Die Hard, 1988

Das Haus und Orla, das war Wilburs Welt. Er war kein kräftiger Junge geworden, Erkältungen zwangen ihn für Tage ins Bett, und nach fünf Liegestützen, die er heimlich machte, lag er heftig atmend auf dem Teppich in seinem Zimmer. Er war schmächtig und auch am Ende eines guten Sommers bleich, er hatte nie einen Fußball getreten und war auf keinen Baum geklettert. Die Hügelzüge um das Haus waren ihm bekannt, aber nicht vertraut. Das Meer mied er, nur an Orlas Hand sah er über das Wasser und stellte sich Fische darin vor, groß wie die Schiffe, die den Horizont querten.

Orla hatte eigenhändig eine Öffnung in die Mauer geschlagen. Stand die rot gestrichene Holztür offen, sah man einen Streifen Meer. Mit einer Spitzhacke hatte sie einen Teil der Asphaltdecke aufgebrochen und die Brocken in einer Schubkarre weggebracht. Von einem Haufen neben dem Haus hatte sie gute Erde in die Schubkarre geschaufelt und dort ausgekippt, wo der Asphalt steinigem Boden gewichen war. Sie hatte Büsche gepflanzt und Blumen, Efeu, der irgendwann die nackte Mauer bedecken würde. Auf der Fläche, die der Küche am nächsten war, verlegte sie wetterfeste Holzplanken, in einer Ecke baute sie für Wilbur einen Sandkasten, in die andere stellte sie einen runden Tisch und zwei Stühle.

Eamon hatte ihr nicht geholfen, dafür Colm Finnerty, ein unverheirateter Nachbar, der für ein paar Pfund und ein Mittagessen den Holzrahmen und die Tür in die Mauer eingesetzt hatte. Er hatte ihr auch das Material besorgt, die Bretter, die Bausteine, den Zement. Geld hatte sie zum Glück genug. Nach der Heirat hatte Eamon sie damit überhäuft, obwohl sie nicht viel damit anzufangen wusste. Den größten Teil hatte sie ihrer Schwester gegeben, die es für sie anlegte. Orla musste sie nur anrufen, dann schickte Deirdre, die mit ihrem Mann und den beiden Kindern noch immer in Galway lebte, den gewünschten Betrag per Post. Schon oft hatte Orla sich vorgestellt, nach Galway zu fahren, alles Geld abzuheben und damit ein neues Leben zu beginnen, irgendwo weit weg. Dann hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie im Angesicht Gottes einen Schwur geleistet hatte, ihren Mann nicht zu verlassen, bei ihm zu bleiben in guten wie in schlechten Tagen. Dass die guten Tage so schnell vorbei sein und die schlechten den Rest ihres Lebens ausmachen würden, hatte sie damals nicht ahnen können. Jetzt war sie froh, dass sie die ganzen Jahre neben Eamon ertragen hatte. Denn jetzt hatte sie Wilbur.

Wenn das Wetter es zuließ, verbrachten Orla und Wilbur den ganzen Tag in ihrem ummauerten Paradies. Im Sommer saßen sie im Schatten unter dem Vordach, das neben dem Küchenfenster aus der Hauswand ragte und an dessen Holzbalken wilder Wein rankte. Meistens spielte im Hintergrund das Radio, und Orla summte oder sang zu den Liedern mit, was Wilbur entzückte. Jeden Tag bauten sie im Sandkasten eine neue Stadt aus Steinen und Holzstücken, Blättern und Moos und was sie sonst noch fanden. Vogelfedern schmückten Türme, Muscheln bedeckten wie Kopfsteinpflaster die Straßen, und das Haus auf dem Hügel oder am Fluss zierte immer ein Seestern, den Wilbur an Orlas Hand in der Bucht gefunden hatte. In diesem Haus wohnten Wilbur und Orla, und es war immer das schönste der ganzen Stadt.

Regnete es, verbrachten die beiden den Tag in Wilburs Zimmer. Auch hier bauten sie Städte, nur waren die Häuser jetzt aus Pappe und die Türme leere Marmeladengläser. Orla hatte Wilbur ein Spielzeugauto geschenkt, ein rotes ohne Dach, aber Wilbur zeigte kein Interesse daran und parkte es am ersten Tag unter dem Bett, wo es fortan blieb. Was der Junge jedoch innig liebte, waren die Indianerfiguren aus Plastik, die Orla von einer Nachbarin, deren Sohn nach Australien ausgewandert war, geschenkt bekommen hatte. Die Frau hatte ihr einziges Kind von diesem Schritt abzuhalten versucht, und als es ihr nicht gelang, verschenkte sie aus Schmerz und Wut alles, was an ihn erinnerte. Fünf Figuren waren es, zwei davon saßen auf Pferden, einem schwarzen und einem weißen. Ihr Stamm bewohnte Häuser aus angemalter Pappe, hielt auf mit buntem Papier beklebten Türmen Ausschau nach Riesenbären in Strickjacken und teilte sein Land mit Zebras, Giraffen und Elefanten.

Eines der kleinen farbigen Holztiere gab es bei jedem Einkauf in McSweeney’s Gemischtwarenladen in Letterkenny, wohin Orla den Jungen zweimal im Monat mitnahm. Dort war es auch, wo Orla den Entschluss fasste, ein Auto zu kaufen. Der Zettel hing am schwarzen Brett beim Ausgang und fiel zwischen den achtlos hingekritzelten Inseraten auf, weil der Text fehlerfrei und in akkurater Handschrift verfasst war.»Günstig zu verkaufen, Nissan Sunny, 1979, himmelblau, tadelloser Zustand. «Die Worte Sunny und himmelblau genügten, um Orla davon zu überzeugen, dass es Zeit war, einen lange gehegten Traum zu verwirklichen.

Zwei Wochen später war Orla die neue Besitzerin des Autos, dessen Schlüssel ein pensionierter Lehrer ihr unter Tränen überreicht hatte. Weitere siebzehn Wochen danach hatte Orla den Führerschein in der Tasche. Die ersten Fahrten unternahm sie alleine, bis sie sich hinter dem Steuer sicher genug fühlte, um ihren Enkel mitzunehmen. Der beim Anblick des Wagens noch skeptische Wilbur saß bei seiner Jungfernfahrt angegurtet auf dem Beifahrersitz und staunte schon nach wenigen Metern über die neuen Landschaften, die ihm geboten wurden. Den Weg mit dem Bus nach Letterkenny kannte er, aber jetzt fuhren sie nach Osten und Südwesten, wie es ihnen gerade gefiel. Sogar ein eingebautes Radio gab es, und bald redeten die Leute in der Gegend von dem himmelblauen Gefährt, aus dem so laut Radiomusik und die Stimme der Lenkerin dröhnten, dass die Kühe auf den Weiden verschreckt die Köpfe hoben. Obwohl Wilbur die Musik nie laut genug sein konnte, brachte Orla ihn nicht dazu, mitzusingen. Wilbur wippte wild mit den Füßen und stieß ab und zu ein kurzes Johlen aus, aber in den Gesang einstimmen wollte er nicht.

Sie fuhren nach Glinsk, wo es einen Mann gab, der mit seinen Eseln sprach, nach Carrowkeel, das bekannt war für seine Bäckerei, nach Lehardan, wo es in einem Kirmeszelt ein Puppentheater gab, nach Gortaway, um den Segelbooten im River Swilly zuzusehen, und in die zahllosen anderen Ortschaften der Region, die ähnlich Spektakuläres zu bieten hatten. Einmal fuhren sie früh am Morgen los und waren am Nachmittag in Sligo, wo sie Orlas inzwischen geschiedene Schwester Deirdre trafen. Die Frauen weinten vor Freude, während Wilbur mit so viel Schokolade und Eis gefüttert wurde, dass er sich auf dem Heimweg übergab.

