Die Harder, 1990

Irgendwann hatten Wilbur und Conor genug ins Land hineingesehen, drehten sich um und blickten aufs Meer. In der Gegend wurden sie die Zwillinge genannt, in der Schule waren sie nicht einmal mehr einen Spottnamen wert. Miss Ferguson erzählte überall stolz, wie intelligent Wilbur sei und welch positiven Einfluss er auf Conor habe. Wenn das Wetter ein Einsehen hatte, saßen die beiden auf dem flachen Hügel neben dem Haus und zählten die Namen der Fische auf, die im Meer schwammen, die Bezeichnungen der Wolken, die vorbeizogen, die Länder, die hinter dem Horizont lagen. Sie wussten, welche Vögel über ihren Köpfen flogen und was für Käfer zu ihren Füßen krochen, erkannten Flugzeuge an ihrer Form und Autos am Motorengeräusch.

Was ausgebreitet vor ihnen lag, war ein kleiner Teil der Welt. Sie machten ihn größer, indem sie den dunklen Rest mit ihrem Wissen erhellten, sich ein Universum schufen aus Fakten und Träumen, aus Daten und aus Sehnsucht. Beide wussten, dass sie wegwollten, Conor lieber heute als morgen, Wilbur in einer unbestimmten Zukunft. Conor hasste das Land, in dem er festsaß und in dem sein Vater die Macht hatte. Wilbur mochte diesen winzigen Flecken, hier war sein Zuhause, hier lebten er und Orla, mit der ihn unermessliche Liebe verband.

Zwang das Wetter sie ins Haus, hörten sie mit Orla am Küchentisch Radio. Conor saß nicht mehr nur stumm lauschend und mit glühenden Ohren da, jetzt sangen er und Orla die Hitparadensongs mit. Er hatte eine gute, klare Stimme und ließ sich nicht einmal durch Wilbur irritieren, der in jähen Begeisterungsschüben auf der Tischplatte trommelte. Oft lagen sie auch in Wilburs Zimmer auf dem Boden und lasen, spielten zu dritt Monopoly oder ließen sich von Orla Meldungen vorlesen, die sie aus der Zeitung schnitt. Orla hatte sich längst damit abgefunden, Wilbur mit Conor zu teilen, betrachtete es mittlerweile jedoch nicht mehr als Verlust, sondern als Gewinn. Es war eine Freude, die beiden zusammen zu sehen, und auch wenn Conors Haare schwarz waren und sein Körper von träger Kraft strotzte, gefiel Orla die Vorstellung, die Jungen seien Zwillinge.

Conors Vater, Sean Lynch, besaß ein kleines Sägewerk, das Holz an Baufirmen lieferte und Telefonmasten, Zaunpfähle und Gartenzäune herstellte. Conors Mutter Aislin kümmerte sich neben Conor um die drei jährige Fiona und den vierzehnjährigen Kieran, der wegen Sauerstoffmangels die Geburt fast nicht überlebt hatte und geistig und körperlich behindert war. Die Familie wohnte in einem Haus neben dem Werksgelände, und an trockenen Tagen lag der Holzstaub wie gelber Schnee auf den Fenstersimsen. Seit vierzehn Jahren stand das Haus da, und ein Teil der Fassade war noch immer unverputzt, der Rest grau und ohne Anstrich.

An den Lärm der Bandsäge, der Gebläse und der Lastwagen, die auf den Hof fuhren, hatte Aislin sich nach all den Jahren ebenso gewöhnt wie an den Geruch von Holz und Teer und die Abgase der Dieselmotoren, aber damit, in einem unfertigen Haus zu leben, fand sie sich nur schwer ab. Die rohen Bausteine erinnerten sie jeden Tag aufs Neue daran, dass ihr Mann nach Kierans Geburt keinen Sinn mehr darin gesehen hatte, die Arbeiten am Haus zu beenden. Ihr Heim war ein Denkmal für ihr Scheitern, einen gesunden Sohn zur Welt zu bringen, und weder Conors Geburt noch die von Fiona änderten etwas an Seans sturer Verzweiflung.

Um dem missglückten Kind aus dem Weg zu gehen, stand Sean als erster auf und verließ als letzter die große Werkshalle, in der Küche aß er nur dann zu Mittag, wenn seine Frau mit Kieran beim Arzt in Letterkenny oder Dublin war, und lieber benutzte er die verdreckte Toilette hinter dem Geräteschuppen, als dass er riskierte, seinen Ältesten im Haus anzutreffen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, bezahlte er für Kieran einen Platz in einem staatlich geführten Camp auf dem Land oder die Teilnahme an einem Kurs, wo Behinderte lernten, Dinge wie Bücherstützen, Holzspielzeug oder Bilderrahmen herzustellen.

Während Kieran irgendwo im County Wicklow nervös lachend auf einem Pony saß oder in einem Backsteingebäude am Rande Dublins einen Pinsel vorsichtig in Leim tunkte, wurde aus Sean Lynch, dem unsichtbaren Mann, ein Vater. Kaum war der Beweis für Gottes Fehlbarkeit weit weg, brach sich seine Liebe Bahn und überschwemmte die Familie wie eine Sintflut ausgetrockneten Boden. Aislin verachtete ihn dafür, nahm sein Auftauchen aus wochenlangem Selbstmitleid und trotziger Schwermut aber dennoch dankbar an, voller Sehnsucht nach seinen unbeholfenen Gesten der Zärtlichkeit.

Für Fiona war der Fremde während dieser sonderbaren Tage eine Märchengestalt, eine verwandelte Kröte, der Weihnachtsmann mitten im Sommer, ein zum Leben erwachter Spielzeugroboter, der in hastiger Sanftheit sprach und Geschenke hervorzauberte, der ihren kleinen Körper drückte und ihre Wangen mit Küssen bedeckte, überhitzt vor Zuneigung und täuschend echt. Zu glauben, dass dieser Mann ihr Vater war, weigerte sie sich dennoch hartnäckig, genau wissend, dass er aus ihrem Leben verschwinden würde, sobald der seltsame Junge zurückkam.

Conor hatte lange versucht, seine Verwirrung nicht in Hass umschlagen zu lassen, aber wenn er seinen Vater im Morgengrauen und nach Einbruch der Dunkelheit im Haus umhergehen hörte wie einen Gast, der niemanden mit seiner traurigen Existenz behelligen will, konnte er nichts gegen seine Gefühle tun. Er wollte die Geschenke nicht, die plötzlich in seinen Schoß fielen, und auch nicht die Berührungen, das Kopftätscheln und Knuffen und Schulterklopfen. Er wollte die Stimme nicht hören, die ihn fragte, wie er sich in der Schule mache und ob er mit zum Angeln wolle am Sonntag. Er hasste seinen Vater. Er hasste ihn, weil dieser große schwere Mann ein Feigling war, weil er sich vor dem Leben duckte wie ein Hund vor Schlägen, weil er ein Schatten war, eine Wolke aus Sägespänen, ein Nichts. Er hasste seinen Vater, und noch mehr seinen Bruder, den Krüppel, der an allem schuld war.

