantel mit Kapuze an. Einer der beiden stülpt eine Plastiktüte über meine linke Hand und umwickelt sie hinter dem Verband mit einem Riemen aus Klett. Ich schwanke ein wenig, komme mir vor wie ein Boxer, der für den Kampf vorbereitet wird und schon in der Garderobe angeschlagen ist. Der andere hebt meine Füße an und schiebt sie in die Gummischlappen, die neben meinem Bett stehen und mich an kleine bunte Boote erinnern, bereit zum Auslaufen. Ich lese die Namensschildchen auf ihrer Brust. Philipp und Robert.

«Und los geht’s«, sagt Phil.

«Immer einen Fuß vor den andern«, sagt Rob.

Sie stützen mich auf beiden Seiten, jetzt bin ich Butch Coolidge in Pulp Fiction, der zum Ring gebracht wird, angetrieben von Musik und Adrenalin und dem tobenden Publikum, das Blut sehen will. Wir verlassen den Raum, meine Aufbewahrungszelle, und gehen den Flur entlang, beschienen von Neonlicht. Ich spüre die Hände meiner Freunde an den Ellbogen und unter den Achseln, sie führen mich ab, bringen mich sicher ans Ziel. Mein Geruch ist bei mir und bleibt zurück, er umweht mich, hüllt mich ein, eine Aura aus schwerer, öliger Luft. Ich setze einen Fuß vor den anderen, gehorsam wie einer von McSweeneys Robotern.

Gerade als ich mich darüber freue, den jungen McSweeney nicht vergessen zu haben, geht eine Tür auf, und wir bleiben einen Augenblick stehen, um zu warten, bis das Licht einer Lampe, die einer fliegenden Untertasse gleich von der Decke hängt, den Raum erhellt hat. An einer weiß gefliesten Wand, die mich an Taggarts Tempel erinnert, steht ein Objekt aus Chromstahl, das eine Badewanne sein muss, als solche jedoch nicht sofort erkennbar ist, obwohl sich grünes Wasser darin befindet, auf dem Schauminseln treiben. Schläuche wachsen aus seinem Bauch, der mich und meine Begleiter als verkrümmte Zerrbilder widerspiegelt, in der Seite ist eine Tür mit versenktem Griff eingelassen, und wie zum Beweis, dass es sich bei diesem amputierten Stahlbug tatsächlich um eine Badewanne handelt, liegen auf einem Regal ein Schwamm, ein Rückenschrubber und eine gelbe Gummiente.

«Dann wollen wir mal«, sagt Phil, der kleiner und breiter ist als sein Kollege und auf dessen Kopf die Haare um ein bereits kahles Zentrum herum ausfallen. Er tunkt seine Hand ins Wasser und nickt.

«Hinein ins Vergnügen«, sagt Rob, der Große mit dem dichten Haar, der angenehmen Stimme und einem Gesicht, das die Frage aufwirft, warum es mich hier drin anlächelt statt draußen von einem Plakat, das für Nassrasierer oder Shampoo wirbt.

Phil streift mir den Bademantel ab, Rob die Latschen von den Füßen. Ich lege zwei gewölbte Handflächen über meinen Schritt und schließe die Augen. Dass ich den kleinen Raum mit meinen Ausdünstungen fülle, kann zwar als menschlich gewertet und irgendwie entschuldigt werden, aber es reicht, dass ich in der vergitterten Bodenöffnung verschwinden möchte, aus der ich aufsteigende Sambamusik zu hören glaube. Die Pfleger heben mich hoch, indem sie ihre nackten, gekreuzten Arme so unter mein Gesäß schieben, dass meine Hoden genau in die Lücke dazwischen passen, und ich wünsche mir, auf der Stelle tot zu sein. Ich werde zur Wanne getragen, über deren Rand gehievt und, von aufmunternden Worten begleitet, vorsichtig abgesenkt. Erst jetzt bemerke ich, dass es sich bei diesem Modell um eine Sitzbadewanne handelt, wie sie in Krankenhäusern und Altersheimen üblich sind. Während meine Füße tief unter mir im algengrünen Wasser schimmern, bleibt meine Brust trocken. Die Hand in der Plastiktüte dümpelt neben mir zwischen Schaumschollen, ich lächle dankbar und warte darauf, alleine gelassen zu werden.

«Nicht erschrecken«, sagt Rob.

Ich erschrecke, als mir lauwarmes Wasser über den Kopf fließt und eine Hand auf die Schulter gelegt wird. Ich schnappe nach Luft, ein Reflex.

«Alles in Ordnung?«fragt Phil.

Ich nicke. Das Wasser wird wärmer und über meinen gekrümmten Rücken gelenkt. Ich atme heftig und denke daran, nach einem Trinkhalm zu fragen, einem Schnorchel, lasse es dann aber bleiben und halte stattdessen die Luft an. Meine Haare werden gewaschen, sanft und geübt, als würde auf meinem Schädel eine fragile Skulptur errichtet. Ich spüre, wie die Schorfkruste sich löst und weggeschwemmt wird. Ich hole tief Luft, schließe die Augen und lasse es geschehen.