Nach den Ausflügen parkte Orla den Wagen in der leerstehenden Scheune von Colm. Eamon wusste weder vom Auto noch von Orlas Führerschein. Manchmal, wenn er in der Küche seinen Tee trank, war sie nahe daran gewesen, ihm alles zu erzählen. Doch dann entschied sie sich immer dagegen und schwieg, hörte seinem Schlürfen zu und hoffte, er würde bald wieder gehen.

Während Wilbur angefangen hatte zu reden, war ihr Mann noch schweigsamer geworden. Er nahm seine Frau und den Jungen kaum noch wahr, und wenn er es tat, starrte er die beiden an, als suche er in seinem verwirrten Kopf nach Gründen für ihr Dasein, Hinweisen auf ihre Herkunft, ihre Namen. Nicht einmal mehr die Zeitung las er, weder ein- noch zweimal am Tag. Trotzdem brachte der Postbote sie jeden Tag, und Orla suchte darin nach Meldungen, die sie Wilbur später vorlesen würde. Zum Beispiel die Geschichte vom Mastbullen, der in Leeds dem Schlachter davongerannt war, halb Yorkshire durchquerte und jetzt im Garten einer Familie lebte, die sich seiner erbarmt hatte. Vom alten Mann in Italien, der vergaß, wo er die Keksdose mit dem Ersparten vergraben hatte, wochenlang den Garten umpflügte und einen Goldschatz aus der Römerzeit fand. Oder von dem kleinen Jungen in Kilkenny, der sich, müde vom Spielen, auf die Rückbank eines Autowracks gelegt hatte und nur gerettet wurde, weil ein Blitzschlag die Schrottpresse lahmlegte.

Als Wilbur fünf Jahre alt wurde, zog Orla endgültig in sein Zimmer. Jede Nacht faltete sie die Wolldecke einmal zusammen und legte sich neben Wilburs Bett auf den Teppich. Weil sie am Morgen sowieso als erste wach war und in der Küche das Frühstück vorbereitete, merkte Eamon nichts von ihrer allnächtlichen Abwesenheit. Orla bezweifelte, dass er sie in seinen von Träumen beherrschten Nächten überhaupt noch wahrgenommen hatte, und nach einer Weile wusste sie mit Sicherheit, dass er sie nicht vermisste.

Nicht einmal Wilbur war bewusst, dass seine Großmutter seit zwei Jahren neben ihm schlief. Dass sie immer gleich an seinem Bett stand und ihm über den Kopf strich, wenn er wegen eines bösen Traums aufwachte, nahm er als selbstverständlich hin. Orla war seine Beschützerin, sein Engel, sie war das weiße Pferd, auf dessen Rücken er saß und keine Angst hatte. Sie war der vor Liebe glühende Kern seiner Welt, und er wollte niemanden sonst in dieser Welt haben. Allen voran nicht seinen Großvater, der einen Schatten warf auf die Sandkastenstädte wie der Riese aus dem Märchen, das Orla ihm vorgelesen hatte. Wenn der Mann nur weg wäre, dachte Wilbur vor dem Einschlafen, wenn er nur aus dem Haus gehen und nicht mehr zurückkommen würde.

Aus dem Haufen war ein Hügel, aus dem Hügel ein Berg geworden. Sein Erbauer war gleichzeitig geschrumpft, ging gebückt die Stufen hinauf und trug Steine wie Opfergaben. Sogar auf der Spitze wirkte er klein, eine Termite auf ihrem Bau. Mit schrundigen Händen und die Finger fast steif von der Gicht, ruhte er sich manchmal auf den Resten der Kirche aus, trank Wasser aus dem Krug, in dem sommers tote Insekten schaukelten, und aß den Kanten Brot, der in ein Tuch gewickelt war. Er sah die runde Steinpyramide nicht als sein Werk, sich selber jedoch als Werkzeug. Er kaute Brot mit den paar Zähnen, die ihm geblieben waren, und vermied es, auf das Meer hinauszusehen.

Stand die Sonne über ihm und blieb er zu lange sitzen, erwärmte sich sein Kopf, und etwas darin schien sich mit Lichtpartikeln anzureichern. Bilder leuchteten schwach und verschwommen auf, zitterten wie die Säure in einer Batterie, die keine Kraft mehr hat, einen ganzen Mechanismus in Bewegung zu setzen. Zu matt war das Glimmen, um ihm die Gesichter zu zeigen, die er einmal gekannt hatte. Staub auf dem Flügel einer Motte waren sie, aufgeladen mit Mondlicht, rasch verblassend.

Wolken strichen über Eamon hinweg, Regen und Wind. Die Tage vergingen, die Jahre, alle wirklichen und erdachten Leben. Er hockte auf kaltem Stein und atmete, ein verbrauchter Körper, unnütz zur Aufbewahrung von Erinnerung. Nie jung gewesen, nie ein Kind. Nie der Mann, der am irischen Nationalfeiertag beschließt, seinem erfundenen Leben ein Ende zu setzen, indem er die Wahrheit erzählt. Nie der junge Kerl, der vor versammelter Menge eine Beichte ablegen, sich bei seinen toten Eltern entschuldigen will. Der in der Rede, die er im Grattan Park in Galway halten soll, einen Lügner aus sich machen will, einen Betrüger und Dieb, vielleicht einen Mörder. Der alles vergisst, als er sie sieht. Seine Vorsätze über den Haufen wirft, seine Zuhörer begeistert mit Anekdoten von Bären und Banditen und dabei nur sie ansieht. Für sie alle Lügen wiederholt, alle Geschichten bestätigt und alle Legenden glänzen lässt wie das Gold, das er ihr schenken will.

Dieser Mann war er nicht. Vielleicht kannte er ihn, früher einmal, hatte seine Geschichte in einer Zeitung gelesen, denselben Artikel zweimal am selben Tag. Zweimal die Geschichte, deren Held ein junger Ire war, der in Amerika zu einem neuen Leben kam. Nein, das war er nicht. Wer sollte ihm das Lesen beigebracht haben? Sein Vater? Nicht einmal an den Geruch von Schafen erinnerte er sich. Er saß auf den letzten in die Erde sinkenden Steinen, die den Umriss eines Schiffs in die Wiese zeichneten, und kaute Brot, das jeden Tag in der Küche lag. Wer es dort für ihn hinlegte, wusste er nicht. Manchmal sah er eine Frau, die ihm aus dem Weg ging. Es kam vor, dass ihr Anblick eine Helligkeit in ihm entfachte, ein Funkeln nur, zu kurz, um eine wirkliche Empfindung auszulösen, aber lange genug, um eine Ahnung zu wecken, die jedoch bald abklang.

Nie würde er erfahren, wer die Frau war, die das Brot besorgte und die Äpfel, die seine Kleidung wusch und wusste, dass er Rindfleisch und Kartoffeln mochte und Kuchen. Und nie mehr würde er sich daran erinnern, dass er der Mann war zu dieser Frau. Dass es Zeiten gegeben hatte, da sie neben ihm lag. Dass ihr das Haar gehörte, das er auf dem Laken gefunden und das er um den Finger gewickelt hatte an der Stelle, an der früher ein goldener Ring gewesen war.

Nichts war ihm geblieben, wenn er unter dem weiten Himmel saß, kauend wie ein Schaf, und die Sonne ertrug und den Regen und die Kälte. Verschwunden waren die Bilder in seinem Kopf, die ihn mit den beiden Schwestern zeigten, Hand in Hand durch die Nacht treibend und etwas mit aller Kraft festhaltend, das ein Versprechen auf Glück schien, auf Trost und auf Vergebung.