Am frühen Morgen, als Wilbur noch geschlafen hatte, war ein kurzer Regen über das Land gegangen. Jetzt schien die Sonne, und die Erde atmete feucht und warm unter dem Gras. Sauber ausgeschnittene Wolken standen im Himmel, vergessenen Kulissen gleich. Aus den Tümpeln, die sich oft wochenlang in Senken zwischen den Hügeln hielten, stiegen Libellen auf. Weit draußen pflügte ein Trawler durch die See, ein riesiges Netz hinter sich herschleppend, das alles Lebendige ans Licht zerrte, um es zu verwerten oder an die Möwen zu verfüttern, die dem Schiff als glitzernder Körper folgten.

Wilbur hatte gelesen, dass in den Bäuchen dieser schwimmenden Fabriken Katzenhaie ihre Jungen gebaren, bevor sie starben, und dass Arbeiter mit Messern die Arme von Kraken durchtrennten, die im Todeskampf Stahlketten und Gummistiefel umklammerten. Wilbur aß keinen Fisch mehr, seit er im Hafen einen alten Mann beobachtet hatte, der eine zappelnde Makrele am Schwanz hielt und ihr den Kopf zertrümmerte, indem er ihn ein paar Mal auf die Planken schlug. Fish and Chips waren vom Speiseplan gestrichen, und der alte O’Reilly hatte es längst aufgegeben, den Umweg zum McDermott-Haus zu machen.

Wilbur und Conor saßen auf dem Hügel und sahen dem Fangschiff nach, bis es sich in einem Feld aus Licht, zu dem das Meer an den Rändern wurde, auflöste. Conors Haut war gebräunt, er kratzte sich am Knie und kaute auf einem Grashalm. Verglichen mit seinem Freund war Wilbur bleich, seine Beine steckten in langen Hosen. Beide trugen Sonnenbrillen, die Orla ihnen in Letterkenny gekauft hatte. Die Brillen waren zu groß, ihre Bügel griffen hinter den Ohren ins Leere, und die Gläser verdeckten das halbe Gesicht der Jungen.

«Nicaragua«, sagte Conor.

«Bolivien«, sagte Wilbur.

«Guatemala.«

«Kolumbien.«

«Peru«, sagte Conor.

Beide dachten an das Bild aus dem Leihbuch, das den Titel Ein Menschenopfer für den Sonnengott trug und den kolorierten Stich einer Pyramide mit flacher Spitze zeigte, auf dem ein Inkapriester einen Dolch über dem Körper einer jungen, auf einem Altar aus Fels liegenden Frau erhob. Dass die Kultstätte sie an den Steinhaufen erinnerte, den Wilburs Großvater ganz in der Nähe aufschichtete, erwähnten sie mit keinem Wort. Wilbur schämte sich für den alten Narren, und Conor wusste das.

Eine Weile schwiegen die beiden wieder und blickten auf die leere See. Eine Hummel flog an ihnen vorbei, umkreiste sie und steuerte auf die Stechginsterbüsche zu, zwischen deren gelben Blüten es summte von Insekten. Ein paar Schwalben zeichneten sich vor dem Blau des Himmels ab. Sie suchten Futter für ihre Jungen, die in den Nestern an Colm Finnertys Stall warteten. Das Wetter würde bleiben, dachte Wilbur und rieb sich die Nase, die Orla mit Zinksalbe eingeschmiert hatte.

«Ich verrat dir ’n Geheimnis«, sagte Conor.»Aber du darfst es keinem erzählen. «Er sah Wilbur an, gerade lange genug, um dessen Nicken zu sehen.

Ein leichter Wind kam auf, kühlte die Haut und schob die Wolken ein Stück zur Seite. Conor nahm den Grashalm aus dem Mund.

«Fiona ist nicht meine Schwester«, sagte er nach einer Weile. Er sah auf seine Schuhe, die leer vor ihm standen, und wickelte den Halm um einen Finger.

Wilbur wartete. Durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille lag ein Schatten auf der Welt, den er für angemessen hielt. Nahm er sie ab, glänzte jeder dumme Gegenstand im Licht, prahlte mit seiner grellen Bedeutungslosigkeit. Einmal war er aufgestanden, um eine leere Flasche außer Sichtweite zu tragen, weil sie für sein Empfinden ungebührlich viel Sonnenlicht bündelte.

«Mein Vater ist nicht ihr Vater.«

«Woher weißt du das?«

«Ich weiß es eben.«

Die Schwalben verschwanden, die Wolken lösten sich auf. Wilbur dachte nach.

«Aber deine Mam hat sie doch auf die Welt gebracht.«

«Ja«, sagte Conor.

«Wenn deine Mam andere Kinder hat, sind das deine Geschwister.«

«Nein. Wenn überhaupt, ist sie meine Halbschwester.«

Wilbur wollte sagen, dass er gerne eine Halbschwester hätte, lieber als gar keine, aber er ließ es bleiben. Er hatte Fiona ein paar Mal gesehen und mochte ihre Einfältigkeit und den Ernst, mit dem sie zu ihren Puppen sprach. Sie erinnerte ihn an sich selber, an den schüchternen Zwerg von früher, der mit der Großmutter im Schutz von Mauern kleine Häuser aus Pappe und Muscheln baute, um darin zu verschwinden. An den Jungen, der einen anderen fast zu Tode prügeln musste, um ihn zum Freund zu gewinnen.

Musik drang plötzlich aus einem offenen Fenster des Hauses. Conor zog seine Schuhe an und erhob sich. Er nahm die Sonnenbrille ab, der schwarze Punkt in seinen Augen wurde kleiner. Orla rief nach ihnen. Conor mochte ihre Stimme und wie sie seinen Namen sang. Er ging durch das kniehohe Gras den Hügel hinunter zum Haus, und Wilbur folgte ihm.

Der Duft des Apfelkuchens füllte die Küche, aber sie trauten sich kaum zu kauen. Orla sah auf eine leere Stelle an der Wand, wo nur für sie Bilder sichtbar wurden. Ihre Hände schmerzten, sie hatte lange gebraucht, um den Teig zu kneten. Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens verschwendet, sie wurde alt und lauschte einem jungen Mädchen, das über die Liebe sang, und sie lächelte. Conors Augen waren geschlossen, er bewegte die Lippen, formte die Worte und wob die Melodie mit den Fingern in die Luft.

Wilbur schwankte langsam vor und zurück, kaum merklich, die Hände und Füße still, andächtig. Das war die Sängerin, über die sich alle in der Schule das Maul zerrissen. Irin war sie und hatte sich den Kopf scheren lassen, wo sie doch so hübsch war. Sang davon, dass ihr Freund sie verlassen hat und dass sie traurig ist, ein Vogel ohne Lied. Auf der Straße könnte sie jeden Jungen umarmen, tut es aber nicht, weil es nicht dasselbe wäre. Zum Arzt geht sie, und der sagt ihr, sie solle fröhlich sein. Sie nennt ihn einen Dummkopf und beklagt die Blumen, die eingegangen sind, seit er weg ist.

Wilbur wusste nichts über diese Form von Liebe. Er nahm die Mädchen in der Schule kaum wahr, hielt die meisten für dumm und gemein, falsche Gesichter, aus denen sinnlose Wörter fielen. Erin Muldoon hatte ihn auf dem Pausenhof einmal lange angesehen, da war ihm heiß geworden, und er war ins Schulgebäude gerannt, obwohl das bei schönem Wetter verboten war. Er liebte Orla, aber ihm war klar, dass da noch etwas anderes war, etwas, das mit den Mädchen in der Schule und in der Phantasie zu tun hatte und mit diesem Lied, das Gefühle beschrieb, Qualen, die ihm noch bevorstanden.