Ich reite über ein flaches Feld. Dass ich nicht reiten kann, Angst vor Pferden habe, darf ich nicht verraten, sonst falle ich. Das Pferd ist schwarz, obwohl ich mir ein weißes wünschte. Auf dem Feld liegt Schnee, der zu Sand wird, als ich absteige, um das Schiff zu erreichen. Das Schiff hat abgelegt, eine Frau steht am Heck und winkt mit einem Taschentuch. Sie ist jung, ich habe sie auf einer Fotografie gesehen, im Hochzeitskleid steht sie vor einer Kirche. Schwarzer Rauch senkt sich aus dem Schornstein auf sie herab, das Kielwasser ist eine Schleppe, ich winke. Das Pferd ist weiß und liegt im Sand, der zu Schnee wird, es stirbt, es hat mich lange getragen. Ich drehe mich um, und das Schiff ist verschwunden. Wo der Himmel auf das Meer drückt, fließt graue Asche empor, dann ist nichts mehr da, kein Meer und kein Himmel, nur noch Schnee, darin die Form des liegenden Pferdes, ein Abdruck seines Todes, der sich langsam füllt mit fallenden Flocken, Asche, Sternen. Über meinem Kopf fliegt ein Pferd, es hat Flügel und ruft meinen Namen.

Mein Gefühl sagt mir, dass es mitten in der Nacht ist. Ich muss stundenlang geschlafen haben, nachdem ich die leere Wanne durch die Tür verlassen hatte wie einen albernen Sportwagen oder eine Kutsche und zurück in meine Kammer geführt worden war. Jetzt liege ich in einem mit frischen Laken bezogenen Bett, nackt und verschrumpelt und nach Fichtennadeln riechend. Eine Handbreit unter der Raumdecke brennen zwei Lampen, schwache Birnen hinter Milchglasscheiben von der Größe einer Tafel Schokolade. Die Kontrolllämpchen an den Kameras versichern mir rot leuchtend, dass man ein Auge auf mich geworfen hat. Nachtsichtgerät, denke ich, Restlichtverstärker, Infrarot, Thermosensoren. Ich frage mich, was mein Zimmer wohl den Steuerzahler kostet, Leute, die mich nie gesehen haben und denen es egal wäre, wenn ich auf dem Grund des Meeres läge, zwischen Seesternen und Autoreifen, geschaukelt von Ebbe und Flut.

Die Überbleibsel eines Schlafmittels geistern durch mein System. Ich bin durstig, setze mich auf, lasse die Beine baumeln und warte. Ich zähle bis zehn, dann bis zwanzig, schließlich von vorne bis dreißig. Ich stehe auf und gehe zur Tür, taste sie ab, mache die Augen zu und spüre das rau he Holz, die Risse, das dunkle Rot, das in meine Fingerspitzen sickert. Ich öffne die Augen, als meine Zehen etwas Weiches berühren, eine weiße Schlange, zusammengerollt vor meinen Füßen. Eine Weile stehe ich da, meine Augen gewöhnen sich an das wenige Licht, dann schiebe ich das Knäuel ein Stück über den Boden, hebe es schließlich auf und halte den Gürtel des Bademantels in den Händen. Ich bleibe stehen, nackt, und zähle still meine Schätze. Ein Bademantelgürtel. Zwei Gummischlappen. Ein Kissen und eine Decke ohne Bezüge. Ein unzerreißbares Laken. Das kreditkartengroße Heftpflaster an meinem Handgelenk. Meine schadhaften Erinnerungen. Meine defekte Phantasie.

Ich setze mich hin, der Boden ist warm, und drehe den Gürtel in den Händen, binde mir einen Schlips, übe Seemannsknoten. Dann ist er eine Peitsche, ich schlage auf Pferderücken ein, schnalze mit der Zunge. Wells Fargo, Post für Santa Fé. Danach ist der Gürtel eine Angel, die Schlappen sind bunte Fische. Ich knüpfe eine Schlinge, steige aufs Bett und werfe das Lasso, aus den Fischen sind Kühe geworden, Longhorns, ich bin Adam, Hoss, Little Joe, die Bullen sträuben sich, Pa wartet mit dem glühenden Brandeisen.

