North, 1994

Als Wilbur zum ersten Mal vom Mooread-Stipendium für junge Musiker hörte, wusste er nicht, was er davon halten sollte. Matthew zeigte ihm ein Dossier mit Zeitungsausschnitten, einer Broschüre und Bewerbungsformularen. Sie saßen am Tisch, im Hintergrund lief Dvořáks Konzert für Cello und Orchester in h-Moll, und es gab Tee und Kekse, die Pauline Conway gebacken hatte. Die Broschüre war edel, auf ihrem Umschlag prangte ein Wappen, ein Schild mit vier trompetenähnlichen Instrumenten, zu beiden Seiten gehalten von sich aufbäumenden Einhörnern, darunter stand in schattierten Großbuchstaben MOORHEAD FOUNDATION und das Gründungsjahr, 1911. Die erste Seite zeigte den Gründer der Stiftung, Geofrey T. Moorhead, einen ernst in die Kamera blickenden Mann mit Schnurrbart und Stehkragen, der umständlich eine Geige samt Bogen und ein Notenheft in den Händen hält. Auf den nächsten Seiten waren die Mitglieder des Auswahlgremiums abgebildet, Männer und Frauen in fortgeschrittenem Alter, Musiker, Komponisten, Dirigenten. Eine berühmte Opernsängerin war dabei, die zu Beginn ihrer Laufbahn Moorhead-Stipendiatin gewesen war und in einem kurzen Text ihre Dankbarkeit für die großzügige Förderung zum Ausdruck brachte.

Matthew ließ Wilbur in Ruhe alles lesen. Er wusste, dass der Junge eine Begabung hatte, wie man ihr nur selten begegnete. Mit vierzehn spielte er, wie außerordentlich talentierte Achtzehnjährige spielten, mit zwanzig würde er gestandene Cellisten wie Anfänger aussehen lassen. Wilbur lernte nicht Cello spielen, das Instrument war ein lebendiges Wesen, ein Zwillingsgeschöpf, das dem Jungen mit Klängen in Fleisch und Blut überging, ihn mit Tönen besetzte, zurückeroberte. Es füllte Räume in ihm und ließ ihn von innen leuchten.

Matthew wusste von Wilburs Mutter und Orla, aber er konnte nur ahnen, was diese Ereignisse mit dem Jungen gemacht hatten. Er selber war erwachsen gewesen, als seine Eltern starben, und ein Mann, als ihm das Kind genommen wurde. Er hatte gelitten und war darüber hinweggekommen. Er hatte im Kreis von Agnes und Stuart und einem Haufen herrenloser Hunde mit dem Schicksal einen wackligen Frieden geschlossen und seither auf neue Schläge gewartet, die jedoch ausgeblieben waren. Der Schmerz war noch da, aber im Lauf der Zeit zu einem melancho lischen Phantasieren und wehmütigem Heraufbeschwören von Bildern eines erwachsenen William geraten, zu stummen Zwiegesprächen und entrückten Nachmittagen über Fotos und Kinderzeichnungen. Matthew war nicht wunschlos glücklich, aber weit entfernt von Hoffnungslosigkeit. Er lebte, er hörte Musik und las Bücher, und er hatte Wilbur, auch wenn er den Jungen nur als Leihgabe des Himmels betrachtete.

Er hatte sich vorgenommen, seinen Freund ein Stück weit zu begleiten und ihn dann gehen zu lassen. Dass der Abschied möglicherweise näher rücken würde, wenn er in Wilbur den Ehrgeiz weckte, ein Moorhead-Stipendium zu erhalten, war ihm bewusst. Es fiel ihm schwer, sich an die Zeit vor Wilburs Auftauchen zu erinnern, und die Vorstellung, die kommenden Jahre ohne ihn verbringen zu müssen, löste Bestürzung bei ihm aus und Angst vor erneuter Einsamkeit. Trotzdem zeigte er Wilbur die Unterlagen. Die Gewissheit, dass Wilburs Talent der Welt gehörte, bewegte ihn dazu. Das und Stolz und grenzenlose Liebe.

Wilbur und das Cello waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar. Er liebte dieses Instrument, und wenn er spielte, verschwand er in dessen hölzernem Bauch. Die Griffe, die Fingerbewegungen am Brett, der Druck auf die Saiten, die Züge des Bogens, alles hatte sich in den vergangenen Monaten wie von selbst ergeben. Alles hatte sich zusammengefügt, die Teile ergaben jetzt ein Bild, in dem er sich erkannte, ein verborgenes Lächeln im Gesicht. Zu bestimmen, wie gut er war, fiel ihm schwer. Er hatte die Schallplatten, verglich sein Spiel mit dem Gehörten und verließ sich auf Matthews Urteil. Den Ansprüchen einer Jury zu genügen erschien ihm dennoch äußerst unwahrscheinlich. Trotzdem füllte er die Fragebögen aus, überzeugt, nicht angenommen zu werden, und im Glauben, Matthew Fitzgerald etwas schuldig zu sein.

Matthew steckte die Formulare in einen Umschlag und legte sie auf die Kommode neben der Haustür. Wenn Pauline die nächste Dose mit Keksen brachte, würde er sie bitten, die Papiere als gesetzliche Vertretung zu unterschreiben. Er wusste, wie hochgesteckt ihre Ziele mit Wilbur waren, und zweifelte keine Sekunde an ihrem Einverständnis.

Als Wilbur später aus dem Gedächtnis Passagen des Dvořák-Konzerts spielte, traten Matthew Tränen in die Augen. Wilbur setzte den Bogen ab und fragte besorgt, ob etwas nicht stimme. Matthew sagte, er solle weiterspielen, es sei nur die Rührung über die Musik, die ihn erfasst habe. Dass er jetzt schon um Wilbur weinte, wollte er dem Jungen nicht sagen. Er saß in seinem Sessel versunken da und hörte zu, die Augen geschlossen. Im Garten verlor sich das Licht des Tages, ein leichter Wind begleitete Wilburs Spiel mit Blätterrauschen und dem leisen Knarren der Schuppentür. Matthews Kopf leerte sich, um überschwemmt zu werden mit Klängen. Er griff danach, versuchte sie festzuhalten. Dass seine Hände sich im Fell der Katze verkrallten, merkte er erst, als das Tier fauchend von seinem Schoß sprang und aus dem Zimmer rannte.

Obwohl Wilbur ihre Existenz leugnete, gab es außerhalb des Hauses, in dem er mit Matthew und dem Cello die Zeit vergaß, noch immer eine Welt. Es gab Pauline und Henry Conway und sein offizielles Zuhause, es gab die Sonntage des Vorlesens und die neue Schule in Letterkenny. Und noch immer gab es die Mitschüler, die bis auf wenige mit ihm versetzt worden waren und die Wilbur seit dem Weihnachtskonzert noch mehr als Außenseiter behandelten. Sein Erfolg in der Kirche verstärkte den Neid der übrigen Kinder, und obwohl er eine gewisse Immunität entwickelt hatte, war für ihn jeder Schultag eine Qual.

Nur Erin Muldoon behandelte ihn nicht wie einen Aussätzigen. In den Pausen setzte sie sich sogar ab und zu neben ihn und stellte ihm Fragen. Sie wollte wissen, was genau er beim alten Fitzgerald mache, wie er sich als Waisenkind fühle, ob er noch wachsen würde und wie es gewesen sei, als Conor auf seinen Vater schoss. Weil Wilbur keine oder nur äußerst knappe Antworten gab, redete Erin die meiste Zeit selber. Sie erzählte von ihrer großen Schwester, von einem Auto, das sie sich einmal kaufen würde, von Filmen, die sie gesehen, und den Jungs, die sie geküsst hatte.

Wilbur interessierte sich nicht für Erins Geschwätz, aber wenn er alleine auf der Mauer saß und sie über den riesigen, mit Basketballkörben und Sitzbänken ausgestatteten Pausenhof beobachtete, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, von ihr geküsst zu werden. Erin Muldoon war nach Sharon Brennan das schönste Mädchen an der Schule, jedenfalls in ihrer Altersklasse. Das war auch der Grund, weshalb es sie nicht kümmerte, was die anderen von ihr dachten, wenn sie mit Wilbur redete. Die Jungs waren verrückt nach ihr und wussten, dass Wilbur keine Konkurrenz darstellte. Und die Mädchen, alle darum bemüht, etwas von ihrem Glanz abzubekommen, ließen ihr Wilbur als Laune durchgehen, als exzentrische Pausenbeschäftigung, mit der sie sich amüsierte, natürlich auf Wilburs Kosten.