Ein sumpfiger Graben, die Steine herausgebrochen wie Zähne aus einem Maul. Spuren im Gras, Pfade. Der letzte Brocken sprang in zwei Teile, ein dumpfes Knacken entfuhr dem Fels. Licht fing sich im Keil, ließ ihn aufblitzen und erlosch. Eamon brauchte immer längere Pausen, setzte sich auf den Stein oder legte sich ins Gras, das seinen müden Körper umfing. Dann sah er in den Himmel und wartete darauf, dass die Schmerzen in den Händen und in den Schultern nachließen und sein Atem flacher ging. Oft wünschte er sich, in der Erde zu versinken, egal, wie eisig sie war unter ihm. Er war schon eingeschlafen, während der Wind das Salz landeinwärts trug und die trockenen Halme neben seinen Ohren rascheln ließ. Im Traum war er immer ein anderer, einer, den er nicht kannte und an den er sich nicht erinnerte, wenn er aufwachte, durchdrungen von Kälte und bleiernem Schmerz. Heute schlief er nicht ein. Brot lag in seinem Mund, bis es weich genug zum Schlucken war.

Irgendwann drehte er sich zur Seite, kroch zum Stein und legte ihn frei. Beim Graben zerriss er Würmer mit den Fingern, Käfer liefen über seine Arme. Den geborgenen Stein teilte er, dann noch einmal. Die Hammerschläge schwammen durch seinen Körper und wurden bald zum langgezogenen metallischen Klang. Wenn er auf den Stein eindrosch, lag er drei Schritte entfernt im Gras, dösend, so wenig spürte er sich. Zeit war Licht, das kam und ging. Begann die Nacht, fand ein letzter Rest in ihm den Weg zum Haus. Dort stand warmes Essen auf dem Herd, lag frische Kleidung auf dem Bett. Im Badezimmer fehlte es nie an Tüchern und Seife. Manchmal stand er vor dem Spiegel und schnitt mit der Schere den Bart kurz, förderte ein halbes Gesicht zutage. War er es, der für all das sorgte? Erledigte er diese Dinge in den Stunden, die ihm zwischen Aufwachen und Einschlafen abhanden kamen? Er wusste es nicht. Und er wusste auch nicht, wer ihm allabendlich das Stück Schokolade aufs Kopfkissen legte, das, wenn er sich recht erinnerte, die Form eines Herzens hatte.

Einer der Arbeiter aus dem Sägewerk fiel von dem Boot, das er in seinem Garten baute, und brach sich dabei den Arm. Ein anderer war zwei Tage zuvor nach Chicago geflogen, um seinen Bruder zu besuchen. Angesichts dieser Notlage bestand Sean Lynch darauf, dass sein Sohn während der Ferien im Betrieb half. Unter dem Beifall der übrigen Männer taufte er ihn mit einer Handvoll Sägemehl und wies ihm dann seinen Platz hinter der Schälmaschine zu, wo Conor lange Borkenstreifen und Abfallholz in offene Blechcontainer füllen musste.

In den ersten Tagen weinte Conor vor Wut, und wenn einer der Arbeiter fragte, was los sei, sagte er, der Holzstaub kratze in seinen Augen. Wenn es regnete, und das tat es in diesem Sommer oft, brauchte Conor diese Ausrede nicht und stapfte leise schluchzend und fluchend durch den Morast aus Schlamm und Sägemehl. Die vollen Container, die auf einem rostigen Gleis liefen, galt es über den ganzen Platz zu schieben und an einer Halde auszukippen.

Conors Mutter war mit Kieran in Dublin, wo der Junge an der Hand operiert werden sollte.»Für Kierans unnütze Hand!«rief sein Vater manchmal, wenn ein Stapel Bretter auf einen Lastwagen geladen wurde. Fiona war mit ihrer besten Freundin und deren Eltern in Glenbeigh im Südwesten der Insel.»Da ist der Regen wärmer«, hatte Conors Vater geantwortet, als einer der Arbeiter fragte, was am Süden denn besser sei. Die Männer hatten gelacht und ein Lied über die Schönheit Donegals angestimmt.

Das Mittag- und Abendessen musste Conor mit seinem Vater in der Küche einnehmen. Im Kühlschrank und in der Gefriertruhe stapelten sich Schüsseln mit vorgekochtem Essen, und zu Beginn gab sich Conors Vater Mühe, jeden Tag zwei anständige Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen. Ernüchtert durch die mürrische Appetitlosigkeit seines Sohnes, ging er jedoch bald dazu über, von O’Reilly Fish and Chips, frittiertes Huhn oder Pizza kommen zu lassen. Hatte Sean in den ersten Tagen noch versucht, während des Essens mit seinem Sohn zu reden, gab er auch das bald auf, und es war keine Woche vorbei, da saßen die beiden schweigend am Tisch und brüteten über ihren vollen Tellern und düsteren Gedanken.

Orla genoss die Zeit, in der sie Wilbur wieder für sich alleine hatte. Zwar vermisste sie Conor manchmal, aber wenn sie mit Wilbur durch die Gegend fuhr und er neben ihr statt mit seinem Freund auf der Rückbank saß, fühlte sie sich einfach nur glücklich. War sie besonders guter Laune, fuhr sie mit ihm am Morgen nach Dublin, wo sie sich zur Nachmittagsvorstellung in ein Kino setzten. Weil Wilbur sich nichts aus Zeichentrickfilmen machte, gingen sie in Streifen, die für Kinder nicht freigegeben waren. Orla bestach die Kassiererinnen und Platzanweiser mit größeren Beträgen, damit Wilbur eingelassen wurde und sich an der Seite seiner Großmutter Western und Science-Fiction-Filme und alle Folgen der Indiana-Jones-Reihe ansehen konnte.

Bei seinem ersten Film, dem Western Rio Bravo, der in einer Reprise gezeigt wurde, hatte Wilbur noch lauthals dazwischengerufen, als sei er in Lehardan im Puppentheater. Nachdem sich andere Besucher beschwerten und Orla ihm erklärte, die Schauspieler könnten ihn nicht hören, saß er stumm in seinem Sitz und verfolgte das Geschehen auf der Leinwand mit einem inneren Beben, das ihn beinahe zerriss und auch während der nächsten Vorführungen kaum nachließ.

Zu Beginn hatte Orla noch überlegt, Wilbur die Hand vor die Augen zu halten, wenn ein Cowboy sein Mädchen küsste, aber nach einer Weile fand sie, der Anblick könne dem Jungen kaum schaden. Wichtiger war ihr, ihm zu erklären, dass die Leute, die in den Filmen erschossen, von Pfeilen durchbohrt und von Laserwaffen zerstäubt wurden, nur Schauspieler waren und am Ende der Szene aufstanden und weiterlebten.

An den Freitagen fuhr Orla mit Wilbur nach Letterkenny, wo die beiden den ganzen Nachmittag in der Bibliothek verbrachten. Wilbur suchte sich dann seinen Büchervorrat für die kommende Woche aus, während Orla in sämtlichen Zeitungen nach interessanten Meldungen stöberte. Am Abend dieser Freitage wurde Orla jeweils ein wenig wehmütig, weil am Wochenende, wenn das Sägewerk stillstand, Conor kommen und Wilbur für sich beanspruchen würde.