Die beiden Pfleger, die in mein Zimmer stürzen, kenne ich nicht, sie müssen die Nachtschicht sein. Sie packen mich nicht grob, aber beherzt an beiden Armen, wie es ihre Kollegen getan hatten. Bestimmt lernen sie diese freundliche Überwältigung während der Ausbildung, und ich stelle sie mir vor, wie sie vorsichtig übereinander herfallen und versuchen, nicht zu kichern. Der eine, ein großer Dünner mit langen Haaren, redet auf mich ein in einer Melodie und Sprache, wie ich sie aus einer Dokumentation über Menschen kenne, die unruhige Pferde besänftigen. Der andere, ein Schwarzer, trägt eine dunkle Jacke, die feucht ist und nach Regen riecht. Um seinen Hals schließt sich der Bügel eines Discmankopfhörers, aus den gelben Schaumstoffpolstern scherbelt Musik. Er atmet heftig, und sein leise ausgestoßenes» Bleib cool, Mann «klingt wie ein Mantra, das er für sich selber herunterleiert.

Die beiden halten mich mit sanftem Druck fest, bis der Arzt den Raum betritt. Dass ich noch immer das Lasso in der Hand halte, bemerke ich erst, als er es mir wegnimmt. Ich sitze inzwischen auf dem Bett, flankiert von den beiden Pflegern, die sich ein wenig beruhigt haben. Der Arzt betrachtet den Bademantelgürtel, als überlege er, ob er meine paar Kilo getragen hätte. Dann sieht er mich an, und ich glaube Trauer in seinen Augen zu erkennen, Kummer. Tatsächlich seufzt er, bevor er redet.

«Es tut mir leid«, sagt er. Seine Stimme ist weich, sein Akzent vermag den Patienten die Angst zu nehmen, schlimme Dinge klingen harmloser, wenn sie aus seinem Mund kommen.

Ich bin kein Patient, denke ich, während Vermeer sich für die Sache mit dem Gürtel entschuldigt und dafür, dass ich wegen eines technischen Defekts für wenige Minuten nicht auf den Monitoren zu sehen war. Ich könnte ihm alles erklären. Das mit Little Joe und den Longhorns. Dass mir langweilig war, dass ich mich nicht erhängen wollte. Woran auch, vielleicht am Bettgestell, das in den Boden geschraubt ist? Oder an einer der Kameras, an die ich ohne Stuhl sowieso nicht rangekommen wäre und die so filigran wirken, als würden sie abbrechen unter dem Gewicht eines Kanarienvogels aus Burt Lancasters Zelle?

Als ich endlich den Mund aufmachen und alle Irrtümer mit ein paar wenigen klar formulierten Sätzen beseitigen will, als ich meine vorgetäuschte Stummheit beichten und meine sofortige Abreise anbieten will, höre ich den Arzt etwas sagen, das mich auch weiterhin schweigen lässt.

«… und deshalb werde ich Sie in die Offene Abteilung verlegen.«

Ich sehe ihn an. Er lächelt. Ich und die beiden Pfleger sitzen auf dem Bett wie Brüder, denen der Vater eine Geschichte erzählt hat. Dass ich nackt bin, hatte ich vergessen, und jetzt, da es mir bewusst wird, beginne ich zu weinen. Ich will nicht weinen, aber ich habe plötzlich Mitleid mit mir, weil außer mir alle bekleidet sind. Ich sehne mich nach einer Hose und einem Hemd und heule mit gesenktem Kopf und sehe dabei meinen Penis, der über der Innenseite des Oberschenkels liegt wie eine Eidechse in der Sonne. Vermeer streicht mir über den Kopf und verspricht, dass alles gut wird, und beinahe glaube ich ihm.

In der Offenen Abteilung ließe es sich wahrscheinlich leben, wenn da nicht all diese Typen wären. Diese Wanderer und Herumhocker und Leser und Spieler und Glotzer mit ihren vom Leben gebeutelten Köpfen, ihrem Murmeln und Schweigen und Quatschen. Sitzen herum und warten, schiefe Töne in einem öden Lied. Reisende ohne Ziel in einem Bahnhof, aus dem die Züge längst abgefahren sind. Einer trägt den Arm in der Schlinge, ein anderer zieht das Bein nach, in einem Sessel döst einer mit Halskrause. Ich wünschte, ich hätte dem Arzt zugehört und wüsste wenigstens, wo ich hier bin, Krankenhaus, Klapsmühle oder Erholungsheim.

Der Bau ist schön, die Innenarchitektur streng und edel. Wo man hinsieht, erstreckt sich Parkett, abgelöst von hellem Teppich. Sonnenlicht fällt durch Glasdächer, in die Wände sind Aquarien eingelassen, bunte Fische schweben darin. Pfleger schlendern umher, immer zu zweit, adrett gekleidete Collegeboys auf dem Campus. Über allem liegt Ruhe und Bedächtigkeit, ein großes Atemholen, aber die Anhäufung sonderbarer Männer macht mich nervös.