Orla wollte Wilbur zu Hause unterrichten und stritt mit den Behörden fast ein Jahr lang um dieses Recht. Sie hatte es geschafft, ihn vor dem Vorschulunterricht und der ersten Klasse zu bewahren, aber obwohl der Junge fließend lesen und schreiben und einigermaßen rechnen konnte und wusste, was ein Buckelwal war und wie ein Vulkan entstand, verlor sie den Streit in letzter Instanz. Einen Tag nach der amtlichen Verfügung steckte man den acht Jahre alten Wilbur, der mühelos als Sechsjähriger durchging, in die Uniform und zweite Klasse einer Schule, die in einem schmucklosen Gebäude außerhalb einer Ortschaft namens Portsalon untergebracht war.

Es gab zwar einen Bus, der die Kinder auf den entlegenen Höfen aufsammelte, aber Orla fuhr Wilbur selber zur Schule und holte ihn dort wieder ab. Manchmal, nachdem sie im Auto gewartet hatte, bis Wilbur im Schulhaus verschwunden war, fuhr Orla an die nahe Küste und blieb dort, bis der Unterricht zu Ende war. Ohne ihren Enkel fühlte sie sich im Haus einsam und unnütz. Die ersten Tage allein hatte sie damit verbracht, das Zimmer aufzuräumen, die Küche gründlich zu putzen und für Eamon Essen vorzukochen, das sie in Plastikschüsseln abfüllte und einfror. Dann wusch sie sämtliche Vorhänge, jätete verbissen Unkraut und strich die Stühle, die das ganze Jahr draußen standen, neu. Als sie sich nach einer Woche dabei ertappt hatte, wie sie vor dem Sandkasten kniete und Muscheln nach ihrer Größe sortierte, war sie in den Wagen gestiegen und losgefahren.

Die Küste in der Nähe des Schulhauses unterschied sich nicht von der bei Fanad Head, aber die Tatsache, dass es nicht die vor ihrem Haus war, wirkte auf Orla beruhigend. Oft saß sie stundenlang im Auto, suchte einen Sender und blickte auf das Meer, das dasselbe war wie in ihrer Bucht und doch ein anderes. Seine Farbe war heller, und die Wellen erschienen ihr weicher und weniger bedrohlich. Sogar die Möwen hier kamen ihr freundlicher vor, sie flogen höher und ihre Rufe klangen lockend statt spöttisch. Wenn das Wetter es erlaubte, ging sie ein wenig spazieren und ließ sich den Wind über das Gesicht wehen. Beim Gehen überlegte sie sich, worüber sie mit Wilbur reden, was sie in den nächsten Tagen für ihn kochen und welche Geschichten aus der Zeitung sie ihm während des gemeinsamen Abendessens erzählen würde.

Im Auto lernte sie die Texte von Liedern auswendig, die im Radio gespielt wurden, strickte Pullover und füllte Zettel der öffentlichen Bibliothek von Letterkenny aus, mit denen sie Bücher für Wilbur reservierte. All das tat sie, um Zeit totzuschlagen, aber ihr wirkliches Leben fing immer erst dann wieder an, wenn sie mit Wilbur zusammen war.

Die ersten Wochen in der Schule waren für Wilbur die Hölle, und die Zeit danach wurde nicht viel besser. Er war der schmächtigste und kleinste unter den Jungen, und die Tatsache, dass ein Artikel über den Streit, den seine Großmutter geführt hatte, im Donegal Democrat erschienen war, machte ihn zur lokalen Berühmtheit. Die Lehrer, deren pädagogischen Fähigkeiten Orla McDermott infrage stellte, empfingen ihn mit kaum verhohlener Missbilligung, und für seine Mitschüler bot er die ideale Zielscheibe für Spott und Verachtung. Wilburs Klassenlehrerin, Miss Ferguson, eine Witwe in den späten Fünfzigern, behandelte ihn zwar wie ihre übrigen Schüler, aber das änderte nichts daran, dass er todunglücklich war. Er vermisste Orla, er wollte ihre Stimme hören und sie in jeder Sekunde, in der er wach war, bei sich haben. Zwar brachte er den Lehrbüchern und der Landkarte ein gewisses Interesse entgegen, aber im Klassenraum fühlte er sich eingesperrt, er hasste den Ton der Pausenglocke und fürchtete sich vor seinen Mitschülern.

Oft saß Wilbur auf seiner Bank, hielt in der Hosentasche den Indianer auf dem Pferd fest und dachte an Orla und daran, dass er alles dafür geben würde, bei ihr zu sein. Ertappte ihn Miss Ferguson bei seinen Tagträumereien, musste er aufstehen und unter den Blicken der übrigen Kinder wiederholen, was die Lehrerin eben gesagt hatte. Weil er das nicht konnte, musste er für den Rest des Unterrichts neben ihrem Pult stehen, ohne sich zu rühren, und regelmäßig ließ sie ihn eine Stunde nachsitzen und Sätze in ein liniertes Heft schreiben.

«Ich soll der Lehrerin zuhören.«»Ich soll dem Unterricht folgen. «Jede Seite hatte dreiundzwanzig Zeilen, und für jede Zeile ließ Wilbur sich genau so viel Zeit, dass die Strafaufgabe die Stunde füllte. Das erste Mal hatte er den Fehler begangen, nach einer halben Stunde fertig zu sein und aus dem Fenster zu sehen, worauf Miss Ferguson ihn eine weitere Seite schreiben ließ und eigens für ihren unaufmerksamen Wunderknaben anspruchsvollere Sätze ersann.»Wenn Gott gewollt hätte, dass ich den Tag mit unnützen Gedanken verschwende, hätte er mich zum sorglosen Äffchen im Urwald gemacht.«»Ich bin ein leeres Gefäß, und meine Unaufmerksamkeit ist der Riss, durch den das Wissen rinnt.«»Die Schule ist ein Ort des Fleißes und Lernens, nicht des Müßiggangs und Träumens.«

Immerhin war Wilbur nicht der einzige, der nachsitzen musste. Auch andere Kinder schenkten dem Unterricht nicht die Beachtung, die Miss Ferguson forderte. Zudem verhängte sie Strafen für alles, was in irgendeiner Weise gegen ihre selbsterlassenen und ständig erweiterten Regeln verstieß. Ihr langer Katalog der Vergehen reichte von kleinen Sünden wie schmutzige Fingernägel, Nasebohren oder Bleistiftkauen über schwerer wiegende Verstöße wie Abschreiben, Ritzen von Initialen und Zeichen in die Pultdeckel oder Mitbringen von Spielzeug und Comic-Heften bis zu Kapitalverbrechen, zu denen unentschuldigtes Zuspätkommen, dreckige Schuhe im Klassenraum und Prügeleien zählten und die, je nach Schwere, mit einmaligen Ermahnungen, Strafaufgaben und Nachsitzen geahndet wurden.