Der Tag, an dem sie den Hund sahen, war ein Sonntag, und vom Haus her wehte der Duft des Früchtekuchens, den Orla im Ofen hatte. Hoben die Jungen den Kopf, war der reglose Himmel eine Fläche aus Glas, voller Schlieren, die bis nach Belfast reichten. Der Rücken des Hundes ragte schwarz aus dem Gras, als er über den Hügel kam. Es hätte eines von McGonigles Tieren sein können. Der Alte brachte nicht immer alle Welpen an den Mann, und die überzähligen streunten umher, bis ein Schafbauer sie in die Lehre nahm oder erschoss.

Der Hund kam aus dem hohen Gras und trabte zum Weg, der am Ende einer gemähten Wiese in die Straße mündete. Er trug etwas im Maul, einen Fetzen Stoff oder Fell, der am Boden schleifte. Conor stand auf und pfiff durch die Finger. Das Tier blieb stehen, sah in ihre Richtung und lief dann weiter, verschwand zwischen den Hügeln wie die Straße.

«Haste gesehn, was der im Maul hatte?«Conor sah zu den Hügeln, zwischen denen der Hund aufgetaucht war.

«Nö«, sagte Wilbur. Er schnippte vorsichtig eine Ameise von seinem Arm.

«Vielleicht ist irgendwas angeschwemmt worden«, sagte Conor.

Wilbur antwortete nicht. Er ging nicht gerne an den Strand. Das Meer als abstrakte Masse, als weite blaue Fläche faszinierte ihn, auch der Gedanke, dass dahinter Amerika lag. Aber den Geruch fand er eklig, und das monotone Geräusch der anrollenden Wellen machte ihn nervös. Wenn er die farbigen Illustrationen in seinem Tieratlas betrachtete, erfasste ihn ein Schaudern, sogar harmlose Kugelfische kamen ihm vor wie kleine Monster, die nur darauf warteten, dass er seinen Zeh in ihre Welt streckte. Er verstand die Menschen nicht, die darin schwammen, und Taucher hielt er für komplett verrückt, auch wenn er insgeheim ihren Mut bewunderte.

«Ich werd mal nachsehn«, sagte Conor. Er wartete, aber Wilbur zog nur ein gelangweiltes Gesicht. Conor ging in die Richtung, aus der der Hund gekommen war.»Bin gleich zurück!«rief er.

Wilbur sah Conor nach, und kurz bevor er außer Sicht war, erhob er sich rasch und folgte ihm. Er rannte über den ersten Hügel und holte Conor schnaufend ein. Das Grinsen im Gesicht seines Freundes sah er nicht.

«Sioux«, sagte Conor.

«Comanchen«, sagte Wilbur.

«Irokesen.«

«Apachen.«

Die Wolldecke drückte das hohe Gras, in dem sie lag, auf den Boden. Erst dachte Wilbur, ein Mensch liege da am Fuß des sanft ansteigenden Hügels, und blieb stehen. Vielleicht war der Hund tollwütig und hatte einen Wanderer angefallen. Conor ging auf die Decke zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

Wilbur ging hinter seinem Freund her, beschämt über die eigene Angst. Manchmal war er wütend auf Conor, der sich vor nichts zu fürchten schien, nicht einmal vor Mr. Taggart, dem neuen Turnlehrer, der die Jungen waghalsige Sprünge über ein Gerät machen ließ, das sich Pferd nannte. Bei diesen Übungen war Wilbur entweder schon während des Anlaufs gestrauchelt oder hatte sich beim Aufprall auf den Lederbock so viele blaue Flecken geholt, dass Mr. Taggart ihn stattdessen Runden in der Halle drehen ließ.

«Die ist von einem Schiff«, sagte Conor und breitete die feuchte Decke so aus, dass man die Buchstaben erkennen konnte, die sich in einem dunklen Streifen über die Längsseite zogen. Eine Ecke fehlte, das Stück, das der Hund im Maul getragen hatte.

«MS Pride of Durban«, las Wilbur.

Conor sah sich um. Die Kuppe des Hügels war mit hüfthohem Gras bewachsen, ein Gürtel aus Stechginsterbüschen und Brombeersträuchern legte sich um seine Flanke, und die dem Meer zugewandte Seite war kahl, ein Abbruch aus nackter Erde, den Steine säumten. Conor stellte sich auf den höchsten Punkt und sah zur Bucht hinunter.

«Nichts!«rief er, blieb noch eine Weile stehen und kam dann herunter.

«Südafrika«, sagte Wilbur, obwohl ihm klar war, dass Conor das wusste.

«Die haben da ’nen Zaun im Meer, damit die Haie nicht die Leute fressen«, sagte Conor. Seit er mit Wilbur befreundet war, las er Unmengen von Büchern, oft noch spätnachts und im Schein einer Taschenlampe, damit seine Eltern nichts merkten. Dabei achtete er auf Titel, die Abenteuer versprachen, Nervenkitzel, noch besser handfestes Gruseln. Kopfjäger am Ende der Welt, Tödliche Safari, Flucht aus dem Reich der Kannibalen hießen die Werke, die ihm Schauergeschichten aus einem Leben boten, das für einmal nicht das eigene war. Er hob die Decke auf und schüttelte sie. Der Stoff roch modrig, Gras und Dreck klebten daran.

Wilbur sah das Loch erst, als in einem Busch davor ein weißer Falter die Flügel ausbreitete und sich von der Brise, die aufgekommen war, hochheben und davontragen ließ, ein blinkender Punkt, der vor einer Wolke verschwand. Grashalme schraffierten die Öffnung, vor der frische Erdklumpen und gelbe Stechginsterblüten lagen. Er stapfte die Steigung hoch und ging in die Knie, um durch die Äste eines Busches ins Dunkel zu blicken. Nie im Leben hätte er sich getraut, die Hand auszustrecken, die Zweige zu trennen und hineinzufassen. Das überließ er Conor.

«Eine Höhle«, sagte Wilbur. In der Erde sah er etwas, das er als Pfotenabdruck deutete.

Conor ließ die Decke fallen und stieg zu Wilbur hoch. Beide starrten in das Loch. Ein Flugzeug summte im Himmel, eine Fliege hinter Milchglas.

«Ein Dachsbau«, sagte Conor leise, als wolle er den Bewohner der Höhle nicht aufschrecken. Während Wilbur zurückwich, ging Conor näher, brach einen Ast entzwei und tastete mit der rechten Hand hinein. Er wünschte, er hätte seine Taschenlampe dabeigehabt, als er den Kopf in die Öffnung schob und ihn Dunkelheit umgab. Zu Wilburs Entsetzen kroch Conor in den Bau und war bald so weit darin verschwunden, dass nicht einmal mehr seine Schuhsohlen herausschauten.

«Ich glaube, Orla hat gerufen«, sagte Wilbur, obwohl er nichts gehört hatte. Er stand da, bereit, jederzeit davonzurennen, sollte Conors Schrei aus dem Loch hallen. Mit der Tatsache, ein Feigling zu sein, hatte er sich ebenso abgefunden wie damit, nicht richtig zu wachsen oder keine Eltern zu haben. Er beruhigte sein schlechtes Gewissen, indem er sich einredete, im Notfall nur davonzulaufen, um Hilfe zu holen.