Nach dem Mittagessen hat Vermeer mich in das Zimmer geführt wie der Page den Hotelgast. Zuvor war ich eingekleidet worden, sandfarbene Socken, die Hose einen Ton dunkler, blaues T-Shirt und moosgrünes Hemd, weiße Turnschuhe ohne Markenname, alles wie angegossen. Vermeer erläuterte mir kurz das Prinzip der Offenen Abteilung und zeigte mir mein Bett, das Bad, den Schrank, das Regal mit den Büchern und den Heften von National Geographic und den Bildbänden über Tie re, das Sonnensystem und die Wunder der Erde.

Dann hat er mir Melvin vorgestellt, meinen Zimmergenossen. Melvin ist etwa Mitte fünfzig, eine Stirnbreit größer als ich und übergewichtig. Sein Händedruck ist warm und feucht, seine Stimme klar wie das Wasser in den Aquarien. Mich stellte Vermeer als Will vor. Den Namen hatte ich ihm nach langem Zögern auf seinen Block gekritzelt. Er hatte das wohl als großen Fortschritt betrachtet und mich gerührt und glücklich angestrahlt.

Danach führte er mich herum. Er zeigte mir den Fernsehraum, wo nur Filme über Tiere, das Sonnensystem und die Wunder der Erde laufen, vermutlich weil Nachrichtensendungen, Talkshows und Spielfilme eine verstörende Wirkung auf Menschen wie mich haben könnten. Wir sahen eine Weile drei Männern an einem Billardtisch zu und tranken grünen Tee, wobei ich meinen auslöffelte und Vermeer Anlass zu einer Notiz gab. Die Männer hatten ein eigenes, bescheuertes Spiel erfunden, bei dem leere Pappbecher, eine Untertasse und gestapelte Kekse wichtige Funktionen hatten.

Nach drei Partien von etwa zwei Minuten Länge, während derer die Männer die Kugeln von Hand über den Filz schoben, behutsam und mit der Konzentration von Uhrmachern, hatte ich keine Regeln ausmachen können, kein System, kein Muster. Ob es das Ziel des Spiels war, die Pappbecher umzustoßen, und ob es dabei eine Reihenfolge einzuhalten galt, blieb mir ein Rätsel. Warum die Männer zufrieden murmelten, wenn ihre Kugel wenige Zentimeter hinter einem Keksstapel zu liegen kam, aber aufstöhnten, wenn sie ihn berührte, erschloss sich mir nicht. Ob es galt, dem Unterteller einen Klang zu entlocken oder über möglichst viele Banden zu der leeren Zigarettenschachtel zurückzufinden, die in einer Ecke des Tisches vor dem Loch lag, war mir schleierhaft, und nichts war mir gleichgültiger. Trotzdem ließ ich die langsam rollende Kugel nicht aus den Augen, eingelullt von einem summenden Geräuschpegel, Vermeers melodischen Sätzen und den Medikamenten, die in meinem Körper schwappten.

Nachdem wir die leeren Teetassen in einen kleinen Fahrstuhl gestellt hatten, sind wir weitergegangen. Es gab noch Schach- und Damespieler, einen schalldichten Raum voller Instrumente und einen Erker mit großem Fenster, durch das man in einen Garten sah, wo ein paar Ziegen und ein vietnamesisches Hängebauchschwein grasten. Am Ende des Rundgangs brachte mich Vermeer zu meinem Zimmer zurück, unterhielt sich kurz mit Melvin und ging dann, nicht ohne mir einen schönen Aufenthalt zu wünschen.

Den hätte ich vielleicht sogar, wenn ich die Zimmertür zumachen, mich mit einem National Geographic aufs Bett legen und den Artikel über die Stämme auf Papua-Neuguinea lesen könnte, die sich gegenseitig töten, dabei jedoch, anders als die murmelnden Billardspieler, klaren Regeln folgen. Aber die Türen haben kein Schloss, und offenbar ist es in der Offenen Abteilung üblich, dass die Bewohner, Patienten, Insassen, was auch immer die offizielle Bezeichnung sein mag, sich untereinander besuchen. Glücklicherweise sind die meisten Männer hier nicht sehr kontaktfreudig, aber die paar, die einem längeren Monolog nicht abgeneigt sind, rauben mir schon nach wenigen Stunden den letzten Nerv.

Als erster kommt Stan, der sich ungefragt auf mein Bett setzt und von der Kunst des Rosenzüchtens schwärmt. Er trägt immer ein Buch bei sich, in das er Rosen gezeichnet hat, wissenschaftlich akribische Illustrationen, umgeben von Textwolken aus winzigen blauen Buchstaben, die Sorten, Namen, Herkunft und so weiter behandeln. Am liebsten redet Stan über das Düngen. Er preist die Vorteile einer Mixtur aus Eier- und Bananenschalen und Kaffeesatz, beschreibt die verblüffende Wirkung von Hühnermist und Pferdedung, und wenn er die Algen-, Asche- und Kalkmischung erwähnt, stottert er vor Aufregung. Stan riecht nach den Pfefferminzpastillen, die er dauernd lutscht, und sein Kopf, klein und gefleckt, erinnert an eine vom Sonnenlicht gesprenkelte Melone. Während er leise und deutlich spricht, bleibt sein Blick auf die Buchseiten geheftet, über die er mit den Fingern streicht. Bevor er geht, schenkt er mir ein Bonbon, klemmt das Buch unter den Arm und hat es plötzlich eilig wegzukommen.