Weil Wilbur immer mit sauberen Schuhen und Fingernägeln zur Schule ging, alleine in der vordersten Bank saß und somit niemanden zum unerlaubten Reden hatte, den Indianer auf dem Pferd nie aus der Hosentasche nahm und auch sonst nichts tat, was Miss Ferguson hätte missfallen können, blieb es bei den zwei bis drei Stunden Nachsitzen pro Woche wegen Tagträumens.»Es ist nicht lehrreicher, vorüberflatternde Vögel zu beobachten, als den Ausführungen der Lehrerin zu folgen. «DOCH! hätte Wilbur am liebsten hinter jede Zeile geschrieben. Zu Hause lag Die Schatzinsel auf seinem Kopfkissen, und im Regal warteten Reise zum Mittelpunkt der Erde und In achtzig Tagen um die Welt auf ihn, und sie lasen seit Monaten in einem Buch, dessen Sätze so einfältig und langweilig waren wie die Illustrationen dazu.»John kauft einen Apfel im Laden.«»Mister Smith trägt einen neuen braunen Hut. «Natürlich waren die Vögel vor dem Fenster interessanter! Jedes ihrer Flugmanöver war aufregender als alle dummen Sätze des Buches zusammen. Jeder Flügelschlag, jedes Glitzern der schwarzen Federn im Licht war tausendmal spannender als die Art, wie Miss Ferguson ihr Wissen weitergab.»Mit meiner Weigerung, dem Unterricht zu folgen, beschäme ich nicht nur mich und die Schule, sondern auch meinen Schöpfer. «Selbst nach der hundertsten Niederschrift gelang es Wilbur nicht, die tiefere Bedeutung des Satzes zu begreifen.

Conor Lynch machte sich gar nicht erst die Mühe, den Sinn der Wörter zu ergründen, die er ungelenk und mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen zu Papier brachte. Es war eine Bestrafung, und er nahm sie hin wie schlechtes Wetter oder Zahnschmerzen. Im Gegensatz zu Wilbur bereitete es ihm große Mühe, die Seite innerhalb einer Stunde zu füllen, und das, obwohl er es noch immer mit den einfachen Sätzen zu tun hatte. Je mehr sich der Minutenzeiger der Zwölf näherte, umso schneller versuchte er zu schreiben und umso unleserlicher wurde seine Schrift, die ihm bereits unter größter Anstrengung nur ein Ungenügend einbrachte. Dann begann er zu ächzen und mit den Füßen zu scharren, und Wilbur konnte seinen Schweiß riechen.

Während Wilbur ruhig und flüssig Satz um Satz aufreihte, genoss er die Pein, die Conor Lynch erduldete. Jeder Seufzer erfüllte ihn mit Genugtuung, jedes kaum hörbare Wimmern entschädigte ihn für die Schläge, die er von dem Rüpel oder einem seiner Kumpane eingesteckt hatte. Heulte Conor leise auf, wenn ein Tintenklecks eine ganze Zeile ruinierte, hüpfte Wilbur das Herz vor Freude. Auch bei Conor hatte Wilbur zu Beginn des Schuljahres einen Fehler begangen, indem er ihn während des Nachsitzens schadenfroh angrinste. Später auf dem Flur und von Miss Ferguson unbemerkt, hatte Conor sich mit einer Kopfnuss gerächt, die Wilburs Schädel noch Stunden später summen ließ. Seither verkniff er sich jegliche Reaktion auf Conors Leiden und beschränkte sich darauf, seine kleinen Triumphe heimlich zu genießen.

Manchmal, wenn er seine Strafe absaß und Miss Ferguson für kurze Zeit den Raum verließ oder an ihrem Pult in ein Buch versunken war, sah Wilbur aus dem Fenster. Dabei achtete er darauf, den Kopf nur ein wenig zu drehen, kaum sichtbar, und stattdessen den Blick so weit wie möglich zur Seite zu lenken. Wenn er dann Orla entdeckte, die weit entfernt auf dem leeren Feld neben der Schule stand, durchströmte ihn das warme, wohlige Gefühl, das ihm während der endlos langen Stunden in diesem Gebäude so sehr fehlte. Orla schien zu spüren, wenn Wilbur sie ansah, und hob eine Hand, um ihm zuzuwinken. Wenn es besonders kalt war oder sie gute Laune hatte, hüpfte sie auf und ab und fuchtelte dabei mit den Armen, und ein der übrigen Welt verborgenes Lächeln legte sich für den Rest der Stunde auf Wilburs Gesicht.

Was für die anderen Kinder das Beste an der Schule war, fürchtete Wilbur am meisten. In den Pausen verkroch er sich in eine Ecke des von Steinmauern und Maschendrahtzaun eingefassten Hofes und hoffte, für einmal verschont zu bleiben. Ein Gestrandeter am Ufer eines Meeres aus Lärm, duckte er sich an die Mauer, machte sich kleiner, als er war, hob schützend die Hände vor das Gesicht, wenn die Wogen der Balgenden und Kämpfenden zu nahe an ihn heranbrandeten, und zählte die Sekunden bis zum erlösenden Schrillen der Glocke.

Als Conor, flankiert von seinen Freunden Sean Finn, Niall McCoy und Liam O’Donnell vor ihn trat, schloss Wilbur die Augen und flehte stumm darum, unsichtbar zu werden, im Boden zu verschwinden oder in einer Mauerritze.

«He, Hosenscheißer!«Conor gab sich Mühe, tief und bedrohlich zu klingen, obwohl auch er noch eine ganze Weile auf den Stimmbruch warten musste. Sein Gefolge kicherte, ballte nervös die Fäuste in den Taschen.»Warum biste so weiß?«

«Bleicher als ’n Nonnenarsch«, sagte Niall McCoy, der vorlauteste unter dem Trio, das an Conor klebte wie Putzerfische an einem Hai.

Conor trat einen Schritt nach vorne, um klarzumachen, dass es sein Vorrecht war, dem dürren Knilch eine Lektion zu erteilen. Dem Streber, der im Unterricht alles wusste und den Rest der Klasse dumm aussehen ließ, der mühelos in Büchern las und auf der Karte jedes noch so kleine Land am Ende der Welt fand. Dem Fremden, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte. Dem Abkömmling eines Selbstmörders.

«Was haste da eigentlich inner Tasche?«Conor zeigte mit der Schuhspitze auf Wilburs Hand, die in der Tasche seiner Hose steckte.

Wilbur antwortete nicht, sah Conor nicht an. Er blickte durch den Spalt in der Mauer aus Beinen, die vor ihm einen Halbkreis bildete, wartete, zählte lautlos Sekunden. Vielleicht kam eine Lehrerin vorbei und wollte wissen, was los sei. Oder einer der Lehrer sah aus dem Fenster der kleinen Teestube, deutete die Ansammlung richtig und schritt ein, bevor etwas passierte. Wilbur wünschte sich Regen. Ein Wolkenbruch würde die Kinder ins Gebäude scheuchen. Dort wäre er einigermaßen sicher, solange er auf dem Fenstersims saß, gut sichtbar für die Lehrkräfte, die Aufsichtsdienst hatten.

Zwei Hände packten seinen Arm, und er öffnete die Augen. Conor riss seine Hand aus der Hosentasche, die den Indianer und das Pferd umklammerte. Wilbur und Orla. Warm von seinem Körper, ans Tageslicht geholt nur in der Sicherheit des Autos, des Zimmers, des Gartens. Niemand außer ihm und Orla durfte die Figuren berühren.

«Sieh mal an. «Conor hatte Wilburs Hand mit der Leichtigkeit geöffnet, mit der er einen Apfel in zwei Hälften brach. Jetzt hielt er Wilburs Unterarm mit der einen Hand fest, während die andere den reitenden Indianer herumzeigte.

«Das Bleichgesicht hat eine Rothaut zum Freund. «Niall lachte. Als Conor grunzte, lachten auch Sean und Liam.

«Der Bettnässer spielt also nicht nur mit Puppen«, versuchte es Liam und war erleichtert, als die Freunde glucksten.

Wilbur hing an Conors Hand wie ein zerschlagener Boxer, den der Ringrichter zum Sieger erklärt. Er kniete mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, der kalt war und dunkel von einem Regen, der nicht auf ihn gewartet hatte. Sein Schultergelenk tat weh, Conor verdrehte es.