Wilbur mochte seine neuen Lehrer nicht, weder den dicken, nuschelnden Mr. O’Riordan noch den eitlen Mr. Loughrey, der sich durch Wilburs Intelligenz herausgefordert fühlte und seinem Musterschüler in jeder Unterrichtsstunde so viele Fragen stellte, bis dieser endlich, und meist absichtlich, eine falsche Antwort gab. Sympathien hegte Wilbur nur für Miss Cullen, die junge Englischlehrerin, die dünn und bleich wie er selber war und vor der Klasse so gehemmt, dass sie kaum je den Blick aus den Büchern hob, geschweige denn die Stimme, wenn sie etwas vorlas. Fintan Taggart war weit weg, an seiner Stelle versuchte jetzt Pat Harrahill, aus dem kleinsten und schmalsten Jungen der Schule einen kräftigen Kerl zu machen. Dabei schikanierte der achtfache Vater Wilbur nicht, sondern behandelte ihn wie den Lieblingssohn, den es auf Vordermann zu bringen galt. Seine ruppige Fürsorge und aufmunternden Worte änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass Wilbur zu klein und schwach für Mannschaftsspiele war und nie freiwillig in ein Team gewählt wurde. Auch ein eigens für das Sorgenkind ausgearbeiteter Aufbauplan fruchtete wenig, und als Wilbur nach einem halben Schuljahr beim Völkerball am Kopf getroffen wurde und ohnmächtig niedersank, sah Pat die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ein und befreite Wilbur vom regulären Sportunterricht.

Weil Sport auf dem Unterrichtsplan stand, musste Wilbur, zusammen mit dem halbblinden Ewan Swann und Jack O’Rourke, der einen Klumpfuß hatte, unter der Anleitung von Harrahills schwangerer Frau Caitlin zwei Stunden pro Woche ein leichtes Gymnastikprogramm in der alten Turnhalle absolvieren. Sie erfanden Spiele wie Medizinballrodeo, Mattenkullern und Bankrobben, und Wilbur bastelte einen Klingelball. Wenn das Wetter schön war, gingen sie einfach spazieren, manchmal hüpften sie in der Halle herum und stießen Tierlaute aus. Die Mitschüler nannten sie das Krüppel-Trio, aber Wilbur kümmerten ihre Anfeindungen schon lange nicht mehr. Eine Stunde mit der lauten, fröhlichen Caitlin, die regelmäßig Süßigkeiten mitbrachte und auf einem Kassettengerät Rockmusik abspielte, war tausendmal besser als eine Sekunde in Taggarts verfluchtem Tempel.

Miss Fergusons Stolz auf ihren ehemaligen Schüler Wilbur Sandberg blieb auch nach dessen Fortgang ungemindert. In der Kirche war sie nach seinem musikalischen Vortrag aufgesprungen und hatte so hingerissen applaudiert, dass einige der Anwesenden fanden, ihr Verhalten sei dem Anlass nicht ganz angemessen. Dabei hatte sie sich sogar zurückgehalten und dem Verlangen, nach vorne zu stürmen und Wilbur abzuküssen, nicht nachgegeben. Ihrer Schwester, die in England lebte, erzählte sie am Telefon seit Monaten nur noch von dem kleinen Wunderknaben, der seine überragende Intelligenz nun auch noch mit anbetungswürdigem Cellospiel krönte. Nach dem Unterricht hatte sie Wilbur einmal gebeten, Fotos von ihm machen zu dürfen, damit das Objekt ihrer Hymnen auch in Liverpool ein Gesicht erhielt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie Wilbur Sandberg vergötterte und vermisste, und niemanden in Portsalon hätte es verwundert, wenn sie eines Tages eine selbstgefertigte Büste des Jungen auf ihr Pult gestellt hätte.

In den Wochen, bevor sie ihren Liebling an die neue Schule verlor, behielt sie ihn nach dem Unterricht öfters zurück, um ihm zu versichern, wie sehr sie seinen Fleiß und seine Begabung bewunderte und wie sehr sie sich wünschte, noch mehr Schüler wie ihn zu haben. Sie meinte, Wilbur solle sich die täglichen Gemeinheiten der Klassenkameraden nicht zu Herzen nehmen und prophezeite ihm eine Zukunft, die glorreicher sei als die aller Nichtsnutze der Portsalon National School zusammen. Dann sah sie nach, ob die anderen Kinder das Schulgelände verlassen hatten, und schickte Wilbur, wenn die Luft rein war, nach Hause. Oft stand sie noch am Fenster, obwohl sie den Jungen längst nicht mehr sehen konnte, und weinte still vor sich hin.

Jemand rief aus dem Heim an, in dem Eamon untergebracht war. Es gehe ihm jeden Tag schlechter, wer ihn noch lebendig sehen wolle, verliere besser keine Zeit. Pauline meinte, es sei Wilburs Pflicht, seinen Großvater ein letztes Mal zu besuchen. Möglicherweise habe er nach seinem Enkelsohn gefragt, und wenn ihm dieser letzte Wunsch nicht erfüllt werde, finde er im Jenseits keine Ruhe, während Wilbur sich im Diesseits ewig Vorwürfe machen werde. Henry sah die Sache pragmatischer und erklärte Wilbur, es sei im Hinblick auf ein Testament nicht ratsam, Eamon McDermott auf dem Totenbett zu verstimmen. Aber Wilbur wollte diesen alten verrückten Mann nicht sehen, so nah am Tod schon gar nicht. Er brachte vor, üben zu müssen wegen des Moorhead-Stipendiums, eine baldige Einladung zum Vorspielen sei nicht auszuschließen.

Er bat Matthew um Hilfe, aber auch der konnte nichts für ihn tun, und so saß Wilbur eine Woche später auf dem Rücksitz des polierten Wagens und hörte während der ganzen Fahrt Pauline und Henry zu, die sich nicht einigen konnten, welches der einfachste Weg nach Milford sei. Weil Pauline sich stets durchsetzte und Henry keinen Orientierungssinn besaß, verfuhren sie sich auf den zwanzig Kilometern dreimal.

Als sie ankamen, goss es in Strömen aus einem bleigrauen Himmel. Das Heim, ein dreigeschossiges Hauptgebäude und zwei flache Nebentrakte, stand etwas entfernt von zahllosen identischen Einfamilienhäusern auf einem riesigen Feld am Ortsrand. Während Henry umständlich einparkte, steckte Wilbur sich den Finger in den Hals, aber er hatte nichts gefrühstückt, und so blieb auch der letzte Versuch, sich vor dem Wiedersehen zu drücken, erfolglos. Pauline strich ihm die Haare glatt und nahm ihn unter den Schirm, während Henry, den Mantel über den Kopf gezogen, zum Eingang rannte.

Eine Angestellte führte sie zu Eamons Zimmer. Auf Paulines Frage, ob Mr. McDermott nach seinem Enkelsohn verlangt habe, antwortete die Frau, er spreche schon seit Monaten kein Wort mehr. Wilbur wollte das zum Anlass nehmen umzukehren, aber Henry bestand darauf, den weiten Weg nicht umsonst gefahren zu sein. Die Frau klopfte an Eamons Tür und trat ein. Henry schob Wilbur vor sich her, Pauline hielt sich im Rücken ihres Mannes.

Im Zimmer roch es nach dem Mittagessen, das hier um elf serviert wurde, und Wilbur bildete sich ein, einen Hauch von Urin wahrzunehmen. Als die Frau Eamon mit lauter Stimme den Besuch verkündete, zuckte Pauline zusammen, aber der alte Mann bewegte keinen Muskel. Er saß vor dem einzigen Fenster des Raumes, schien jedoch nicht hinauszusehen. Eamon McDermott war mager geworden, kleiner, weniger. Wilbur erkannte seinen Großvater kaum noch. Der Mann, der einmal sein Feind gewesen war, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Riesen, dessen Schatten damals einen ganzen Raum verdunkelte.

Eamons Körper steckte in einem bordeauxroten Hausmantel. Aus den Hosenbeinen ragten nackte Füße, aus den Hemdärmeln fleckige Hände, die Finger starr gekrümmt. Vergilbtes Haar wuchs aus seinem Schädel, die Ohren waren welk, die Augen trüb und halb verdeckt unter hängenden, faltigen Lidern. Sein Atem war ein leises Ächzen, hörbar nur in der kurzen Stille, die entstanden war, nachdem die Frau das Zimmer verlassen hatte.