Kaum ist Stan gegangen, poltert Rodrigo ins Zimmer und will mich in die verglaste Raucherzelle am Ende des Flurs schleppen, weil er nikotinsüchtig ist und die Hausordnung das Rauchen in den Zimmern untersagt. Er redet zu laut und meistens in Spanisch, zeigt mir die Tätowierungen auf seinen Unterarmen und hustet in ein Taschentuch, das zerknüllt in seiner behaarten Faust liegt. Er hat Mundgeruch und trägt einen roten Trainingsanzug, und ich hasse ihn. Das einzige Erfreuliche an ihm ist, dass er nach ein paar Minuten verschwindet, hastig und grußlos und eine Zigarette aus der Packung schüttelnd.

Den dritten ungebetenen Besucher heute, Roger, könnte ich vielleicht sogar mögen, wenn er mir draußen über den Weg laufen würde. Er ist um die vierzig, sieht aus wie Michael Caine und verliert kein Wort. Er stellt mir einen Stapel zwischen Pappdeckel gebundener Zeitungsausschnitte vors Bett, wartet, bis ich mir den obersten Band auf die Knie lege und aufschlage, und verlässt mit dem restlichen Stapel das Zimmer.

Elroy und Wayne, die beiden alten Schwarzen, fragen nur, ob ich Schach spielen würde, und als ich verneine, bin ich für sie gestorben. Soll mir recht sein. Die Namen der drei, vier anderen Gestalten, die sich im Verlauf des Nachmittags ins Zimmer verirren, kenne ich nicht, und ich habe nicht das Bedürfnis, sie herauszufinden.

Als es draußen dunkel wird, fließt warmes Licht durch die Flure. Wie auf ein Zeichen bewegen sich die Männer in eine Richtung. Abendessen, sagt Melvin. Ich habe keinen Hunger und bleibe liegen. Eine wundervolle, beängstigende Weile bin ich völlig allein.

Melvin. Melvin Rosenkranz, der seit zehn Monaten hier ist, wie er mir heute Morgen beim Frühstück erzählt hat. Melvin, der im Schlaf Hebräisch spricht und am Tag breiten Südstaatenakzent, der ein schwarzes Käppi trägt, das die Hälfte seiner Glatze bedeckt, der ständig eine Dose Malzbier in der Hand hält und seine Pantoffeln abends in einen Stoffbeutel packt und unters Kopfkissen legt, damit sie am Morgen warm sind. Ich würde ein Einzelzimmer vorziehen, aber die gibt es hier nicht, und außerdem mag ich Melvin irgendwie, denn er quatscht mich nicht voll, verlangt nicht, dass ich anfange zu rauchen, zeigt mir nicht die Bücher, die er gerade liest, und weckt mich nicht auf, um zu fragen, ob ich schlafe. Melvin ist in Ordnung, weil er mich in Ruhe lässt. Weil er trotzdem da ist und sagt, ich soll es aufschreiben, wenn ich irgendetwas brauche oder wissen will. Und weil er nicht schnarcht und sein Bett nicht knarrt, obwohl er so dick ist.

Die erste Nacht mit Melvin Rosenkranz im selben Raum war ziemlich merkwürdig, trotz der Faltwand zwischen unseren Betten. Ich fühlte mich gehemmt und ging auf Zehenspitzen zum Klo, um ihn nicht zu wecken. Als ich dalag und seinen Atem hörte und die ins Dunkel gemurmelten Sätze, die ich erst für ein Gebet hielt, musste ich an meinen Großvater denken, den ich manchmal gehört hatte, nachts, als Kind.

Am Nachmittag fragt mich Melvin, woher ich komme. Er nimmt einen Bildband vom Regal, in dem eine Weltkarte abgebildet ist, und ich zögere absichtlich ein wenig und zeige dann mit dem Finger auf Irland, auf die oberste Spitze der Insel, hinter der nur noch Blau ist. Ein Paddy, sagt Melvin und kichert. Orla hat mir erzählt, ich sei in Amerika zur Welt gekommen, in Philadelphia, Pennsylvania. Aber das braucht Melvin nicht zu wissen. Auch nicht, dass ich mich trotzdem als Ire fühle, nicht als Amerikaner.

Ich zeige ihm den Zettel, auf den ich meine Frage geschrieben habe: was ist das hier? Vermeer hatte mir nur gesagt, ich sei zur Beobachtung hier, man würde sich um mich kümmern, bis es mir besser ginge. Selbstverständlich wolle man mich nicht gegen meinen Willen festhalten, sagte er. Zuletzt fragte er, ob ich alles verstanden hätte, und freute sich, als ich nickte. Aber ich weiß noch immer nicht, in was für einem Laden ich eigentlich bin. Ich will Melvins Variante hören.