«Soviel ich weiß, ist Spielzeug hier verboten«, sagte Conor und erntete Zustimmung. Er grinste wie ein Anwalt im Fernsehen, der die Geschworenen im Griff, den Prozess so gut wie gewonnen hat. Er wandte sich an Wilbur, studierte dessen vor Schmerz und Angst verzogenes Gesicht.»Du weißt doch sonst alles, Klugscheißer.«

Wilbur atmete ein und aus. In der Hand hielt er eine Fackel, deren Flammen seine Haut versengten. Er hatte sich verzählt und wollte von vorne beginnen, aber er vergaß, was nach der Acht kam. So alt war er jetzt, acht, und sah aus wie fünf, ein bleicher Knirps mit hellbraunen Haaren, über das die Verkäuferinnen bei McSweeney’s strichen, ein Winzling, dem wildfremde Frauen das hübsche Gesicht tätschelten. Ein Schwächling, der nachts zu einem Gott betete, dessen Existenz er anzweifelte. Ein Baby, das an der Hand der Großmutter eine Welt erkundete, die ihm auf Buchseiten entgegenleuchtete und die kleiner war als dieser Schulhof. Ein Angsthase, der an manchen Tagen tot umfallen wollte, statt zur Schule zu gehen. Ein Feigling wie sein Vater.

Er hörte das Schrillen der Pausenglocke und wusste nicht, dass es das Geräusch von Hass und Wut war, das in ihm aufstieg wie der Wirbel eines Tornados, dessen Bilder er im National Geographic gesehen hatte. Raunen hörte er, zu leise, um den Argwohn der Lehrer zu erwecken. Und dann, in einer Sekunde der Stille, im reglosen Auge des Sturms, hörte er seine eigene Stimme.

«Gib sie zurück.«

Gleich darauf spürte er einen heftigen Schmerz, als reiße etwas in seiner Schulter, die Schnur, mit der der Hund an der Scheune angebunden ist. Er spürte die Tränen, die aus seinen Augen strömten, vielleicht schon lange über die Wangen liefen, und er spürte, wie seine geballten Fäuste auf etwas Hartes trafen und wie der Schmerz zur Kraft wurde, zum blinden Toben gegen einen Schädel, an dem weiche Teile unter seinen brennenden Knöcheln nachgaben, fühlte, wie er nach vorne stürzte und statt auf dem Boden auf etwas Nachgiebigem landete, etwas, von dem er büschelweise feines Gras reißen konnte und das brüllte wie ein Tier im blechernen Dunkel eines Transporters, unterwegs zum Schlachthof. Blut und Rotz und Spucke benetzten seine Hände, sein Atem war heiß. Er röchelte, zitterte, schlug beide Fäuste ein letztes Mal in das Weiche, unter dem das Harte lag und glühende Nadeln in seine Finger trieb, dann seufzte er matt und unerlöst, wollte zur Seite kippen und wurde hochgehoben, schwebte davon, ein Engel der Rache, ein müde keuchendes Engelchen, in dem der Zorn erkaltete, an einem Seil über der Bühne schwebend, der Arena, umspült von Lärm und geweiht vom Wasser eines verspäteten Regens.

Orla rieb die blau verfärbte und geschwollene Schulter mit Arnikasalbe ein und wickelte ein Tuch darum. Dabei summte sie für Wilbur ein Lied, Mistletoe and Wine von Cliff Richard, das in England die Hitparade anführte. Obwohl sie den Text auswendig konnte, ließ sie ihn weg, denn sie fand, ihr Summen sei beruhigender.

Wilburs Schulter war von einem Arzt in Letterkenny eingerenkt worden, demselben Arzt, der Conor die gebrochene Nase gerichtet, ein geschwollenes Auge behandelt und die geplatzte Unterlippe genäht hatte. Der Mann, ein ehemaliger Militärarzt, der schon einiges gesehen hatte, wollte von dem Lehrer immer wieder wissen, ob wirklich der Kleine für den üblen Zustand des Großen verantwortlich sei, und als der Lehrer jedes Mal mit ja antwortete, kicherte der Arzt in sich hinein und murmelte etwas von Boxtalent und wildem Stier.

Orla, die nach Unterrichtsschluss vor der Schule vergeblich auf Wilbur gewartet hatte und von einem Lehrer über den Zwischenfall informiert worden war, fand die Sache ebenso wenig witzig wie Conors Mutter, die weinend im Behandlungszimmer gesessen und versucht hatte, ihrem Sohn die Hand zu halten. Der Lehrer hatte Orla mit Konsequenzen gedroht, und Orla hatte geantwortet, von ihr aus könne man Wilbur jederzeit der Schule verweisen, dann unterrichte sie ihn eben wieder zu Hause.

Wilbur lag in seinem Bett, lauschte Orlas Summen und bewegte die Finger unter den Handtüchern, zwischen denen ein mit Eiswürfeln gefüllter Plastikbeutel lag. Er hatte seit der Prügelei keinen Ton von sich gegeben, während der Heimfahrt seine aufgedunsenen Hände angestarrt und sich gewünscht, Orla würde das Radio einschalten und so laut singen, wie sie konnte. Im Behandlungszimmer hatte er es vermieden, Conor anzusehen. Er war eingesunken auf dem Stuhl gesessen, während die alte Arzthelferin seine Knöchel mit Jod abtupfte und dabei leise vor sich hin murmelte, kopfschüttelnd und immer wieder enttäuscht mit der Zunge schnalzend.

Er hatte sich im Spiegel an der Wand gegenüber gesehen und nicht geglaubt, dass dieser Zwerg es war, der den auf der Liege ausgestreckten Jungen so zugerichtet hatte.

«Was du getan hast, war falsch«, sagte Orla sanft und strich Wilbur eine Haarsträhne aus der Stirn.»Das weißt du, nicht wahr?«

Wilbur nickte. Er bestrafte sich, indem er die Finger krümmte. Wasser trat in seine Augen, er sah Orlas Gesicht durch einen dünnen Film, der das Licht der Deckenlampe in Stücke brach. Orla lächelte, legte den Kopf schräg und presste die Lippen zusammen. Sie streichelte Wilburs Wangen, ihre Hand roch nach der Salbe. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn.

«Versuch jetzt, zu schlafen.«

Wilbur sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ. Er wusste, sie würde zurückkommen, wenn er schlief, würde sich auf die Wolldecke neben ihn legen und bei ihm sein, wenn er sich im Schlaf drehte und die wunde Schulter ihn weckte. Sie würde immer bei ihm sein. Das war, was Wilbur dachte und was ihn tröstete, bevor er einschlief.

Wilburs Hände heilten langsam. Nachdem die Schwellungen abgeklungen und die Schorfplacken abgefallen waren, konnte er keine Faust mehr machen. Er wollte sich zwar sowieso nie mehr schlagen, aber er schaffte es auch nicht mehr, sicher einen Stift zu halten oder eine Gabel. Orla machte Meerwasser warm, in dem er die Hände baden musste, rieb sie mit einer Tinktur aus Alkohol und Wallwurz ein, massierte sie und kaufte ihm einen Gummiball, den er kneten sollte. Zur Schule musste er nicht, der Arzt hatte ihm ein Attest ausgestellt.