Henry redete verlegen und hastig auf Eamon ein, stellte sich und Pauline vor, nahm sogar die Hand des Alten und schüttelte sie vorsichtig, als könnten die Finger zerbrechen, die knotig unter der Haut verlaufenden Sehnen reißen. Pauline legte ihm eine Dose auf den Schoß und ließ nicht unerwähnt, dass sie die Kekse selber gebacken hatte. Eine Weile warteten beide auf eine Reaktion, aber Eamon starrte nur vor sich hin. Schließlich schlug Henry vor, Wilbur eine Weile mit seinem Großvater alleine zu lassen. Bevor Wilbur widersprechen konnte, eilten Henry und Pauline aus dem Zimmer.

Wilbur stand da und sah den alten Mann an. Er fühlte sich mit ihm nicht verwandt. Aber noch weniger fühlte er sich den Conways zugehörig, und so blieb er im Zimmer und wartete, dass die Zeit verging, die Pauline ihm einberaumt hatte. Er ging zur Kommode, die neben dem Bett stand, und nahm, als Eamon ihm keine Beachtung schenkte, die darauf liegende Armbanduhr in die Hand. Es war eine schwere mechanische Citizen mit Leuchtziffern, Datumsanzeige und Mondphasenkalender. Das Glas war stumpf, aber ohne Kratzer, und das braune Lederband rissig und an der Innenseite schwarz und glänzend. Wilbur dachte an die Uhr, die Orla ihm in Dublin gekauft hatte und die ihm während des Schwimmunterrichts in Taggarts Tempel gestohlen worden war, vielleicht von Fintan Taggart selber. Wochenlang hatte er es geschafft, sein Handgelenk mit der fehlenden Uhr vor ihr zu verbergen, aber dann hatte Orla es eines Tages doch bemerkt. Weil er weder mit Taggart noch seinen Mitschülern Schwierigkeiten wollte, erzählte er ihr, er habe die Uhr verloren. Orla glaubte ihm und kaufte ihm Tage später in Letterkenny eine neue. Er trug sie seit dem Begräbnis nicht mehr, nach Orlas Tod war ihm das Festhalten von Zeit gleichgültig geworden.

Daran dachte er, während er Eamons Uhr in der Hand hielt. Daran und an Deirdre, die bei der Beerdigung ihrer Schwester so heftig geweint hatte, dass Mr. Brennan sie zu einer Bank geleiten musste, wo sie sich hinsetzte. Colm hatte einen schwarzen Anzug getragen, in dem er verloren aussah und fremd. Miss Ferguson war unter den Trauergästen gewesen, auch der alte McSweeney und Trevor O’Reilly erwiesen ihrer ehemaligen Kundin die letzte Ehre. Ein starker Wind hatte an den Mänteln gezerrt und die Soutane des Pfarrers aufgebläht. Der Regen war erst in der Nacht gekommen, als Wilbur im Bett lag und für sich die Frage des Pfarrers beantwortete, warum der Herr ausgerechnet Orla zu sich genommen habe. Weil Gott ein böser alter Mann ist, hatte Wilbur geflüstert, deshalb war Orla tot und nicht dieser verrückte Alte.

Wilbur spielte mit dem Gedanken, die Uhr einzustecken, stellte sich vor, wie er sie mit einem Stein zertrümmerte, aber dann legte er sie wieder hin.

Eamon saß da und rührte sich nicht. Was für eine Verschwendung, dachte Wilbur, ein schlagendes Herz, sich füllende und leerende Lungen, all das Blut, das durch einen nutzlosen Körper floss.

«Ich hasse dich«, sagte er zu dem alten Mann. Eine Weile stand er hinter ihm und wartete, ob sein Großvater eine Regung zeigen würde. Manchmal bewegten sich die dünnen Finger, oder das sirrende Atemgeräusch wurde lauter, dann war er wieder eine bloße Hülle, getragen von einem brüchigen Skelett und matt erleuchtet von einem einzelnen Funken Leben.

Als es an der Tür klopfte, erschrak Wilbur. Für eine Sekunde hatte er geglaubt, das Geräusch komme aus Eamon. Eine Frau mit einem Stapel Wäsche betrat das Zimmer. Sie war jung und dünn und hatte das Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten geballt, wie es alte Frauen taten.

«Ich bringe die Wäsche«, sagte die Frau. Ein winziger Stein blitzte an ihrem Nasenflügel auf. Sie ging zum Schrank, öffnete ihn und legte Hemden, Hosen und Unterwäsche auf Regale. Der Ärmel ihres Kittels rutschte zurück und entblößte eine Tätowierung an ihrem Handgelenk, eine grüne Eidechse.

Wilbur hatte kurz genickt und stand nun verlegen da. Er öffnete die Blechdose und nahm einen Keks heraus, den er dem alten Mann zwischen die Finger schob.

«Du bist der Enkel, stimmt’s?«fragte die Frau.»Wilbur. «Sie lachte über Wilburs erstauntes Gesicht, bückte sich und zog eine Pappkiste aus dem Schrank hervor.»Das solltest du dir ansehen. «Sie nahm den Deckel ab und schob die Kiste ein Stück in Wilburs Richtung.

Wilbur zögerte, dann ging er in die Hocke und nahm eine zerlesene Bibel und mehrere Ausgaben einer Zeitschrift mit dem Titel The Messenger in die Hand. Das Exemplar, das Wilbur durchblätterte, war aus den sechziger Jahren, und das Papier so spröde, dass es brach.

«Das ist bloß religiöser Kram«, sagte die Frau.»Die Hefte weiter unten sind interessanter.«

Wilbur nahm einen Stapel Zeitschriften aus der Kiste und legte ihn auf den Boden, dann holte er eins der Wachstuchhefte hervor und schlug es auf. Linierte Seiten waren mit handschriftlichen Eintragungen gefüllt, jedem Abschnitt war ein Datum zugeordnet. Wilbur sah die Frau an.

«Tagebuch«, sagte die Frau. Sie bot Wilbur einen Kaugummi an, aber der schüttelte den Kopf.»Du kommst auch drin vor. «Sie steckte sich einen Streifen in den Mund und begann, die Bettwäsche abzuziehen.

Wilbur setzte sich hin und las. Das Heft war aus dem Jahr 1972. Eamon schrieb in unzusammenhängenden Sätzen über alles Mögliche, Zeitungsmeldungen, Stürme, Kopfschmerzen, Träume, Erinnerungen. Zwischen einigen Absätzen waren Kritzeleien, Zeichen, Symbole. Ein paar davon sahen aus wie Skizzen, ungelenke Zeichnungen, die nichts darstellten und doch winzigen komplizierten Plänen glichen. Für Wilbur ergab keiner der Einträge irgendeinen Sinn. Er legte das Heft weg und nahm ein anderes hervor. Hier enthielten die Seiten kaum noch Worte, geschweige denn ganze Sätze. Zeichnungen überwogen, kindliches Gekritzel, zwischen denen sich Buchstaben verloren. Wilbur erschrak, als er seinen Namen entdeckte.

«Das zweitletzte Heft ist das seltsamste«, sagte die Frau.»Das schwarze. «Sie hatte das Bett frisch bezogen, nahm die alte Wäsche vom Boden und ging zur Tür.»Sei ihm nicht böse. In seinem Kopf ist ein Trümmerhaufen. «Sie öffnete die Tür.»Ich sag deinen Eltern, du seist noch eine Weile beschäftigt, okay?«

Wilbur nickte. Die Frau lächelte und verließ das Zimmer. Wilbur nahm das schwarze Heft vom Stapel und schlug es auf.

Eine Stunde später fuhren sie zurück nach Portsalon. Die Straße tauchte aus der Landschaft auf wie ein Tau aus schmutzigem Wasser. Der Regen schlug auf das Blech des Wagens und strömte über die Windschutzscheibe, er floss durch Wilburs Spiegelbild und rauschte unter ihnen hindurch. Henry fuhr so langsam, dass ein Traktor sie überholte. Ab und zu hielt er an und wartete, aber es wurde nicht besser. Wenn eine Böe das Auto erfasste, duckte er sich und murmelte leise, als wolle er die Elemente beschwichtigen. Am Rückspiegel pendelten ein Rosenkranz und ein silbernes Kreuz.

Pauline ließ sich vom Wetter die gute Laune nicht verderben. Sie war stolz auf Wilbur, der seinem Großvater so lange Gesellschaft geleistet hatte. Jetzt habe der alte Mann seinen Seelenfrieden gefunden, sagte sie. Jetzt konnte er in Ruhe sterben, dachte sie. Ihr Haar war beim Gang zum Auto zerzaust worden, der Wind hatte ihr fast den Schirm aus der Hand gerissen. Sie richtete ihre Frisur im Spiegel und lächelte Wilbur zu.