Er setzt die Brille auf und liest, was auf dem Zettel steht. Dann kichert er wieder und lässt die Brille an der Kordel um den Hals baumeln.

«Nennen wir es Sanatorium für Strauchelnde«, sagt er.»Oder Auffanglager für Untaugliche, Refugium für Lebensmüde, Biotop für Ausgeklinkte, such dir was aus. Du musst es dir als Stadt vorstellen, Will, eine Stadt, untergebracht in einem riesigen Gebäudekomplex. Ich weiß nicht, was du bis jetzt gesehen hast, aber es ist nur ein kleiner Teil davon. Es gibt zum Beispiel eine Krankenstation hier. Da warst du, nicht wahr?«Er deutet auf das Heftpflaster an meinem Handgelenk.

Ich nicke. Wayne und Elroy bleiben an der Tür stehen. Tagsüber, zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends, müssen die Zimmertüren offenstehen, so will es die Vorschrift. Elroy hat sein Handtuch über die Schulter gelegt, als wolle er ein Bad nehmen. Ich scheuche sie mit einer Handbewegung fort.

«Die Stadt hat ihr eigenes Energiezentrum, Solar- und Erdwärmeanlagen. Da drüben«, Melvin zeigt zur Wand hinter seinem Bett,»stehen Windturbinen auf einem Feld. In Gewächshäusern wird Gemüse angepflanzt, biologisch. Wer lange genug hier ist und Lust hat, kann da arbeiten. Oder in der Schreinerei. Ist aber alles freiwillig. «Melvin trinkt einen Schluck Malzbier.»Hier wird keiner zu irgendwas gezwungen. Nicht mal dazu, wieder ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden. Falls er das jemals war. «Sein Kichern klingt, als ob in einer geschlossenen Scheune erfolglos versucht wird, den Motor eines Oldtimers zu starten.

Roger kommt rein und legt einen neuen Band mit Zeitungsausschnitten auf den Boden vor meinem Bett. Ich gebe ihm den von gestern zurück, er presst ihn an die Brust.

«Na, Roger, wie geht es dir heute?«fragt Melvin und nutzt die Unterbrechung, um sich ein neues Malzbier zu holen. Die Dosen stehen in seinem Schrank, mindestens zwanzig Stück auf Vorrat. Er hat mir gesagt, er wolle sie nicht im Gemeinschaftskühlschrank am Ende des Flurs aufbewahren, obwohl es dort für jeden Bewohner ein abschließbares Fach gibt. Er habe keine Lust, jede Viertelstunde den Gang runterzulatschen, um eine Dose zu holen, außerdem reagiere sein Magen empfindlich auf Kaltes.

«Es muss noch vieles getan werden«, sagt Roger beim Gehen.»Vieles getan werden. «Seine Stimme ist monoton und kaum hörbar, eine Durchsage aus defekten Lautsprechern. Immerhin ist er nicht stumm, wie ich gedacht hatte.

Melvin reißt die Dose auf und setzt sich wieder in den Sessel neben meinem Bett.»Wie du ja weißt, nennt sich unser beschauliches Viertel Offene Abteilung. Hier kommt jeder hin, der das Gröbste hinter sich hat. «Er sieht mich an, wie um zu prüfen, ob das auf mich zutrifft.»Natürlich gibt es Ausnahmen. «Er grinst und zwinkert mir zu, nimmt einen Schluck und unterdrückt ein Rülpsen, klopft sich mit der Faust an die Brust.»Wer in die Stadt kommt, wird zuerst auf der Beobachtungsstation behalten. Oder, wie in deinem Fall, auf der Krankenstation. Aber das Ziel ist, die Männer so schnell wie möglich auf die Halboffene oder Offene zu verlegen. Wer raus will, zurück nach Hause, zu seiner Familie oder wohin auch immer, kann das natürlich auch. Jederzeit. Hier wird keiner gegen seinen Willen festgehalten. «Er nimmt einen langen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund.»Auch da gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel wenn jemand akut gefährdet ist, unberechenbar.«

Ich frage mich, ob Vermeer denkt, ich sei so ein Fall. Eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ein unheilbar Lebensmüder, der bei seinem Suizid Unschuldige mit in den Tod reißt, beim Sprung vom Hochhausdach einen Verkehrsunfall verursacht, auf den Schienen liegend einen Zug zum Entgleisen bringt, mit dem Kopf im Backofen eine Gasexplosion in einem Wohnhaus auslöst, seinen Schädel durchlöchert und mit derselben Kugel auch die Nachbarin hinter dem Küchenfenster tötet.