Orla geriet in ein moralisches Dilemma, weil sie einerseits um Wilburs Hände besorgt war, andererseits aber nur halbherzig bedauerte, dass der Heilungsprozess kaum Fortschritte machte und Wilbur bei ihr blieb, statt zur Schule zu gehen. Nach ein paar Tagen war sie mit ihm nach Dublin gefahren, wo seine Hände einem Spezialisten vorgeführt wurden. Der Orthopäde, ein junger Franzose, der dauernd scherzte und Englisch und Muttersprache vermischte, sah sich die Röntgenaufnahmen an und sprach dabei leise seltsame Sätze in ein Diktiergerät, was aussah, als wolle er mit seinen wunderlichen Worten einen in der Faust gefangenen Vogel beruhigen. Dann gab er Orla eine Salbe mit und ermutigte sie, die Therapie mit den Meerwasserbädern und dem Gummiball weiterzuführen. Zum Abschied tätschelte er Wilburs Kopf und nannte ihn little filou.

Da sie nun mal in Dublin waren, beschloss Orla, ihrem Enkel die Stadt zu zeigen, in der sie vor vielen Jahren eine kurze glückliche Zeit mit Eamon verbracht hatte. Sie stellten das Auto in einem Parkhaus ab und ließen sich auf dem Oberdeck eines Busses durch die Straßen schaukeln, gingen im Phoenix Park und entlang dem River Liffey spazieren, aßen in einem Café riesige Portionen Eis und schlenderten Hand in Hand durch Einkaufszentren und von Läden gesäumte Gassen. Wilbur fand nicht, dass er nach der Schlägerei ein Geschenk verdiente, aber Orla kaufte ihm trotzdem eine Uhr mit Lederarmband, die ihr in der Auslage eines Schmuckgeschäfts aufgefallen war. Weil Wilburs Handgelenk schmal wie der Hals einer Ente war, musste die Verkäuferin ein neues Armband dafür holen, eines für Mädchen, wie sie Orla flüsternd verriet. Das Leder war unecht und imitierte die Haut einer Schlange oder eines Reptils, es schimmerte manchmal blau und im nächsten Moment grün, und es fühlte sich glatt an, leicht bucklig und kühl. Wilbur war so stolz darauf, eine Uhr zu besitzen, dass er Orla alle paar Minuten die Zeit mitteilte, und jedes Mal lachte Orla und bedankte sich. Während sie durch die Straßen gingen, hielt Wilbur die Hand mit der Uhr vor sein Gesicht, als wartete er darauf, dass das Datum endlich wechselte. Sprang der Minutenzeiger nach vorne, hüpfte Wilbur, und mit der Uhr an der Ohrmuschel strahlte er vor Freude und Erstaunen über die winzige Fabrik, die unermüdlich und leise klickend Zeit produzierte.

Orla vermied es, in die Nähe der Straße zu kommen, in der sie mit Eamon vor dem Umzug nach Cork gelebt hatte. Das erste Jahr nach der Hochzeit war das beste gewesen, obwohl die fremde Stadt und der plötzliche Wohlstand ihr zu Beginn fast Angst gemacht hatten. Eine Bedienstete kochte und putzte für sie, und es war Orla peinlich, von der Frau, die ihre Mutter hätte sein können, Madam genannt zu werden. Deirdre wohnte eine Zeitlang bei ihnen, und die beiden Schwestern streunten durch die Stadt, blieben vor den Schaufenstern der teuren Geschäfte stehen und trauten sich nicht hinein, weil man ihnen anhörte, woher sie stammten, und weil sie dachten, die feinen Verkäuferinnen könnten den Fisch riechen, mit dem sie aufgewachsen waren.

Zwischen den wuchtigen Häusern kamen sie sich klein vor und fehl am Platz, und nur an den Kais, wo es nach Meer und Tang roch und der salzgetränkte Himmel Weite und Meer andeutete, fühlten sie sich wohl, wurden jedoch schief angesehen in ihren noblen Kleidern und blieben bald einmal zu Hause, lasen Bücher und schrieben lange Briefe an ihre Eltern.

Deirdre hatte sich in Galway in einen jungen Mann verliebt, der nach England gegangen war, wo er, wie seine drei Brüder, Arbeit auf einer Schiffswerft fand. Jede Woche kam ein Brief von ihm, in dem er ihr in sperrigen, aber von Herzen kommenden Worten schrieb, wie sehr sie ihm fehlte. Schon nach wenigen Monaten teilte er ihr mit, er sei todunglücklich in England, vermisse Deirdre und seine Familie und seine Stadt und komme mit dem nächsten Schiff zurück. Kaum hatte Brendan Cavanagh in Galway irischen Boden betreten, heiratete er Deirdre, und Orla war in Dublin alleine mit dem Mann, dessen Wesen sie mit jedem Tag weniger verstand.

Eamon hatte gehofft, Orla würde die Schatten seiner Vergangenheit mit ihrem inneren Feuer verbrennen, würde mit ihrem Lachen die dunklen Gedanken vertreiben, die ihn besetzt hielten wie Krähen einen Turm. All das Geld würde eine Berechtigung erhalten, dachte er, wenn er es für Orla ausgäbe. Läge sie jede Nacht bei ihm, hörten die Träume bestimmt auf, die hell erleuchteten Albträume, in denen er einem Mann eine Wolldecke auf das Gesicht drückte, in denen er Goldstücke aus einem Boot klaubte und gierig verschluckte und in denen er sich in der engen Höhle eines Tieres verkroch, um sein verzerrtes Spiegelbild im blanken Metall eines Revolvers zu betrachten und aufzuschreien vor Entsetzen.

Aber seine Hoffnungen erfüllten sich nicht. Orla lenkte ihn ab und riss ihn aus dem Brüten über seine Sünden heraus, sie warf einen Lichtstrahl in das Loch im Hügel, in dem seine Seele hockte und darauf wartete, erlöst zu werden. Ihre Anwesenheit zwang ihn, unter Menschen zu leben und ihre Sprache zu sprechen, nötigte ihn zu Worten, Gesten, Zeichen von Anteilnahme. Sie half ihm, mit dem Trinken aufzuhören. Was Orla nicht konnte, war, ihren Mann vor seinen Dämonen zu beschützen, ihn mit ihrer Liebe und mit der Kraft ihres Lebens davor zu bewahren, in den langen vor ihnen liegenden Jahren den Verstand zu verlieren.

Hand in Hand gingen sie durch die Stadt, die Wilbur Angst einjagte und zum Staunen brachte. Oft drängten sich so viele Menschen aneinander vorbei, dass Orla ihn an sich zog und vor einer Hausmauer wartete, bis die Flut aus Körpern verebbt war. Dann legte sie ihm beide Hände auf die Schultern oder die Brust, und Wilbur sah den fremden Leuten nach und verspürte kein Verlangen, jemals etwas mit ihnen zu tun zu haben. Nahm das Geschiebe ab, mischten sich die beiden wieder unter die Passanten und schlenderten zu ihrem nächsten Ziel, das sie noch nicht kannten. Vor einem Kino blieb Wilbur stehen und wollte wissen, was sich in dem Gebäude befinde, unter dessen Vordach sie auf dem Gehsteig standen und das man durch zwei Doppeltüren betreten und verlassen konnte. Orla erklärte es ihm und hob ihn hoch, damit er die farbigen Bilder sehen konnte, die in Schaukästen links und rechts neben dem verglasten Kassenhäuschen hingen, in dem eine dünne Frau saß und eine Illustrierte las.

Die Bilder zeigten ein Hochhaus, aus dem eine Blase gelben Feuers wuchs, und einen Mann mit schwarzem Gesicht, der Wilbur an den Krieger erinnerte, dessen Fotografie er in einem Bildband über Afrika gesehen hatte. Auf dem Bild, das Wilbur am meisten faszinierte, saß ein Mann, den Rücken gegen eine Wand gelehnt, am Boden und hielt einen Revolver in der Hand, mit dem Cowboys auf Indianer schossen. Der Mann trug ein weißes Unterhemd wie der Mechaniker, der im Sommer fast im aufgerissenen Maul von Orlas Auto verschwunden war. Das Unterhemd des Mannes, der müde aussah und trotzdem stark, war zerrissen und blutbefleckt, sein Gesicht und seine Arme waren schmutzig und mit Schnitten übersät.