Wilbur presste die Lippen zusammen und hob die Mundwinkel ein wenig. Die vier Hefte, die er sich unter den Pullover geschoben hatte, ließen ihn mit geradem Rücken sitzen. Er gähnte laut, damit er für den Rest der Fahrt die Augen schließen konnte. Er legte den Kopf ans Polster und verdrängte die Vorstellung, in einem U-Boot durch ein dunkles Meer zu gleiten.

Colm Finnerty wurde krank. Die Frauen des Ortes sagten, er leide an der Schwermut, bald würde er das Trinken beginnen. Die Wahrheit war, dass Colm von einer Müdigkeit ergriffen wurde, die ihm an manchen Tagen alle Kraft aus dem Körper nahm. Dann lag er da und hörte die Tiere im Stall, schlug sich mit den Fäusten auf die tauben Beine und humpelte Stunden später zum Vieh, um es zu füttern und auf die Weide zu lassen. Der Arzt kam und untersuchte ihn, und es war nicht Schwermut, die er feststellte, sondern beginnender Muskelschwund.

Nur Wochen später hatte Colm seinen Hof verlassen und war plötzlich einer der Senioren, um die sich Pauline und Henry ehrenamtlich kümmerten. Das Vieh und der Traktor wurden verkauft, nach einem Testament wollte man Colm noch nicht fragen. Henry und zwei weitere Männer des Vereins fuhren in einem Lieferwagen hinaus, um die paar Habseligkeiten, die man Colm zugestand, ins Heim zu schaffen. Wilbur hatte darauf bestanden, beim Umzug zu helfen, und obwohl Pauline dagegen war, nahm Henry ihn mit. Der Lieferwagen war mit DEMPSEY BUTCHERS beschriftet, und Wilbur wurde während der Fahrt so elend, dass der Fahrer zweimal anhalten musste.

Als sie leise wie Diebe das Haus betraten und wortlos durch die Räume streiften, fühlte Wilbur sich noch schrecklicher. Er folgte den Männern, unfähig, etwas zu tun, und sah ihnen zu, wie sie Schranktüren öffneten, Schubladen aufzogen und Gegenstände in die Hand nahmen und abwogen, ob sich ihre Aufbewahrung lohne, wie sie Möbel und Matratzen in den Hof trugen und ein Feuer machten, Bilder abhängten und Teppiche aufrollten und Vorhänge herunternahmen. Während die Männer ihr Unbehagen bald abgelegt hatten und angesichts der Fülle an angesammelten Dingen immer unzimperlicher wurden, kam Wilbur sich schuldig vor, wie ein Mittäter bei der Zerstörung von etwas, dessen Wert übersehen oder missachtet wird. Ein Teil von Colms Leben war zu Plunder geworden, zu lästigem Ballast, der bald als Asche über den leeren Hof wehen würde. Er stellte sich Colm vor, wie er in seinem neuen Zimmer saß und darauf wartete, keine Angst mehr zu haben vor den vier Wänden und dem Geruch nach Reinigungsmitteln und den fremden Geräuschen. Wie er Dinge aus dem Koffer nahm, sie ansah und zurücklegte, statt sie in den Einbauschrank zu räumen. Und wie er sich aufraffte und ans Fenster trat, um auf das gemähte Stück Rasen zu starren, wo keine Kälber Bocksprünge machten und keine Schafe grasten und den Kopf hoben, wenn er mit sanfter Stimme nach ihnen rief.

Während das Feuer loderte, ging Wilbur durch die Scheune und überzeugte sich davon, dass kein Tier darin vergessen worden war. Er nahm eine Handvoll Stroh und steckte es in die Hosentasche. Danach ging er ins Haus, und obwohl Henry meinte, es würde zu lange dauern, wickelte er jede Tonfigur in Zeitungspapier und verstaute sie ebenso in Kisten wie die Bücher.

Stunden später fand er in der Kommode neben dem Bett einen Artikel aus dem Donegal Democrat, der Orlas Streit mit der Erziehungsbehörde zum Inhalt hatte. Ein Schwarzweißfoto zeigte Orla vor der Schule stehend. Sie hatte eine Hand erhoben und war im Begriff, sich abzuwenden, was den vom Reporter beabsichtigten Effekt erzielte, sie unfreundlich und schuldbewusst aussehen zu lassen. Die Artikelüberschrift lautete: SELBSTERNANNTE LEHRERIN GIBT NICHT NACH, und unter dem Bild stand:»Starrköpfig bis in die letzte Instanz: Orla McDermott«.

Wilbur saß auf dem Bettgestell und las den Artikel zweimal hintereinander. Dass er weinte, merkte er erst, als Henry ins Zimmer trat und fragte, was passiert sei. Henry sah den Zeitungsausschnitt, seufzte und setzte sich neben Wilbur. Zuerst wusste er nicht, was er sagen sollte, zupfte Staubflusen von den Ärmeln seiner Strickjacke und sammelte sie in der Faust. Er überlegte lange, wie er den Jungen trösten könnte, dann sagte er, er habe Orla nicht persönlich gekannt, aber sie sei bestimmt eine außergewöhnliche Frau gewesen, auch wenn sie es bei ihrem Feldzug gegen die öffentliche Schule vielleicht ein wenig übertrieben habe. Er klopfte Wilbur auf die Schulter, erst zaghaft, dann fester, und schließlich erhob er sich, meinte, es gebe noch viel zu tun und verließ das Zimmer.

Wilbur wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er saß da und stellte sich vor, wie er mit Colm auf dem Hof leben würde, wie er, statt zur Schule zu gehen, den alten Mann pflegen, für ihn kochen und ihm aus Büchern vorlesen würde. Er malte sich aus, wie er seinen Freund im Wohnzimmer einquartierte, von wo aus man auf eine der Weiden sehen konnte, wie er lernte, Traktor zu fahren und Kühe zu melken und Zäune zu flicken. Die Augen geschlossen, sah er sich mit Colm in der Sonne sitzen und Schafe zählen, sah die Jahre vergehen und hatte eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn er in weiter Zukunft neben Colm liegen und ihn so fest umarmen und festhalten würde, dass der ihn mit in den Himmel nähme wie ein Schiff einen blinden Passagier.

In einem Nebenzimmer ließ einer der Männer etwas fallen, das zerbrach. Wilbur schreckte aus seinem Traum hoch, holte ein paar Mal tief Luft, faltete den Artikel zusammen und legte ihn zu den anderen Dingen, die er für Colm vor dem Feuer bewahrte.

Sie brachten Colm einen Sessel, eine kleine Kommode, zwei gerahmte Bilder und die Kisten mit den Büchern und den Tonfiguren. Die Leiterin des Altersheims, eine dünne Frau um die vierzig, die freundlich, aber ständig leicht überfordert wirkte, hielt es für keine gute Idee, die Tiere auf sämtlichen verfügbaren Flächen aufzustellen, aber nachdem Colm versprochen hatte, sie eigenhändig abzustauben, gab sie nach. Während die Männer mit dem Lieferwagen nach Hause fuhren, halfen Henry und Wilbur beim Auspacken von Colms Sachen.

Danach gingen sie zu dritt in den Garten und fütterten die Goldfische, die in einem künstlichen Teich ihre Kreise zogen. Der Verputz des Hauses und der Himmel hatten dieselbe Farbe, ein Blau, das sich nicht entscheiden konnte, zu leuchten oder zu erlöschen. Wilbur und Henry rochen nach dem Rauch des Feuers, das längst Asche war. Von sehr weit her bellte ein Hund. Colm ging in die Hocke, und sein Spiegelbild verschwamm im dunklen Wasser.

Beim Abendessen erzählte Henry seiner Frau, wie erstaunt, ja erschrocken Colm gewesen sei, als sie den Fernseher aus der Kiste gehoben hatten. Erst habe er sich gegen Wilburs Geschenk gewehrt, aber dann hätten sie das Gerät angeschlossen und eingeschaltet, und als, wie zum Beweis für die Gutartigkeit des Kastens, eine Natursendung auf dem Bildschirm erschienen sei, habe Colm sich brav in seinen Sessel gesetzt und staunend verfolgt, wie die Tiere aus seinen Büchern plötzlich laufen lernten.