«Da ist was!«rief Conor aus der Finsternis, dann ächzte er.

Wilbur ging ein paar Schritte zurück, seine Knie wurden weich. Er verwünschte den Hund, der die Decke aus dem Loch gezerrt hatte, den Falter, der vor der Höhle aufgeflattert war, und sich selber, weil er seine Entdeckung nicht für sich behalten hatte. Über dem Meer hob ein Wind an und strich durch das Gras. Wilbur sah auf seine Uhr, um sich von der Verlässlichkeit der Zeit trösten zu lassen, aber diesmal funktionierte es nicht. An einem Hang wuchsen wilde Margeriten, Orlas Lieblingsblumen, und Wilbur nahm sich vor, sie später für seine Großmutter zu pflücken.

Conors Füße erschienen, die Beine, der Oberkörper, dann die Arme und schließlich die Hände, die einen Griff umfassten und eine Holzkiste ins Freie schleiften. Conor keuchte vor Anstrengung und Aufregung. Wilbur setzte sich ins Gras.

Conor öffnete die Kiste, deren Holz die Jahre nahezu schadlos überstanden hatte. Er hob die Stoßzähne daraus hervor und gab einen davon Wilbur, der das geschwungene Horn aus Elfenbein ungläubig betrachtete. Das Messing war fleckig geworden, aber das Fernrohr ließ sich noch öffnen, und nachdem beide hindurchgesehen hatten, nahm Conor das Taschenmesser in die Hand und ließ eine Klinge aufschnappen. Wilbur fasste es vorsichtig an, obwohl Orla ihm verboten hatte, mit Messern zu hantieren. Im Boden der Kiste war ein Loch, und die Patronen in den Schachteln, die sich in Conors Händen aufzulösen begannen, fühlten sich kalt an.

Wilbur ahnte, was sie noch finden würden, und er wusste, dass es zu spät war, dass sie den Deckel nicht zuklappen, die Kiste ins Loch zurückschieben und weggehen konnten. Er schloss die Augen und dachte an die Filme, die er gesehen hatte, und daran, dass die erschossenen Schauspieler nicht wirklich tot waren, weil in den Waffen keine richtige Munition und das Blut rote Farbe war. Und er dachte an die Zeitungsmeldungen, die er heimlich gelesen hatte, und in denen von Mord und Totschlag die Rede war, an die Bilder von Menschen, die richtig umgebracht worden waren und nicht mehr aufstehen, sich den Staub von den Kleidern wischen und weiterleben würden.

Er öffnete die Augen. Conor hatte das fettige Tuch auseinandergefaltet und starrte auf den Revolver, der darin lag.

Als Orla rief, zuckten Wilbur und Conor zusammen. Die beiden saßen auf dem Hügel neben dem Haus und dachten nach. Sie waren sich einig, niemandem etwas von der Kiste und deren Inhalt zu erzählen, und heimlich wog jeder für sich ab, ob diese Entscheidung richtig war. Natürlich hatten sie auch darüber gerätselt, wem die Kiste gehörte und wer sie im Dachsbau versteckt haben mochte, hatten angefangen zu phantasieren und sich gegenseitig mit Geschichten über Piraten, Spione, Bankräuber und desertierte Soldaten überboten. Conor hatte den Revolver mit beiden Händen festgehalten, hatte die Trommel ausgeschwenkt, durch die leeren Patronenkammern hindurchgesehen und den Abzugshahn gespannt, hatte die Trommel sich drehen lassen und zurückgeklappt, hatte mit dem Lauf in den Himmel gezielt und abgedrückt und dabei den Knall eines Schusses nachgeahmt.

Dann hatte er die Waffe Wilbur gegeben, der die Verzierungen im Metall und die Maserung des Holzes betrachtet und vorsichtig in den Lauf gespäht und sich gefragt hatte, ob daraus jemals eine Kugel abgefeuert worden war, um einen Menschen zu töten. Er hatte Conor diese Frage gestellt und ihm den Revolver zurückgegeben. Conor hatte kurz nachgedacht, mit den Schultern gezuckt, die Waffe sorgfältig in das Tuch und zusätzlich in die Wolldecke gepackt und in die Kiste gelegt. Weil sie nicht wussten, ob der Unbekannte noch lebte und ob er irgendwann kommen und sie holen würde, hatten sie die Kiste in die Höhle zurückgeschoben und den Eingang mit Erdklumpen und Grasbüscheln verstopft.

Orla rief ein zweites Mal, und sie gingen zum Haus, aßen in der Küche warmen Früchtekuchen, tranken Tee und hörten Radio. Danach schlug Orla vor, den Rest des Sonntagnachmittags damit zu verbringen, die seltsamste Baustelle in der ganzen Gegend zu besichtigen.

Der Bau war kein schöner Anblick. Auf einem Feld, etwa eine halbe Meile vom Schulhaus entfernt, stand ein Würfel, dessen steiles, nach Süden abgeschrägtes Dach aus Glasziegeln gerade genug Tageslicht ins Innere ließ, um die fehlenden Fenster wettzumachen. Am höchsten Punkt des Daches thronten zwei Tanks aus schwarzem Kunststoff, die von Weitem wie die Augen eines monströsen Insekts aussahen. Um den Rohbau herum lagen Sand-, Kies- und Erdhaufen und türmten sich Betonblöcke und Bretter. Unter einem Wellblechverschlag lagerten stapelweise weiße Kacheln und in Plastikfolie gewickelte Säcke mit Fliesenkleber und Fugenzement. Der Boden des Grundstücks war verschlammt und von Traktorspuren zerfurcht, Bäume, die Wurzeln freigelegt, standen schief und abgestorben vor einem Zaun, den ein Schild mit der handgemalten Aufschrift SCHWIMMEN HEISST LEBEN! überragte.

Während der Autofahrt hatte Orla den Jungen die Entstehungsgeschichte des Klotzes erzählt und dabei Zeitungsberichte, Dorfklatsch und eigene Erkundigungen vermischt. Fintan Taggart, ein Kind des Ortes, war als junger Mann nach Neuseeland ausgewandert, wo er seinen Lebensunterhalt als Rettungsschwimmer bestritten hatte, bevor er mit imitierter Maori-Kunst zu handeln begann und schließlich Vertreter für Gartenmöbel wurde. Als seine Mutter schwer erkrankte, kam er zurück nach Irland, gerade noch rechtzeitig, um seinen Vater zu beerdigen, der beim Angeln von einem Felsen ins Meer gestürzt und ertrunken war.

Fintan pflegte seine Mutter, die sich bald erholte, und schwor am Grab seines Vaters, etwas gegen den Umstand zu unternehmen, dass in Irland kaum jemand schwimmen konnte. Er wandte sich an Behörden und Politiker, schrieb an Zeitungen und gründete einen Verein mit dem imposanten Namen Irische Gesellschaft zur Förderung der Schwimmkultur. Er hielt Vorträge an Schulen und zog durch die Dörfer und sammelte Geld, um das erste Schwimmbad im County Donegal zu bauen und darin Kinder und alle, die es wollten, die Kunst des Nichtertrinkens zu lehren.