Melvin sieht mich an und lächelt, als könne er meine Gedanken lesen.»Dass du bei uns bist, hat seinen Grund, Will. Doc Vermeer weiß, was er tut.«

Ich nehme den Zettel, kritzle VERMEER und ein Fragezeichen auf die Rückseite und gebe ihn Melvin.

«Doktor Ruud Vermeer. Er ist hier der Chef. Ich glaube, er arbeitet dreißig Stunden täglich. Er und Doktor Burroughs leiten das Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung, wie die Stadt offiziell heißt. Burroughs ist die meiste Zeit in der Frauenstadt hinter dem Hügel. «Melvin sieht mein erstauntes Gesicht und lacht.»Tja, auch Frauen versuchen sich umzubringen.«

Ich denke an Rosie O’Sea und nicke.

«Die beiden haben das alles hier entwickelt, das Konzept, die Behandlungsmethoden, die Architektur, die Kleidung, die wir tragen, einfach alles. Sie wollten den staatlichen Nervenheilanstalten etwas entgegenstellen, etwas Humanes, weniger Klinisches. Die Bewohner sollen sich nicht als Insassen fühlen, sondern als das, was sie sind: Menschen, die in den dunkelsten Tagen ihres Lebens Hilfe brauchen. «Melvin lächelt sein Lächeln und trinkt einen Schluck. Vermeer sollte ihn zum Pressesprecher machen.

«He, Melvin!«Ein Typ, der Sam heißt, betritt das Zimmer und hält Melvin ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hin.»Unterschreib hier. «Er sieht mich an.»Du auch.«

Melvin überfliegt den Text auf dem Blatt.»Ich habe nichts gegen die Ziegen.«

«Ich auch nicht. Aber gegen ihr verdammtes Gemeckere. Ich kann nicht schlafen, Mann!«Sam sieht mich noch immer an. Ich kann den Kerl nicht ausstehen.

«Tut mir leid«, sagt Melvin freundlich. Er gibt Sam das Papier und den Kugelschreiber zurück.»Mich stören sie nicht. «Er lächelt und trinkt einen Schluck aus der Dose.

«Was ist mit dir?«fragt Sam mich.»Magst du Ziegenlärmbelästigung?«

Ich stelle mich blöd und sehe Melvin an.

«Will ist neu hier«, sagt Melvin.»Er muss sich erst einleben.«

Sam starrt mich eine Weile mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Verwirrung an, dann verlässt er das Zimmer.

«Sam ist andauernd wegen irgendetwas unzufrieden«, sagt Melvin, als Sam außer Hörweite ist.»Vor ein paar Wochen hat er eins der Aquarien mit seinem Bettlaken abgedeckt und zu einem Protest aufgerufen. Weißt du, wogegen?«

Ich schüttle den Kopf.

«Gegen die Luftblasen!«Er sieht mich an, als warte er auf einen Kommentar. Dann scheint ihm einzufallen, dass ich nicht rede.»Ihn stören die Blasen aus den Sauerstoffgeräten. Er sagt, sie machen ihn krank. «Melvin kichert kurz, dann sieht er bekümmert vor sich hin. Schließlich trinkt er einen Schluck warmes Malzbier und sieht mich an.»Wo waren wir?… Ach, Doc Vermeer, genau. Man hat ihn aus Holland geholt, wo er etwas Ähnliches aufgebaut hat. Viel kleiner und bescheidener natürlich. Hier hatte er alle Möglichkeiten, seine Idee im großen Stil umzusetzen. Die Caldwell-Stiftung verfügt über Millionen. «Melvin dreht die Dose in der Hand und betrachtet sie, als nehme er zum ersten Mal den aufgedruckten Namen wahr.

Ich warte, überlege, ob ich eine Frage aufschreiben soll.

Melvin ist noch immer in die Betrachtung der Dose vertieft. Dann sieht er mich an, lächelt.»Du fragst dich bestimmt, wer Susan und Kate Caldwell sind.«

Ich nicke. Ich liege in Hosen und T-Shirt auf dem Bett, das National Geographic mit dem Artikel über die Stämme in Neuguinea bedeckt meinen Bauch. Das Titelblatt zeigt den Rumpf eines Killerwals mit offenem Maul, über dem eine fette Robbe schwebt. Es sieht aus, als grüße der Orca grinsend die Robbe, die ihm auf ihrem Flug über die aufgewühlte See mit einer Flosse zuwinkt. Die Szene wirkt wie ein Spiel und nicht wie das blutige Gemetzel, das es ist.

«William Wallace Caldwell ist einer der reichsten Männer Amerikas«, sagt Melvin, dabei fährt er abwesend mit einem Finger über den Dosenrand.»Seine Tochter Susan hat sich mit siebzehn Jahren das Leben genommen. Warum, weiß ich nicht. Geht auch niemanden etwas an.