Pauline, von der Geschichte mehr überrascht als gerührt, meinte, so eine gottgefällige Tat habe sie Wilbur nicht zugetraut. Dann gab es Torte zum Nachtisch, und Pauline bot Wilbur aus einer großzügigen Laune heraus an, später mit ihnen Fair City anzusehen. Henry schien seinen Ohren nicht zu trauen und sah Pauline an, als habe sie dem Jungen gerade einen Flug zum Mars in Aussicht gestellt und nicht eine halbe Stunde irischer Soap. Zur Überraschung beider verzichtete Wilbur auf das zweifelhafte Vergnügen und ging nach oben, um in der Stille seines Zimmers ein kurzes Stück für Cello zu schreiben.

Etwas stach Wilbur ins Bein, und er zog einen Strohhalm aus der Hosentasche. Der Rest lag in einer kleinen Schachtel in einer Schublade von Colms Kommode. Während Wilbur die Noten einer Melodie hinschrieb, die zwischen Traurigkeit und Hoffnung schwankte, stellte er sich Colm vor, wie er die Schachtel hervorholte und seine Nase hineinsteckte und sich an ein Leben erinnerte, das zu Ende war, während der Fernseher keine Tiere mehr zeigte, sondern die Raserei der Welt.

Eamon McDermott war im Schlaf gestorben, aus dem er schon seit Wochen nicht mehr wirklich aufgewacht war. Er wurde in einem Leichenwagen mit bestickten Vorhängen von Milford hergebracht und neben seiner Frau begraben. Miss Ferguson, die aus der Güte ihres Herzens glaubte, Wilbur auch diesmal beistehen zu müssen, hatte Colm Finnerty mit dem Taxi im Heim abgeholt und war mit ihm zum Friedhof gefahren. Es war ein kühler, aber schöner Tag, die geschlossenen Schirme hingen den Leuten an den Armen wie Kokons schwarzer Schmetterlinge, und in einem nahen Baum lärmten ein paar Vögel so laut, dass einer der Sargträger sie mit Steinwürfen vertrieb. Der junge Pfarrer redete, als habe er Eamon gekannt, erwähnte aber mit keinem Wort die Kirche oder den Wahnsinn, wie es die Leute aus der Gegend taten, wenn vom alten McDermott die Rede war. Dafür fasste er das Leben des Verstorbenen in ein paar Sätzen zusammen, aus denen Gold leuchtete und Mut und die Liebe zu der Frau, neben der er jetzt zur ewigen Ruhe gebettet wurde.

Wilbur warf eine Schaufel Erde auf den Sarg und verstand nicht, warum Pauline weinte. Henry hatte ihm während der Grabrede die Hand auf die Schulter gelegt, jetzt stand er mit gefalteten Händen da und starrte in die Grube, als sei sie für ihn ausgehoben worden. Colm saß im Rollstuhl, und sein Blick lag während der gesamten Zeremonie auf Orlas Grabstein. Obwohl sie eine Woche nach Wilburs Auftauchen in ihrem Leben an nichts weniger denken wollte als an den Tod, hatte sie ihr Testament geschrieben und sich ein Mädchen gewünscht, das einen toten Vogel in den Händen hält und in einem Beet aus Heidekraut sitzt. Eamons Stein war roh und eckig und wuchtig, ein dunkler Klotz neben ihr, ein Symbol seiner letzten Jahre.

Ein paar Tage nach der Beerdigung kam ein Anwalt zu den Conways. Am Abend erklärte Henry Wilbur, was in den Dokumenten stand. Eamon McDermott habe kein Testament hinterlassen, wodurch das von Orla rechtskräftig sei. Das Haus und alles Land darum herum gehöre Wilbur. Auf verschiedenen Konten befinde sich Geld, das ein Notar treuhänderisch verwalte. Sobald Wilbur achtzehn sei, könne er das Erbe antreten, dürfe das Haus bewohnen oder verkaufen und mit dem Geld machen, was er wolle. Mit achtzehn würde er frei sein, dachte Wilbur und wunderte sich, als Pauline schluchzend in die Küche eilte.

Wenn Wilbur nicht in der Schule oder bei Matthew war, verbrachte er seine freie Zeit bei Colm, ging mit ihm in den Garten oder las ihm aus Büchern vor, die er in der Bibliothek holte. An manchen Tagen konnte Colm keinen Schritt gehen, dann schob Wilbur ihn im Rollstuhl durch die Flure des Heims und hinaus an die Luft. Colm vergaß vieles, aber wenn er sich erinnerte, hörte er nicht auf zu reden. Er wusste noch alle Namen seiner Kühe und die der alten Schafe, und er erzählte von den Schwalben, die jedes Jahr zurückkamen, um unter dem Scheunendach ihre Jungen großzuziehen, und von dem Fuchs, der regelmäßig vorbeischaute, obwohl Colm schon seit Jahren keine Hühner mehr gehabt hatte. Immer wieder erzählte er davon, und jedes Mal tat Wilbur, als habe er noch nie davon gehört. Er brachte Colm von Paulines Keksen mit, und wenn er genug Taschengeld gespart hatte, kaufte er ihm bei Brennan’s eine Zigarre, die er für ihn hinter dem Geräteschuppen des Heims anzündete und deren Rauch er einatmete, bis ihm schwindlig wurde.

Eines Tages saßen sie neben dem Teich, Colm im Rollstuhl und Wilbur im Gras. Der Himmel war bedeckt, und sie waren die einzigen im Garten, weil ein fahriger Wind Regen bringen würde. Colm zupfte das Weiche aus einem Stück Brot, rollte es zwischen den Fingern und ließ die Kügelchen ins Wasser fallen. Die Fische, deren Farbe nicht Gold, sondern ein blasses Orange war, hatten an Gewicht zugelegt und kamen sich im kleinen Teich bereits in die Quere. Als das Brot aufgebraucht war, holte Colm einen Schlüssel aus der Hosentasche und hielt ihn Wilbur hin.

«Was ist das?«fragte Wilbur.

«Der Schlüssel zu deinem Haus«, sagte Colm.

Jetzt erkannte Wilbur den Schlüssel, Orla hatte ihn oft auf dem Küchentisch liegenlassen. Er nahm ihn in die Hand.

«Orla hat ihn mir gegeben«, sagte Colm.»Lange, bevor sie…«Er wischte Brotkrümel von der Wolldecke, die auf seinen Beinen lag, und blickte ins Wasser, das vom Kampf der Fische trübe geworden war.»Damit ich ins Haus konnte. Wenn sie unterwegs war mit dir. Falls etwas gewesen wäre, mit deinem Großvater.«

Wilbur betrachtete den Schlüssel, wog ihn in der Handfläche. Er kam ihm schwer vor, schwerer als der Schlüssel der Conways, der ihm vor ein paar Wochen übergeben worden war, als Beweis des Vertrauens, wie Pauline ihm ernst und feierlich verkündet hatte.

«Es ist dein Haus«, sagte Colm.»Du sollst da reindürfen, wann du willst. Und nicht, wann die es erlauben.«

Wilbur nickte. Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche, holte die Zigarre daraus hervor und schob Colm hinter den Geräteschuppen. Dort gab er ihm Feuer und las aus einem Buch vor, das die Freundschaft zwischen einem Pygmäen und einem Elefanten erzählte. Er hatte sich von Anfang an einen Spaß daraus gemacht, den Pygmäen Wilbur und den Elefanten Colm zu nennen, und Colm kicherte noch immer jedes Mal darüber. Der Regen kam nicht, aber sie blieben bis zum Abend alleine im Garten. Das Licht hob die Hügel aus dem Land, glitt an ihren Rücken ins Verborgene und verging. Colm sah in den Himmel, wo die Wolken zeichneten, was Wilbur erzählte. In der Dämmerung war es kühl geworden, doch er fror nicht.

Es gab Tage, an denen Wilbur aufwachte und sich verloren fühlte. Er lag in seinem Bett und starrte an die Innenseite seiner Lider, auf der Blitze zerstoben. Aus der Küche stieg der Geruch von Kaffee und Toastbrot hoch, und er begrub das Gesicht unter dem Kissen. Wurde sein Name gerufen, kam er ihm fremd vor. Er saß mit Pauline und Henry am Frühstückstisch, aber er war nicht bei ihnen. Er ließ sich vom Bus zur Schule fahren und hörte den Lehrern zu, ohne sie zu verstehen. An diesen Tagen ging er nicht zu Matthew, weil er die warmen Töne des Cellos und die tiefe, zärtliche Stimme des alten Mannes nicht ertragen hätte. Colm musste ohne ihn auskommen, denn Wilbur fehlte die Gelassenheit, aus Büchern zu lesen oder die fetten Goldfische zu füttern.