Obwohl sie selten in ihren Gewässern badeten und die Notwendigkeit des Schwimmenkönnens nicht immer begreifen wollten, brachten die Leute aus der Gegend dem unermüdlich für sein Projekt werbenden Mann eine gewisse Sympathie entgegen und trugen ihren Teil zur Errichtung des Gebäudes bei, der schon vor Baubeginn als Fintans Kirche der ertrunkenen Seelen lokale Berühmtheit erlangte. Jeden Tag kamen Neugierige, um einen Blick auf den fensterlosen Klotz zu werfen. Die meisten hatten Geld gespendet und wollten sehen, was damit geschah. Einige hatten Verwandte, Freunde oder Bekannte, die ertrunken waren, brachten neue Namen für die Liste, gaben Taggart ihren Segen und bekreuzigten sich beim Verlassen der Baustelle.

Orla hatte eine großzügige Summe gespendet, obwohl sie der fast religiöse Eifer des jungen Mannes, der vor mehreren Monaten an ihrer Tür geklingelt hatte, befremdete. Er hatte ihr eine Broschüre seines Vereins gegeben und bei einer Tasse Kaffee erklärt, was er mit seiner ehrenamtlichen Arbeit erreichen wolle, wobei er die Ausdrücke» ehrenamtlich«,»unbezahlt «und» in Gottes Lohn «so oft wiederholte, dass sie einen schrägen Klang annahmen. Er sprach von zerstörten Familien, tatenlosen Politikern und fehlender Information, nannte die Zahl der in den letzten zehn Jahren Ertrunkenen und zeigte Baupläne und ein paar Fotos von Wasserleichen. Er sprach hektisch und mit einem halb abgelegten Neuseelandakzent, der Orla auf die Nerven ging. Schließlich gab sie ihm einhundert Pfund und entzog sich nervös lachend seinem Versuch, sie in entfesselter Dankbarkeit zu umarmen. Als sie ihm nachblickte, wie er in der Rauchwolke verschwand, die sein museumsreifes Motorrad ausspuckte, konnte sie sich nicht gegen den Gedanken wehren, gerade gutes Geld in ein Loch geworfen zu haben.

Im Innern des unverputzten Kubus roch es nach brackigem Wasser und Kaffee. Die Hitze war kaum auszuhalten und ging von einem Brennofen aus, der in einer Ecke auf Eisenbahnschwellen stand. Neben dem Ofen türmten sich weiße quadratische Kacheln, an einer Wand hing ein zwei mal drei Meter großer Bogen Packpapier, der mit Namen und Daten vollgeschrieben war. Hinter einigen Namen hingen rote Häkchen wie umgedrehte Spazierstöcke. Auf einem Tisch stand eine elektrische Kochplatte, darauf eine Kanne Kaffee. Der Ofen knackte, entließ seufzend heiße Luft. In einem Blecheimer unter dem Holztisch verströmten leere Suppendosen und Milchtüten einen fauligen Geruch.

Fintan Taggart kauerte in einer rechteckigen Grube und legte Fliese um Fliese in den Leim, der eine winzige Fläche des rohen Betonbodens bedeckte. Die Wände waren ebenfalls unverputzter Beton und ließen jeden Atemzug des Mannes zum lauten Keuchen werden. Auf den Fliesen, die er verlegte, waren Namen, Geburts- und Todesdaten geschrieben, schwarz und mit Pinsel und geschützt von einer gebrannten Schicht aus klarer Glasur. Taggart war weder besonders groß noch muskulös und bis auf eine kurze rote Hose nackt. Seine Haut war von einem hellen Oliv, als bewahre sie einen Rest neuseeländischer Bräune. Er richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah zu Orla und Conor hoch, die an den Beckenrand traten, während Wilbur in der Nähe der Tür stand, durch die ein Stück Himmel zu sehen war, nicht größer als eine Fliese, und das Motorrad des Turnlehrers, eine neue Kawasaki, rot in der Sonne leuchtend.

Es war die letzte Woche der Sommerferien, und das schöne Wetter machte es Wilbur nicht leicht, an den nahenden Schulbeginn zu denken. Orla hatte ihn nach dem Mittagessen zu Colm gebracht, der auf ihn aufpassen sollte, während sie nach Letterkenny fuhr, um etwas zu besorgen, alleine, weil es ein Geheimnis war. Wilbur hatte darauf gedrängt, mitfahren zu dürfen, aber Orla hatte nur gelächelt und ihn auf den Abend vertröstet.

Nachdem Orla weg war, fuhr Colm mit Wilbur auf dem Traktor in den Ort, wo großer Markttag war. Bauern, Viehhändler, Trödler und Fahrende boten auf einem Parkplatz und einer angrenzenden Wiese ihre Waren an, ein Karussell drehte sich, gegen dessen Musik ein Akkordeonspieler ankämpfte, ein alter, als Pirat verkleideter Mann jonglierte mit Schwertern, in einem eiförmigen Wohnwagen empfing eine Handleserin ihre Kundschaft.

Orla hatte Wilbur etwas Geld gegeben, und als erstes kaufte er sich eine Portion Eis und eine Baseballkappe mit dem Schriftzug einer Traktorenfirma. Dann ging er neben Colm an den Ständen entlang, aß sein Eis und war enttäuscht von den Dingen, die ihm geboten wurden. Zwei dicke Frauen standen vor mehreren langen Kleiderständern auf Rollen, an denen Blusen, Röcke und Hosen in schreienden Farben hingen. Ein Mann saß hinter Stapeln von Musik- und Videokassetten und betrach tete ratlos einen Ghettoblaster, der den Geist aufgegeben hatte. Wortkarge Männer warteten neben Kisten voller Werkzeug, Ersatzteilen, Kabeln und Drähten, Bolzen und Schrauben und Muttern auf andere wortkarge Männer. Ein Mann und eine Frau aßen an einem Campingtisch zu Mittag und verhandelten zwischen zwei Bissen über den Preis von Teppichen und Gummistiefeln. Ein dösender Mann hockte inmitten von Möbeln, die weder antik noch modern, sondern auf eine tragische Weise zeitlos waren. Lampen wurden aus einem Lieferwagen, Hundewelpen aus einem Kofferraum verkauft. Eine Bauersfrau rief schüchtern das Wort Käse, und zwei kleine Mädchen schienen die Hoffnung verloren zu haben, ihre auf Zeitungen ausgelegten Spielsachen noch loszuwerden.

Wilbur, der mit Orla durch die Kaufhäuser Dublins gestreift war, empfand den Markt als schlechten Witz, erstand dann aber doch eine Kassette mit Sinatra-Songs für Orla, ein winziges Taschenmesser an einem Schlüsselanhänger für Conor, und ein mit Glitzersteinen verziertes Feuerzeug für Colm.

Als sie zu der Wiese kamen, dem Revier der Viehhändler mit ihren Lastwagen, Jeeps und Anhängern, sahen sie Conors Mutter, die neben ein paar Pferden stand und mit einem Mann in Stiefeln, Hut und grauem Anzug sprach. Sie gingen zu ihr hin, und sie erzählte ihnen aufgeregt, sie habe gerade ein Pferd für Kieran gekauft. Dabei streichelte sie den Hals des braun und weiß gescheckten Tieres, dessen Stirn ein weißes Karo zierte und das mit einem Strick an einen Lastwagen gebunden war. Colm sah sich fachmännisch das Gebiss und die Hufe der Stute an und befand dann, Aislin habe eine gute Wahl getroffen. Er schlug vor, den Anhänger zu holen, in dem er seine Kühe, Kälber und Schafe transportierte, und Aislin nahm dankbar an.