Vielleicht Liebeskummer, vielleicht war sie schwanger oder manisch-depressiv. Jedenfalls war sie die einzige Tochter. Seine Frau Kate fing an zu trinken und fuhr kein Jahr später gegen einen Brückenpfeiler. «Melvin sieht mich an. Die Getränkedose ist ein kleines Tier, dem er tröstend über den Kopf fährt.»Mit seinem Vermögen hat er diese Stiftung gegründet. Dann hat er eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sein Chauffeur fand ihn, und er wurde gerettet. Bill Caldwell ist einer der Männer, die ewig in der Beobachtungsstation bleiben, weil sie es immer wieder versuchen.«

Melvin erhebt sich seufzend. Er nimmt die Kopfbedeckung ab, an deren jüdischen Namen ich mich nicht erinnern kann, kratzt sich und setzt sie wieder auf. Seine Hose ist zu eng, der Reißverschluss steht ein Stück weit offen, ein weißer Keil Unterhose ist zu sehen. Er holt eine neue Dose aus dem Schrank, trinkt die andere leer und wirft sie in seinen eigenen Recyclingeimer.

Ich setze mich auf und hebe das Heftpflaster ein wenig an. Die Haut darunter ist weich und käsig, der Schnitt hellrot, die schwarzen Fäden bilden einen schiefen Gartenzaun.

«Ich mach meinen Rundgang«, sagt Melvin. Er geht jeden Tag mindestens zehnmal durch die ganze Abteilung, plauscht mit den Männern, spielt eine Partie Dame mit Sydney, liest dem Vietnamesen, den alle Ho nennen, Witze aus einem Sammelband vor oder hilft Lefty beim Lösen eines Kreuzworträtsels.»Kommst du mit?«

Ich zeige ihm das Heft, und er nickt.»Bis später dann«, sagt er. Melvins Gang ist watschelnd, und ich muss lächeln, während ich ihm nachblicke.

Am Nachmittag kommt Vermeer. Auf dem Flur muss er erst Sam loswerden, der mit der Ziegenpetition vor seinem Gesicht wedelt, dann betritt er rasch das Zimmer. Den Pfleger, der sich um Sam kümmert, kenne ich, es ist der Typ, der mit seinem Kollegen in mein Zimmer gestürzt kam, als ich mir die Kanüle aus dem Arm gerissen habe. Er legt einen Arm um Sams Schulter und geht mit ihm weg, zwei Kumpels, die sich nach einem harmlosen Streit wieder vertragen und zusammen ein Bier trinken gehen.

Ich frage mich, ob die Pfleger hier ein Vermögen verdienen und ihren Job deshalb so hingebungsvoll erledigen oder ob sie von Natur aus extrem hilfsbereit und fürsorglich sind und gar nicht anders können, als die Besten des Landes zu sein, die Pflege-Elite. Vielleicht werden sie überwacht und gefeuert, wenn sie einen von uns anschnauzen oder sonst wie unfreundlich behandeln. Ich sehe an die Decke und suche nach versteckten Kameras.

«Wilbur Sandberg«, sagt Vermeer. Er sitzt im Sessel, in dem Melvin gesessen hat, und sieht mich an.»Ist das Ihr Name?«

Ich finde nichts, keine Kameras. Ich heiße nicht Wilbur Sandberg, das könnte ich antworten. Mein Name ist Will McDermott. Orla nannte mich manchmal Wilbi und, wenn ich etwas ausgefressen hatte, little filou, wie der französische Arzt, der seltsame Worte in ein kleines Gerät geflüstert hatte.

«Wir haben Ihren Koffer«, sagt Vermeer. Ich sehe ihn an. Er zieht etwas aus der Brusttasche seines Hemdes.»Das Hotel meldete der Polizei Ihr Wegbleiben. «Er hält mir mein Bild hin, eingeklebt in meinen Pass, und ich sehe mich an, fünf Jahre älter. Vermeer faltet ein Blatt Papier auseinander.»Sie haben sich unter dem Namen Conor Finnerty im Hotelregister eingetragen. Erinnern Sie sich daran?«

Ich sehe auf den Flur, wo Stan vor einem Aquarium steht, und obwohl ich mich erinnere, schüttle ich langsam den Kopf. Der Mann mit der Halskrause geht vorbei. Er heißt Larry und hat versucht, sich aufzuknüpfen. Er ist hier, weil der Strick zu dünn oder der Balken morsch war. Er kann nicht sprechen und ernährt sich von Bananenmilch. Er schreibt keine Zettel, hat keine Fragen.

«Wilbur? Erinnern Sie sich?«

Ich würde Vermeer gerne um den Indianer und das Pferd bitten. Ich hätte gerne meinen Koffer bekommen. Darin einrollen würde ich mich und in die Vergangenheit schicken lassen, zurück zu dem Tag, an dem Orla in ihr himmelblaues Auto stieg und losfuhr, um mich zu suchen.

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