In dieser Stimmung ging Wilbur allem aus dem Weg, er vergrub die Fäuste in den Taschen und trat gegen Abfalleimer und Blumentöpfe. Wer ihn grüßte, bekam einen finsteren Blick zur Antwort und fragte sich, ob das wirklich der Junge mit dem Cello sei. An solchen Tagen war Wilbur traurig, einsam und hoffnungslos, aber vor allen Dingen war er wütend.

Der einzige Ort, an dem Wilbur diesen Gemütszustand ertrug, ohne Dinge zu beschädigen oder Leute zu beleidigen, war ein Laden in Portsalon, der sich Ari’s Mega Video Store nannte. Entgegen seinem pompösen Namen, der auch tagsüber aus einem summenden, mit farbigen Glühbirnen gefüllten Blechkasten über dem Eingang blinkte, war der Laden winzig. Sein Besitzer, ein Finne, der seit zwanzig Jahren mit der einzigen Tochter des ranghöchsten Polizisten im Ort verheiratet war, spielte den ganzen Tag mit seinen Kindern in der Wohnung über dem Laden und kam nur herunter, wenn ein Kunde die Türglocke zum Läuten brachte. Ari Tikkanen war einen Meter dreiundneunzig groß, hatte lange rotblonde Haare und einen wuchernden Bart. Seine Stimme war laut und tief, und wenn er lachte, bekamen es manche Leute mit der Angst zu tun.

Obwohl das Geschäft immer schlechter lief, war er stets bester Laune, bot den wenigen Kunden eine Tasse Tee an, empfahl ihnen cineastische Leckerbissen und verdiente ein bisschen Geld mit Schund und Kitsch. Er schwärmte polternd von russischen und japanischen Regisseuren, deren Namen kein Mensch in Portsalon auch nur aussprechen konnte, und wenn er in Fahrt war, erzählte er ganze Filminhalte auf Finnisch.

«Ach, der Verehrer von Tod und Zerstörung!«begrüßte er Wilbur jeweils fröhlich, schwenkte Kassettenhüllen, auf deren Einbänden farbige Explosionen blühten, und rief die Werbetexte wie ein mittelalterlicher Moritatensänger in die Leere des mit Plakaten und Szenenfotos tapezierten Raumes, Orgien aus Gewalt versprechend. Dann führte er seinen Kunden in eine der drei schrankgroßen und mit schwarz gestrichenen Eierkartons isolierten Kabinen und schob die Kassette in den Rekorder.»Und du bist sicher, dass du in Blut waten willst, statt in den Traumfeldern kirgisischer Avantgardisten zu wandeln?«fragte er grinsend und wissend, dass Wilbur wie immer ernst nicken würde, drückte die Starttaste und schloss die Tür hinter sich.

In diesen engen Kammern war es, wo Wilbur die dunklen Seiten seiner Seele ausleuchtete. Er hatte es mit Kinderfilmen und Komödien versucht, mit Familiendramen und Science Fiction. Ari hatte ihm koreanische Meisterwerke aufgenötigt und sein Herz mit Kubrick und Kurosawa gewinnen wollen. Eine Weile sah Wilbur sich nur Dokumentarfilme an, dann arbeitete er sich systematisch durch die Fantasy-Regale. Alles ließ ihn kalt und langweilte ihn, weil es entweder zu nah an der Realität war oder zu weit von ihr entfernt. Für Ari wurde Wilbur im Laufe der Zeit vom scheinbar abgestumpften Kind, das ihm sein Taschengeld brachte, zum Patienten, den es mit Hilfe der Filmkunst zu kurieren galt. Er sah, dass Wilbur das ihm Gebotene nicht einfach oberflächlich verurteilte, sondern die Filme auf sachliche und angesichts seines Alters erstaunlich intellektuelle Weise für Zeitverschwendung erklärte.

Dabei sagte Wilbur selten, die Filme seien schlecht. Er konnte nur nichts anfangen mit Drachenjägern und Weltraumrittern, mit singenden Katzen, tanzenden Matrosen und fliegenden Torten. Er fühlte nicht den Liebeskummer des wortkargen Amerikaners in Marokko oder den Trennungsschmerz der Südstaatenschönheit, es kümmerte ihn wenig, ob Herzen gebrochen oder Galaxien zerstört wurden, und bei den Komödien wusste er nie recht, wo man ihn zum Lachen bringen wollte und wo die Geschichte Mitleid mit den Figuren verlangte.

Als das Angebot der Filme für Jugendliche unter sechzehn erschöpft war, fragte Wilbur, ob er sich einen Kriegsfilm ansehen dürfe, und Ari erlaubte es ihm. Wilbur war seit Tagen sein einziger Kunde, und er wusste, dass dem Jungen ein Film wie Die Kanonen von Navarone kaum bleibende seelische Schäden zufügen würde.

Danach sah Wilbur sich alle Kriegsfilme aus Aris umfangreicher Sammlung an, und als es davon keine mehr gab, holte Ari ein paar Krimis aus einer Kiste unter der Treppe hervor, französische Schwarzweißwerke mit Jean Gabin und Lino Ventura, später dann amerikanische Streifen mit James Cagney, Edward G. Robinson und Humphrey Bogart. Wochen später war auch dieser Vorrat erschöpft, und Ari zögerte, den Jungen mit noch mehr Barbarei zu füttern. Wann immer er sich mit Wilbur bei einer Tasse Tee unterhielt, hörte er genau hin, und auch nach zahllosen Filmen, die der Staat mit allen rechtlichen Mitteln von Jugendlichen fernzuhalten versuchte, konnte er bei dem Jungen keine Veränderungen feststellen, die auf eine Verrohung des Charakters deuteten. Er hatte als Kindergärtner heimlich Horror- und Vampirfilme verschlungen und sah keinen Grund, weshalb er seinem vierzehnjährigen Kunden Filme wie Dirty Harry, The French Connection oder Taxi Driver vorenthalten sollte.

Tatsächlich fühlte Wilbur sich bereit. Nur noch vage erinnerte er sich an die Zeit, als er neben Orla im Kino saß und mit den Leinwandhelden fieberte und von Gewehrkugeln, Indianerpfeilen und Laserstrahlen durchlöchert wurde, bis das Tageslicht seine Wunden und heimliche Angst verschwinden ließ und er an der Hand seiner Großmutter in die Wirklichkeit trat. Schon früh hatte er gelernt, Filme als flimmernde Märchenbücher zu sehen, als kolossale Gutenachtgeschichten, die dazu da waren, ihn von der Realität und der Dunkelheit abzulenken. Irgendwann hatte er die mit Blut und Tränen geschmierte Mechanik dieser Bilderreigen durchschaut und ließ sich von ihnen nur noch unterhalten, nicht mehr täuschen. Er hatte es geliebt, Orlas Hand in seiner zu spüren, den Geschmack der Bonbons auf der Zunge und die verlässliche Helligkeit nach der Vorstellung, aber diese Zeit war lange vorbei.

Das einzige, was ihn jetzt noch erreichte, war schiere Gewalt. Männer, deren Leben schreckliche Wendungen nahmen, die in ausweglose Situationen gerieten und zornig oder skrupellos genug waren, um sich ihren Weg freizuschießen. Diese tragischen, brutalen und verzweifelten Gestalten waren es, die ihn berührten und aufwühlten und ihm für die Dauer eines Films vormachten, wie man seine Existenz veränderte, auch wenn man sie dabei vernichtete.

Der Nachschub aus dem Kassettenlager schien unerschöpflich. Jedes Mal wenn Wilbur den Laden betrat, hatte Ari einen neuen Film für ihn. Es machte ihm Spaß, für den kleinen Kenner Reihen zusammenzustel len, ihn mit den Arbeiten eines Regisseurs vertraut zu machen und ihm in chronologischer Folge sämtliche Werke mit Clint Eastwood, Charles Bronson oder Robert De Niro vorzuführen. Oft setzte er sich mit dem Jungen und einer Tasse Tee hin und hielt eine leidenschaftliche Einführung in den Film, mit dem er Wilbur gleich beglücken würde, las aus Fachzeitschriften und Büchern vor, öffnete Sammelordner voller Standbilder, Werbezettel und Autogrammkarten in Klarsichtmappen und entrollte Originalplakate, die nach vergangener, unwirklicher Zeit rochen.

Ari’s Mega Video Store war Wilburs Zweitwelt, ein Paralleluniversum, durch das er in seiner Kapsel aus Phantasie und Verzweiflung glitt, geblendet von Zelluloidgewittern und betäubt vom Donnerhall ferner Explosionen. In dieser Galaxie aus Gesetzlosigkeit und niedrigster Gesinnung zerstieb sein trotz aller Schrecken behütetes Leben zu einer nebligen Erinnerung, und alles, was ihm widerfahren war, trat für eine Weile zurück, und was noch auf ihn lauern mochte, verlor an Bedrohlichkeit.