Während Colm, der froh war, dem traurigen Trubel zu entfliehen, nach Hause fuhr, setzte Aislin Wilbur auf das Karussell und löste fünf Fahrten im Voraus. Wilbur saß im Flugzeug, dessen Körper silbrig funkelte, aber schon nach zwei Runden wurde ihm schwindlig und er wollte nicht mehr. Aislin ging mit ihm über die Wiese, und sie sahen sich die Kühe an, die Bullen und Kälber, warfen einen Blick in die Verschläge mit den Schweinen und Ferkeln und in die Käfige, in denen vor Hitze ermattete Hühner, Enten und Gänse hockten. Schafe dösten in Anhängern oder auf provisorisch eingezäunten Wiesenstücken, ein paar Esel ließen sich geduldig taxieren, und in einem Plastikzuber schwammen Entenküken herum wie Aufziehspielzeug. Ein Bauer setzte einen kleinen weinenden Jungen auf einen Esel, und Aislin erzählte Wilbur, wie glücklich Kieran immer sei, wenn er reiten dürfe.

Weil es noch eine Weile dauern würde, bis Colm mit dem Anhänger kam, und weil Wilbur ein Rest Geld in der Tasche brannte, nahm er allen Mut zusammen und beschloss, die Wahrsagerin zu besuchen. Aislin, die nichts von Kartenlegen, Kristallkugeln und Kaffeesatz hielt, wollte draußen warten und nach Colm Ausschau halten. Wilbur bat sie, nach ihm zu sehen, falls er in zehn Minuten nicht wieder erscheinen würde, und Aislin lachte, bis sie merkte, dass er es ernst meinte.

Das Innere des Wohnwagens war mit dunkelblauer Farbe gestrichen, aus der gelbe Papiersterne leuchteten, die Fenster waren mit Tüchern verhängt, und aus einem Kassettenrekorder drang leise Musik. Es war heiß in diesem Ei, in dem die Frau zusammengekrümmt saß, einem Küken gleich, das nie geschlüpft war. Sie winkte Wilbur heran und bedeutete ihm, vor ihr Platz zu nehmen. Wilbur setzte sich auf den Hocker und legte den Betrag, den draußen ein Schild verkündete, in die mit Sternen aus Goldfolie beklebte Glasschale. Die Frau, die trotz der Hitze in mehrere Lagen bunter Tücher gehüllt war und deren Gesicht ein schwarzer Schleier verbarg, steckte das Geld ein und verlangte dann mit einer knappen Geste nach Wilburs Hand. Wilbur legte beide Hände mit der Innenfläche nach oben auf das rote Kissen und spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren drang. Die Frau beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.

Weil sie noch keinen Ton von sich gegeben hatte, fragte Wilbur sich nach einer Weile, ob sie vielleicht eingeschlafen oder in der Hitze ohnmächtig geworden sei. Aber dann entströmte der Frau ein Seufzer, der den Stoff des Schleiers vor ihrem Mund bewegte, und sie hob den Kopf und sah Wilbur an. In ihren Augen hinter dem Vorhang aus schwarzem Stoff glaubte er Kummer zu erkennen. Er wollte fragen, was los sei, brachte aber keinen Ton hervor. Seine Lungen waren gefüllt mit abgestandener Luft. Die Frau griff in ihren Schoß und reichte Wilbur sein Geld.

«Geh«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, freundlich, eine Spur Traurigkeit lag in ihr.»Geh«, wiederholte sie ein wenig fordernder, als Wilbur sich nicht rührte. Sie machte eine Handbewegung, als wische sie Krümel von einer Buchseite, und ließ sich in ihren Sessel sinken, zurück in die Dunkelheit.

Wilbur betrachtete seine Handfläche, in der die Geldstücke lagen, erhob sich schließlich und ging hinaus. Geblendet vom Licht, stolperte er auf den Stufen, und die Münzen fielen klimpernd zu Boden und rollten davon, unter geparkte Autos und den Wohnwagen. Wilbur ließ sie liegen. Er rieb sich die Augen, sah gelbe Sterne. Er war so durstig wie nie zuvor in seinem Leben. Aislin stand in einiger Entfernung und winkte Colm zu, der sich durch die Leute schlängelte. In einem Baum saßen Krähen. Ein Luftballon stieg empor, Kinder riefen. Wilbur sah ihm nach, er war blau und bald verschwunden, wie aufgelöst in der Farbe des Himmels.

Als der Traktor auf dem Gelände des Sägewerks hielt, wieherte das Pferd und scharrte unruhig auf dem Bodenblech. Die Maschinen standen still, und Sean und die Männer kamen, um zu sehen, was Colm da brachte. Aislin und Wilbur hatten auf dem Markt einen Sattel und Zaumzeug und unterwegs zwei Säcke Hafer gekauft, jetzt hielten sie neben dem Anhänger, aus dem Colm das Pferd führte.

«Was wird das, wenn’s fertig ist?«wollte Sean wissen. Er sah das Pferd nicht an, nur seine Frau.

«Das ist Kierans Pferd«, sagte Aislin und tätschelte das Fell des Tieres.

Fiona kam mit ihrer Puppe aus dem Haus. Conor, der auf sie aufgepasst hatte, folgte ihr. Wilbur und Conor nickten einander zu.

«Dass es keine Kuh ist, sehe ich auch«, sagte Sean. Einer der Männer, Owen Hegarty, ein einfacher Mann ohne Träume, lachte und hustete. Sean scheuchte die Arbeiter mit einem Blick zurück in die Halle.»Was sollen wir damit?«

«Habe ich doch gesagt, es ist für Kieran«, sagte Aislin.

«Für Kieran? Bist du übergeschnappt? Was soll Kieran mit dem Gaul?«

«Reiten«, sagte Aislin. Sie legte dem Pferd das Zaumzeug an. Colm half ihr dabei.

«Reiten?«Sean lachte auf.»Er kann nicht mal geradeaus gehen! Wie soll er da reiten?«

«Dein Sohn kann sehr wohl reiten«, sagte Aislin ruhig.»Wenn du einmal mitgekommen wärst und ihn gesehen hättest, wüsstest du es.«

«Kann ich auch auf ihm reiten, Ma?«fragte Fiona, hielt aber einen sicheren Abstand zu dem Pferd, das sich beruhigt hatte und auf dem Hafer kaute, den Colm ihm in der Handfläche vor das Maul hielt.

«Natürlich, Schatz«, sagte Aislin.

«Conor, geh mit deiner Schwester ins Haus!«Sean zeigte mit gestrecktem Arm auf das Haus. Conor rührte sich nicht vom Fleck und schloss seine Hand fester um die von Fiona.

«Wie heißt es?«fragte Fiona. Sie ignorierte ihren Vater mit der Respektlosigkeit einer Dreijährigen, die von einem drohenden Streit nichts ahnt.

«Joy«, sagte Aislin.

Fiona, noch immer an der Hand ihres Bruders, ging zu dem Pferd hin und berührte es mit den Fingerspitzen.»Joy«, sagte sie leise, und das Pferd nickte. Als der Motor der Bandsäge ansprang, schnaubte das Tier erschrocken und tänzelte nervös auf der Stelle. Aislin tätschelte seinen Hals und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr.