Orla ging mit Wilbur rasch weiter zum nächsten Schaukasten, in dem bunte Bilder eines Trickfilms hingen, und sagte etwas, das Wilbur nicht verstand, weil er nicht zuhörte. Er schielte zum Bild mit dem blutüberströmten Mann, während Orla redete, und er fragte sich, was mit dem Mann passiert sein mochte. An Conor dachte er, dem Blutspritzer als schiefe Spur über das Hemd gelaufen waren, Punkte einer unsichtbaren Krawatte.

Zwei Halbstarke stellten sich vor die Schaukästen, beide in schwarzen steifen Lederjacken, in denen sie steckten wie Käfer in ihren Panzern. Der eine erzählte dem anderen von dem Film, schuf beidarmig Explosionen, stieß ihn aufgeregt lachend in die Seite und ahmte mit geiferndem Mund und die Hände um ein unsichtbares Gewehr geklammert etwas nach, das Wilbur, der heimlich und beeindruckt zuhörte, als Schüsse deutete. Orla warf den beiden einen verärgerten Blick zu und verließ mit Wilbur, den sie noch immer trug, den Eingangsbereich des Kinos. Es war später Nachmittag geworden, die Vorstellungen hatten schon begonnen, und wenn sie nach Hause wollten, bevor es dunkel wurde, mussten sie los. Orla setzte Wilbur ab, nahm seine Hand und versprach, mit ihm in den nächsten Tagen ins Kino nach Letterkenny zu fahren, wo der Trickfilm ebenfalls gezeigt wurde.

Während sie zum Parkhaus gingen, erzählte sie ihm von einem Film über ein Rehkitz, den sie gesehen hatte, aber Wilbur war nicht mehr interessiert an sprechenden Tieren. Er wollte wissen, wer dieser Mann auf dem Bild war und wozu er die Waffe benutzte, obwohl es in dem Film keine Indianer zu geben schien. Doch er fragte Orla nicht, ging neben ihr her, abwesend zuhörend. Seine Hand rutschte aus ihrer, und Orla griff danach und umschloss sie fester.

Drei Wochen nach dem Vorfall auf dem Pausenhof musste Wilbur wieder zur Schule. Seine Hände waren verheilt, die Finger beweglich wie zuvor. Machte er eine Faust, zuckte ein dumpfer Schmerz in den Knöcheln, eine Erinnerung an die Schläge, die er ausgeteilt hatte, eine Mahnung, es nicht wieder zu tun. Blicke begleiteten ihn auf dem Weg zum Schulgebäude, misstrauische, feindselige, bewundernde, jeden Morgen. Niemand sprach ihn an, nicht Conor und schon gar nicht dessen Schattentrio. Der großmäulige Niall McCoy, der im Schutz von Conors Rücken keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Wilbur mit einem derben Spruch einzuschüchtern, senkte den Kopf, tat, als suche er die Schuhe nach verbotenem Schmutz oder den Boden nach einer geheimen Inschrift ab. Sean und Liam gaben vor, Wilbur nicht zu bemerken. Tauchte er auf, unterhielten sie sich mit einem plötzlichen Eifer über das letzte Hurlingspiel oder einen Fisch, den sie angeblich gefangen hatten, und wenn Wilbur zufällig in ihre Richtung sah, erwiderten sie für den Bruchteil einer Sekunde seinen Blick wie schlechte Statisten, die in die Kamera glotzen, bevor sie erneut die erröteten Köpfe zusammensteckten.

Miss Ferguson nahm Wilburs Anwesenheit zur Kenntnis, mehr nicht. Sie verzichtete auf eine Moralpredigt vor versammelter Klasse, was Wilbur ein wenig enttäuschte. John kaufte Orangen statt Äpfel, Mister Smith einen neuen Hut, diesmal einen grauen. Noch immer flogen vor den Fenstern Vögel, aber Wilbur sah ihnen nicht mehr nach. Geschichte und Geografie interessierten ihn, vergangene Zeiten und ferne Länder vermochten ihn aus der Lethargie zu holen, in die er die meiste Zeit versank. Immerhin hörte er den Ausführungen Miss Fergusons mit einem Ohr zu und musste nicht mehr aufstehen und beweisen, dass er nicht tagträumte.

Zum Nachsitzen wurde er kaum noch verurteilt, und wenn doch, schrieb er in seiner neuen, eckigen Schrift die Sätze hin, lauschte dem leisen Wimmern, das Conor entwich, und fühlte fast so etwas wie Mitleid. Sein ehemals ärgster Feind war harmlos geworden und ging ihm aus dem Weg. Conor Lynchs Wesen schien sich seit jenem Ereignis ebenso verändert zu haben wie die Form seiner Nase. Still und in sich gekehrt, schlurfte er über den Schulhof, aß nachdenklich sein Pausenbrot und vermied es, in die Ecke zu geraten, in der Wilbur ihm gezeigt hatte, wozu ein Mensch fähig war, wenn man eine Linie überschritt, die unsichtbare Grenze zu einem Land, wo Ungeheuer lebten. Er strahlte eine seltsame Ruhe aus, die von Verwunderung und Trauer genährt wurde. Fast jeden Tag stand er auf der Mauer und blickte mit hängenden Schultern über das Feld, auf dem Orla manchmal hüpfte, und sah dabei aus wie ein vergreistes Kind, das mit dem unerwarteten Verlauf seines Lebens hadert.

Die Steine waren zu schwer, zu tief verankert in der Erde. Sie bildeten das Fundament, ein Auge im zerzausten Grün der Wiese, Stechginsterbüsche die Brauen, hohes gelbes Gras die Wimpern. Ein Kran hatte sie in ihre Lage geschwenkt für alle Ewigkeit. Moos wuchs an ihren rauhen Seiten, Flechten überzogen sie mit einem weißen Muster. Eamon ging hin und her als flackernde Pupille, wusste nicht, was zu tun war, und wartete auf neue Zeichen. In wütenden Anläufen zerrte der Wind Wolkenfetzen über eine See, die in bleierner Ruhe versunken war.

Ein Sonnenstrahl schlingerte über den Hügel, schliff Halme zu Messerklingen und verharrte an einer Stelle, bis Eamon endlich stehenblieb und den Blick hob. Zwischen verfilztem Gras wuchs der Stiel eines Werkzeugs, und als Eamon ihn umfasste und anhob, brach das morsche Ende und ließ den rostigen Klotz eines Hammers in der Erde zurück. Gedankenlos vor Erschöpfung und erfüllt von rasendem Eifer, kniete Eamon sich hin und barg mit beiden Händen den Kopf aus Metall, wischte Erde davon ab und betrachtete ihn, als sei er aus dem Himmel gefallen. Das Eisen lag kalt in seinen Handflächen, und es dauerte lange, bis sein Verwendungszweck ihm dämmerte.