Eines Tages saß Wilbur in seiner dunklen, schallgedämpften Box und sah endlich Die Hard von Anfang an und ohne Werbeunterbrechungen, und er ließ es geschehen, dass er den Fernseher vergaß und die Eierkartons und die spielenden Kinder über seinem Kopf, dass die Stunden mit Matthew, die Besuche bei Colm und die für immer in ihm aufgehobenen Jahre mit Orla neben einem gewaltigen Feuerschein verblassten und er sich in John McClane verwandelte, der in einem flammenden Hochhaus barfuß über Scherben ging und Leute erschoss.

Es wurde Herbst, bis Wilbur bereit war, zum Haus zu gehen. Er saß auf dem Sofa in Matthew Fitzgeralds Wohnzimmer und spielte ihm etwas vor, das er komponiert hatte. Nach dem letzten Ton fragte er Matthew, ob sie zusammen nach Fanad Head fahren könnten. Matthew hatte einen 61er Triumph Herald, den Agnes ihm geschenkt hatte, als ihre Augen und Nerven zu schwach für den Verkehr in Norwich geworden waren. Das Auto, das Matthew mehr als Erinnerungsstück denn als Fortbewegungsmittel nach Irland mitgenommen hatte, stand etwa fünfhundert Meter weit vom Haus entfernt in einer Scheune, die ihm ein Nachbar als Garage vermietete. Weil Matthew sein Heim kaum verließ und sich Lebensmittel, Briketts und sogar Bücher liefern ließ, stand der Wagen die meiste Zeit des Jahres unter einer Plane zwischen vermoderten Heuballen und Traktorteilen.

Matthew wusste von dem Haus an der Küste und fragte nicht nach Wilburs Gründen, warum er gerade heute dorthin fahren wollte. Das Wetter war gut, seit zwei Tagen hatte es nicht geregnet, und es sah aus, als würde es noch eine Weile so bleiben. Er zog seine klobigen Lederschuhe an, einen Pullover und den leichten Mantel und setzte den Hut auf, den er damals, kaum aus dem Bauch der Fähre gerollt und von Irland mit heftigem Regen empfangen, in einem Souvenirladen außerhalb von Rosslare gekauft hatte.

Der Triumph sprang nach einigen Versuchen an und füllte den Schuppen mit blauschwarzen Abgaswolken. Der Rückwärtsgang knirschte und der erste schleifte, dann rumpelte das caramelfarbene Gefährt über den Feldweg und hörte erst auf der Landstraße auf zu husten und spucken. Matthew fragte, ob er das Radio anmachen solle, aber Wilbur war es lieber, wenn es ausblieb. Autos mit wehenden Fahnen kamen ihnen entgegen, einige Fahrer hupten. Matthew fragte, wer wohl wen worin besiegt hatte, aber natürlich wusste Wilbur es auch nicht. Krähen saßen ruhig in den seit Wochen kahlen Bäumen und warteten darauf, dass ein Kaninchen oder eine Katze vor ein Auto lief. Auf einem Feld brannten abgeholzte Bäume, der Rauch wuchs in der Windstille als gerade Säule in den Himmel. Kinder rannten um das Feuer, ihr Indianergeschrei drang durch den Lärm des Motors.

Als sie in der Nähe des Hauses hielten, schaltete Matthew die Zündung aus. Er löste den Sicherheitsgurt, blieb aber sitzen. Der Wagen knackte und knisterte. Eine Weile sahen sie auf das abgeerntete Feld, das vor ihnen lag. Am Horizont lagen ein paar Wolken auf den Hügeln. Matthew nahm die Brille ab, wischte mit den Gläsern über den Pullover und setzte sie wieder auf. Wilbur starrte auf die eigenen Hände, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.

«Geh nur«, sagte Matthew schließlich und nickte Wilbur zu.

Wilbur zögerte, dann stieg er aus. Er sah den Hof von Colm, winzig stand er zwischen den Wiesen, wie eingesunken ins unbewirtschaftete Land. Vom Meer wehte ein leichter Wind und trug den Geruch von Tang herüber. Keine einzige Möwe flog, kein Schiff unterbrach die Linie des Horizonts. Als Wilbur den Weg hinunterging, wünschte er sich, er hätte Matthew gebeten mitzukommen. Er hielt den Schlüssel in der Hosentasche mit der Faust umklammert, wie er früher den Indianer auf dem Pferd umklammert hatte.

Als das Haus vor ihm auftauchte, blieb er stehen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Sein Atem ging wie an dem Tag, als Colm ihm sagte, Orla würde nicht kommen, um ihn abzuholen. Der Schlüssel schnitt ins Fleisch, und er drückte noch heftiger. Es schien ihm, als stünde er ewig da, unfähig, sich zu rühren. Jahre vergingen. Das Gras auf dem Erdhügel war hoch, der schmale Pfad zugewachsen. Für einen Augenblick sah er sich neben Conor sitzen. Alaska. Kapstadt. Madagaskar. Aus dem offenen Küchenfenster drang leise Radiomusik. Schiffe fuhren, Flugzeuge blitzten auf. Er stand am Rand der Welt, am Ende seines früheren Lebens. Er fühlte sich alt, alt genug, um zu sterben, aber er wollte nicht mehr sterben. Irgendwo hinter ihm saß Matthew in einem Auto, das nicht himmelblau war, und wartete auf ihn.

«Orla«, flüsterte Wilbur, dann ging er auf das Haus zu, langsam und ohne den Boden unter sich zu spüren.

Die Farbe des Verputzes kam ihm unbestimmt vor, irgendwo zwischen weiß und grau, das Rot der Tür in der Mauer dumpf und abweisend, aber vielleicht lag das am Licht, das aus einem bedeckten Himmel fallend kaum den Boden erreichte. Er ging zur Tür und sah, dass große Stücke des Anstrichs abblätterten. Placken roter Farbe lagen im Gras, zerfielen zwischen seinen Fingern. Die Tür war verschlossen, und so ging er zur Vorderseite des Hauses, wo in einer Ecke hergewehte Blätter lagen, trockenes Gras, Papier und Käfer, deren zerbrochene Panzer er zuerst für Scherben aus schwarzem Glas hielt. Sand und Erde bedeckten die Steinplatten, auf den Fenstersimsen lag Staub. Wilbur nahm den Schlüssel hervor, der in seiner Hand glühte. Er zitterte. Als er ruhiger atmete, konnte er das Meer hören. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, sperrte die Tür auf und betrat das Haus.

Die Stille in den Zimmern war anders als die, die er in Colms Haus erlebt hatte. Diese Stille war etwas, das die Räume ausfüllte, sie war eine Masse, ein Geräusch. Sie hatte ein Gewicht, war schwer und lag auf den Dingen. Er konnte sich in ihr nur langsam bewegen, sie bot Widerstand und erschwerte das Atmen. Er erkannte nichts mehr, sah Gegenstände zum ersten Mal und ahnte, dass sie ihm einst vertraut waren. In der Küche öffnete er das Fenster. Er setzte sich an den Tisch und schloss die Augen, atmete langsam.

Nach einer Weile stand er auf und ging in das Zimmer, das seines gewesen war, aber er ertrug die Leere nicht lange und geriet ins Wohnzimmer, das ihm schon fremd gewesen war, als er noch hier lebte. Ein Sofa, zwei Sessel und ein Tisch füllten den Raum, in einem Regal standen ein paar Bücher, Vasen und Porzellanfiguren. Ölbilder zeigten die Landschaft, die vor den Fenstern lag, über einer Kommode hing ein Fotokalender. SEPTEMBER stand unter der Farbaufnahme einer von Wolkenschatten fleckigen Ebene, durch die ein weißes Pferd galoppierte.

Dann stand er plötzlich im Schlafzimmer, die Tür musste offen gewesen sein. Das war der Raum, in dem sein Großvater gehaust hatte, bis man ihn ins Heim gebracht hatte. Wilbur konnte sich nicht erinnern, jemals hier drin gewesen zu sein. Das Bett erschien ihm riesig, die Decke darauf wie ein Haufen Schnee, der in der Kälte des Raumes nicht schmolz. Die Türen des Schrankes standen offen, an einer Stange hingen leere Kleiderbügel und eine Hülle aus durchsichtigem Plastik. Ein Hemd und mehrere Socken lagen in den Regalen, ganz unten ein Paar Schuhe aus braunem Leder und eine Bibel. Auf dem Brett über dem Kopfende des Bettes hatte die Urne mit der Asche seiner Mutter gestanden, ein Kreis im Staub erinnerte an die Stelle. Die Urne lag auf Orlas Bauch, von beiden Händen beschützt, wie Orla es sich gewünscht hatte.