«Conor, ich hab gesagt, du sollst mit deiner Schwester ins Haus gehen!«brüllte Sean. Er packte Conor an der Schulter und schob ihn vom Pferd weg. Fiona stolperte. In Conors Augen lag blanker Hass. Sein Vater starrte Conor für den Bruchteil einer Sekunde verwirrt an und stieß ihn dann mit der Handfläche hart gegen die Brust.»Jetzt!«

Conor strauchelte rückwärts, ohne seine Schwester loszulassen, und ging ins Haus. Blut rauschte in seinen Ohren, sein Herz hämmerte. Fionas Weinen kam von weit her, obwohl sie an seiner Hand ging. Das Haus war leer und dunkel und kam Conor so fremd vor, dass er im Flur stehenblieb und sich verwirrt umsah, bevor er hinauf in sein Zimmer ging. In der Küche lief das Radio, vor dem Conor und Fiona eben noch gesessen hatten, Werbung plärrte. In seinem Zimmer ließ Conor die Hand seiner weinenden Schwester los, öffnete den Kleiderschrank und kniete sich hin, um die hinter Schuhen und Schachteln verborgenen Winterstiefel hervorzuholen, in denen der Revolver und die Munition lagen. Er schob die Patronen im Dunkel des Schrankes in die Kammern, klappte die Trommel zurück, schob die Waffe unter das Hemd und erhob sich. Er nahm Fiona wieder an der Hand und führte sie ins Badezimmer, strich ihr über den Kopf, ging hinaus und sperrte die Tür zu. Fionas Weinen wurde zum panischen Schreien und vermischte sich, während Conor die Treppe hinunterging, mit der einfältig fröhlichen Musik aus dem Radio.

Das Sonnenlicht ließ ihn in der offenen Tür verharren, er hörte die Stimmen seiner Eltern und die von Colm, darüber lagen der Lärm der Säge und das aufgeregte Wiehern des Pferdes. Er nahm keine Worte wahr, nur diesen Lärm, der ihn traf wie die Hitze, und er umfasste den Griff des Revolvers mit beiden Händen und ging auf seinen Vater zu. Colm sah die Waffe als erster und rief etwas, öffnete zumindest den Mund. Er hob die Arme, seine Bewegungen waren langsam, verloren sich im Licht, das Conor nichts mehr sehen ließ außer seinen Vater, die dunkle Gestalt, die das Pferd in den Anhänger zerrte und es mit einer Holzlatte auf die Flanke schlug.

Aislin sah den Revolver, begriff erst nicht und starrte Conor an. Dann entfuhr ihr ein Schrei, höher als das wütende Singen des Sägeblatts, das sich durch einen Baumstamm fraß, sie taumelte auf ihren Sohn zu, und wie in völliger Dunkelheit streckte sie die Hände nach ihm aus. Conor hielt den Griff mit beiden Händen fest und hob die Arme, zielte mit dem Lauf auf seinen Vater. Als Sean sich umdrehte, sah Conor ihm ins Gesicht und drückte ab.

Die Stille nach dem Knall war ein Vakuum, das jedes andere Geräusch schluckte, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt verschwand. Conor hörte nichts mehr, nicht den Schrei seiner Mutter, nicht Colms Ruf und nicht das Trampeln des Pferdes, das über den Hof zur Straße galoppierte, und auch nicht den langen, seufzenden Atemzug seines Vaters, als er auf die Erde fiel.

Orla war zu Hause und bei Colm gewesen und fuhr jetzt in den Ort. Colm hatte ihr gesagt, dass er mit Wilbur den Markt besuchen würde, und sie nahm an, dass die beiden vor Dempsey’s Pub in der Abendsonne saßen und Limonade tranken. Sie konnte es kaum erwarten, Wilbur zu sehen und ihm die Überraschung zu präsentieren. Während sie an der Küste entlangfuhr, sang sie laut den Refrain eines Liedes mit, das sie am Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Das Licht über den Hügeln wurde schwach, als ob es von den Wolken aufgesaugt würde wie Jod von Wattebäuschen. Böen kraulten grob das Gras auf den Feldern und fuhren in Baumkronen, die sich blähten. Das Meer war unruhig und von einer Helligkeit, als sei die Oberfläche ein Schwarm aus Fischen, die das letzte Licht auf ihren Rücken trugen. Weit vorne berührte das Tintenblau die Erde, dort regnete es schon.

Orla sah das Pferd nicht, das vor ihren Wagen rannte. Vielleicht hätte sie sich an sein weißes Fell mit den braunen Flecken erinnert, an die helle Mähne, die im Wind flatterte, an die Bewegung des Körpers, die einfror wie manchmal das Bild auf der Leinwand im Dubliner Kino, bevor endlich ein neuer Projektor angeschafft worden war. Wahrscheinlich wäre ihr der Refrain des Liedes, das sie in der Sekunde des Zusammenpralls gesungen hatte, nie mehr aus dem Kopf gegangen, eine endlos kreisende Hymne auf die Willkür des Schicksals, den Zynismus des Zufalls.

Das Autoradio lief noch, als Conor McGonigle mit seinem fünfundzwanzig Jahre alten Lieferwagen an der Unfallstelle hielt. Als junger Bursche war er im Krieg gewesen, hatte mit Deutschland gegen die Engländer gekämpft, war verwundet worden und erst mit dreißig aus amerikanischer Gefangenschaft freigekommen. Keinen einzigen Engländer hatte er getötet, dafür italienische Partisanen, gegen die er nichts hatte. Als er zum ersten Mal tote Frauen gesehen hatte, war er desertiert. Jetzt stand er vor dem himmelblauen Auto und zwang sich, nicht wegzurennen wie damals. Es kostete ihn seine ganze Überwindung, Orlas blutigen Arm zu berühren, um ihren Puls zu fühlen, der unter seinen Fingern schwächer wurde und schließlich erlosch. Orlas Oberkörper lag auf der Kühlerhaube des Nissan, ihre Beine verschwanden im Wagen. In blutigen Strähnen floss ihr Haar vom Kopf, kringelte sich an den Spitzen auf dem warmen Blech. Glassplitter glitzerten im Scheinwerferlicht von McGonigles Lieferwagen. Das Pferd lebte, sein Bauch hob und senkte sich, es schnaubte beim Atmen. Immer wieder warf es den Kopf herum und sah mit aufgerissenen Augen den alten Mann an. Es lag in einer Lache aus schwarzem Blut, das nicht trocknete, weil ständig neues aus einer unsichtbaren Wunde kam.

McGonigle wollte die Musik ausmachen, aber die Türen an Orlas Wagen ließen sich nicht öffnen, und durch die geborstene Windschutzscheibe zu fassen, brachte er nicht fertig. Er setzte sich in seinen klapprigen Ford und drückte mit beiden Händen auf die Hupe. Jetzt verschwand alles Licht, und der Regen spülte das Blut davon. Der Wind hörte auf zu wehen. Das Autoradio wurde leiser, das Prasseln der Regentropfen auf dem Blech zum sanften Lärm. McGonigle schloss die Augen und betete. Irgendwann würde jemand kommen, um zu helfen, obwohl es nichts zu helfen gab.

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