Wilbur ging ins Badezimmer, wo er im Halbdunkel sein Gesicht im Spiegel sah und sich abwandte. Über der Heizung hing ein weißes Handtuch, schmutzig, eine Seife lag auf dem Waschbecken. Die Glasregale waren leer, Ringe zeigten, wo Flaschen und Töpfe gestanden hatten. Eine Rasierklinge klebte auf dem Rand der Badewanne, beim Anblick der grauen Haare im Abfluss wurde Wilbur übel. Er rannte in die Küche, öffnete die Tür zum Innenhof und stolperte hinaus. Die Helligkeit blendete ihn, obwohl sie zu schwach war, um den Dingen einen Schatten zu geben. Der Holztisch, an dem er mit Orla gesessen hatte, stand schief da, die Fläche war zerfurcht und von einer silbernen Patina überzogen. Die Metallgelenke der Stühle waren rostig, die Bretter des Kräutergartens, der einmal der Sandkasten gewesen war, verrotteten.

Wilbur setzte sich auf den Boden und weinte. Er kippte nach hinten. Auf dem Rücken liegend, schrie er erschöpft, erstickt, das Elend seines Lebens kehrte in ihn zurück. Die Erde drehte sich langsam unter dem Himmel weg, das Licht fiel wie Nebel und füllte das Viereck, in dem Wilbur lag. Er rollte sich zur Seite und schluchzte, er flüsterte ihren Namen, er betete, er bettelte, er schloss die Augen und öffnete sie und sah, dass sie nicht da war, nicht kommen würde, nie mehr.

Der Boden war ausgekühlt. Er stand auf und trat gegen die Tür, aber das Glas zersprang nicht. Er sah sich darin und schlug mit den Fäusten darauf ein, dann ging er durch die Räume und schrie ihren Namen. Im Schlafzimmer zerrte er das Bettzeug herunter und schleifte es hinaus, er hob einen Stuhl über den Kopf und zerschmetterte ihn, dann den zweiten. Er trat die morschen Bretter los und warf sie auf den Haufen. Er holte Zeitungen aus der Küche, riss schmutzige Geschirrtücher von den Haken, fand Streichhölzer und zündete alles an, erschrak, wie hoch die Flammen bald schlugen, und holte trotzdem mehr. Er holte das Hemd und die Schuhe und die Bibel und warf alles ins Feuer.

Er weinte und fiel hin, schürfte sich die Handflächen auf. Die Hitze warf sich gegen seinen Körper, es war nicht Kälte, die ihn zittern ließ. Er zerrte die Matratze vom Bett und zog sie über den Boden und wuchtete sie in die Flammen. Asche stob um ihn herum, an den Rändern glühende Papierfetzen wirbelten hoch, segelten über die Mauer. Aus der Matratze stieg schwarzer Rauch. Eine Weile stand er schlotternd da, seine Augen brannten, Tränen liefen ihm über die Wangen.

Dann ging er zurück ins Schlafzimmer und sah die Briefe. Fünf Umschläge lagen auf der Spanplatte, die den Bettrost bedeckte. Er griff nach ihnen, musste sie ablösen. Eamons Schweiß, durch die Matratze gesickert, sein Gewicht und die Jahre hatten sie ans Holz gepresst. Sie waren an Orla adressiert. Wilbur trug sie hinaus, betrachtete die geschwungene Schrift, die Marken. Das Feuer pumpte Rauch in den tiefen Himmel. Wilbur las. Irgendwann rief von weit her Matthew, aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit.

Sie hatten das Feuer gemeinsam gelöscht. Matthew hatte mit einer Schaufel Stücke aus dem schwelenden Haufen gezerrt, Wilbur brachte in einem Eimer Wasser aus der Küche. Sie redeten nicht. Die Asche wurde schwarzer Brei, ein Schlackenmeer, aus dem verkohlte Holzstücke und eine Ecke der Matratze ragten, sinkenden Schiffen gleich. Eine Stunde später saß Wilbur neben Matthew im Auto. Matthew erwähnte das Feuer nicht. Er merkte, wie aufgewühlt Wilbur war, und fragte ihn, wie es gewesen sei, durch das leere Haus zu gehen, ob er etwas gefunden habe, eine Erinnerung an Orla. Er bedrängte den Jungen nicht und ließ ihm Zeit mit den Antworten, die stockend kamen.

Sie fuhren eine andere Strecke zurück, einen Umweg. Matthew fand zunehmend Gefallen am Lenken des Autos, und er hatte es nicht eilig. Die schmale Straße wand sich durch kleine Wälder, deren Bäume in einem Meer aus farbigen Blättern standen, und vorbei an Dörfern aus vier, fünf Häusern. Kein Auto kam ihnen entgegen, keine Fahnen wehten. Auf einer Brücke stand ein alter Mann und winkte ihnen zu. Sein Hund saß auf der gewölbten Steinmauer und sah in den Fluss. Als Matthew hupte, zuckte Wilbur zusammen. Er holte eine Fotografie aus der Tasche, die Orla vor einem Restaurant in Sligo zeigte. Deirdre hatte sie gemacht, daran erinnerte sich Wilbur. Er war den ganzen Tag mit Süßigkeiten gefüttert worden und hatte sich auf dem Heimweg übergeben. Das erzählte er und hoffte, Matthew würde aufhören zu fragen. Er wollte nicht über die Briefe reden. Er konnte nicht. Er sah aus dem Fenster und dachte an einen Ort, der unendlich weit weg lag.

Zwei Monate später kam ein Brief der Moorhead-Stiftung. Wilbur wurde nach Cork eingeladen, wo er vorspielen sollte. Matthew begleitete ihn. Sie nahmen die Bahn, der Triumph wäre zu unzuverlässig gewesen, die Fahrt zu anstrengend. Fast einhundert Jugendliche reisten aus dem ganzen Land an, um eine Jury von ihrem Talent zu überzeugen und sich für die Endausscheidung ein halbes Jahr später in Göteborg zu qualifizieren. Wilbur sah sich gegen vier Cellisten antreten, alle älter als er. Ein siebzehnjähriger Junge aus Waterford, eine Neunzehnjährige aus Ennis und Wilbur mussten am Abend noch einmal spielen. Einer der fünf Experten fand Wilburs Vortrag zu eigen, zu unorthodox, eine Kollegin gab zu bedenken, er sei noch sehr jung, womit sie unerfahren meinte. Wilbur gewann trotzdem. Im Hotel weinte Matthew und trank mehr, als gut für ihn war.

Am nächsten Tag gab es eine kleine Feier mit den Auserwählten und ihren Eltern, den Mitgliedern der Jury und Vertretern der Stiftung. Reporter waren da und machten Fotos von strahlenden Pianisten und glücklichen Geigerinnen. Ein Mädchen ließ sich mit verweinten Augen und ihrer Querflöte ablichten, ein Junge trug den ganzen Abend seine Trompete unter dem Arm. Es wurden Reden gehalten, ein Streichquartett spielte, und in den Gesichtern der jungen Gewinner leuchteten Stolz und Erleichterung und der Wille, der wartenden Welt noch mehr zu beweisen. Wilbur lächelte, wenn man ihn darum bat, und gab kurze Interviews. Er stand eine halbe Stunde mit einem angetrunkenen Professor durch, der behauptete, Wilbur sei er selber vor fünfzig Jahren. Die Frau eines Jurymitglieds meinte, er sei ein hübscher Junge und solle sich bei ihr melden. Sie roch nach Parfüm und steckte ihm eine Visitenkarte in die Brusttasche des Jacketts, das Pauline für diesen Anlass gekauft hatte. Matthew traf ein paar alte Bekannte und knüpfte neue Kontakte, an die er sich Minuten später nicht mehr erinnerte. Trotz des Katers vom Vortag schien er sich gut zu amüsieren, behauptete vor dem Zubettgehen jedoch, das Geschwätz der alten Männer sei unerträglich gewesen, sein eigenes mit eingeschlossen. Er sagte Wilbur noch einmal, wie stolz und glücklich er sei, dann schlief er ein.

Wilbur lag die halbe Nacht wach und blätterte in der Broschüre, die alle Endrundenteilnehmer erhalten hatten. Göteborg, las er immer wieder. Aus einem Ort etwa dreihundert Kilometer nördlich davon waren die Briefe seines Vaters gekommen.

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