In der Werkstatt schälte er mit einem Meißel das verfaulte Holz aus dem Loch und schlug mit der Axt einen Zaunpfahl zurecht. In der Unordnung, die von staubbedeckten Spinnweben zusammengehalten schien, fand er einen Metallkeil, hielt ihn in der Hand und erinnerte sich nach einer Weile, wozu er da war. Dann setzte er sich inmitten der Verwahrlosung auf den Boden und sah aus der Tür. Launische Böen fuhren ins Gras, aus dem kleine Vögel wirbelten und in dem sie flatternd wieder verschwanden. Der Pfad, auf dem vor langer Zeit die Schafe zu den Weiden trotteten, war zugewachsen und holte in Eamon keine Erinnerung hervor. Da war kein Korridor mit Bildern und Stimmen, kein Licht und Glück und keine Musik. Da war nur ein Loch, gegraben von einem Tier, das längst tot war. Die Kälte aus dem Boden wuchs in Eamon empor, aber er spürte sie nicht. Er ging auf alle viere und zog sich an der Steinmauer hoch, nahm das Werkzeug und stapfte zurück an seinen Bestimmungsort. Er dachte nicht an die Zeit, nicht an die Tage und Wochen, die vor ihm lagen, als er den Keil an den Stein setzte. Er hatte vergessen, dass es ein Leben gab, ein Ende und einen Sinn. Als der Hammer auf den Keil traf und Splitter aus dem Fels schlug, war ihm auch die Existenz der Sonne entfallen, die endlich durch die versprengten Wolken brach und seinen krummen Rücken aus der Farblosigkeit des Hügels löste, um ihn zu wärmen, um ihn zu verhöhnen.

Die Häuser der Stadt wuchsen spiralförmig den Hügel hinauf, dessen Spitze der mit Quarzsteinen und einer Blesshuhnfeder geschmückte Palast krönte. Eine Palisade aus geschälten Ästen umgab den quadratischen Hof, den der Reiter, nachdem er den purpurnen Rhododendronblütenfluss überquert hatte, durch einen Torbogen aus weißen, einander zugeneigten Vogelknochen erreichte. Fein geriebener Torf lag auf dem gewundenen, gemächlich ansteigenden Weg, mattschwarze Miesmuscheln und faltige Rindenstücke trennten ihn vom Sand, der im Sonnenlicht glitzerte. Der Reiter hatte eine schlechte Nachricht zu überbringen. Häuptling Wilbur und sein treues Pferd sollten noch einen ganzen Monat in der Gefangenschaft der schrecklichen Herrscherin Ferguson und ihrer Schergen bleiben, so hatte es der Rat der finsteren Mächte beschlossen.

Die Indianer stimmten einen Wehgesang an, und Orla gab sich Mühe, besonders laut zu klagen. Wilbur jammerte nur leise, es war ihm ein wenig peinlich.

«Nicht lachen«, sagte er zu seiner Großmutter.

«Ich lache nicht«, sagte Orla. Dann lachten beide, und das große Wehklagen der Indianer war vorüber. Nachdem die Pferde versorgt und in einem prächtigen Stall aus geschälten Ästen und Moos untergebracht waren, setzten sich die verbliebenen Angehörigen des Stammes an eine lange Tafel, die aus einem Stück angeschwemmtem Kistenholz bestand, und aßen. Orla hatte einen Apfelkuchen gebacken und Limonade aus Melisse und Honig gemacht.

«Wir könnten ins Schulhaus einbrechen, nachts, und sie befreien«, sagte Wilbur. Sie saßen im Schatten und spürten die Wärme, die von der Mauer in ihre Rücken gepumpt wurde. Ab und zu verscheuchten sie eine Wespe, die im Limonadenkrug brummte.

«Und all die anderen Sachen in der Kiste«, sagte Orla.

Wilbur biss vom Apfelkuchen ab und überlegte. Kein Schüler hatte die Kiste je gesehen, und doch wusste jeder von ihrer Existenz. In ihr wurden die konfiszierten Gegenstände verwahrt, die Comic-Hefte, Kaugummis, Steinschleudern, Gummibälle, Matchbox-Autos und all die Dinge, die in der Schule verboten waren. Eine Schatztruhe, da war sich Wilbur sicher.

«Wir könnten die Leiter mitnehmen«, sagte Wilbur.»Und ein Seil.«

«Und wenn wir erwischt werden?«Orla passte auf, dass keine Wespe auf Wilburs Kuchen landete. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus blauem Stoff, keine Schuhe und einen großen Strohhut, um den ein gelbes Band gewickelt war.

Wilbur dachte erneut nach. Eine Wolke setzte sich vor die Sonne. Er nahm die Hand herunter, die er als Schirm über die Augen gelegt hatte, und kaute abwesend. Hinter der Mauer rollte das Meer gegen das Land. Möwen flogen heute keine, vielleicht war ihnen der Himmel zu hell. Als die Wolke von der Sonne wegtrieb und Licht in das Viereck aus Mauern stürzte, klopfte es zaghaft an der Holztür. Orla wischte sich die Hände am Kleid ab, als wolle sie gleich jemanden begrüßen.

«Colm?«rief sie und erhob sich. Der einsame Nachbar kam gelegentlich herüber und trank eine Tasse Tee mit, setzte sich zu Orla und Wilbur und sah ihnen zu, wie sie ihre Städte bauten. Er war linkisch und schüchtern, und wenn er etwas sagte, stotterte er manchmal und schüttelte den Kopf, als wolle er seine eigenen Worte infrage stellen.

Auf der anderen Seite der Mauer blieb es still. Colm kam nie an die Rückseite des Hauses, er klingelte immer vorne, wie er es getan hatte, bevor es die rote Tür überhaupt gab. Dann klopfte es noch einmal, zugleich zaghaft und hartnäckig. Orla seufzte und ging zur Mauer, nahm den Schlüssel vom Haken und sperrte die Tür auf.

Draußen stand Conor Lynch, hielt den Kopf gesenkt und verdrehte mit beiden Händen die Kappe, als wolle er sie auswringen.

«Conor?«Orla ging ein wenig in die Knie, um dem Jungen ins Gesicht zu sehen.

«Ist Will da? Ich meine, Wilbur. «Conor hob endlich den Kopf, um ihn gleich wieder zu senken. Er trug kurze Hosen aus grobem Stoff, seine Beine waren zerkratzt. Wenn er mit diesen Schuhen das Schulhaus betreten hätte, wären ihm zwei Stunden Nachsitzen sicher gewesen.

Orla drehte sich um. Wilbur saß da, sah in ihre Richtung und vergaß zu kauen. Eine Wespe umkreiste ihn, ein winziger summender Satellit. Er verscheuchte sie nicht.

«Conor ist hier«, sagte Orla.»Conor Lynch. «In der Gegend gab es noch einen Conor, den alten, alleinstehenden McGonigle, der Hirtenhunde züchtete und regelmäßig Ärger mit der Polizei hatte, weil er während der Schonzeit auf Rebhühner schoss.

Wilbur blieb sitzen. Er sah Conor nicht, der, von Orla verdeckt, im Türrahmen stand. Jetzt zog doch eine Möwe durch das Blau des Himmels. Sie schlug nicht mit den Flügeln, ihre Konturen wurden vom Licht verwischt, sie gab keinen Laut von sich. Wilbur sah ihr nach, der Kuchenbissen rutschte ihm in den Hals. Er machte eine Faust, es schmerzte nicht, dann öffnete er sie und stand auf. Jetzt rief die Möwe, stieß einen langgezogenen Schrei aus, einen gegen sein Ende abfallenden Ausruf der Klage, der allem Irdischen galt. Orla trat von der Tür weg, und Conor hob den Kopf.

Wenn eine Freundschaft aus Abenteuern bestand, aus Feldzügen und Eroberungen, wenn sie auf Herumtoben gründete und irrwitzigen Spielen und dem sinnlosen Stauen von Bächen, dann war das, was zwischen Wilbur und Conor bestand, keine Freundschaft. Ganze Nachmittage saßen die beiden im Gras auf dem flachen Erdhügel neben dem Haus, sahen statt aufs Meer hinaus ins Land hinein und redeten nichts oder in knappen Sätzen, wie es alte Männer taten. Eine stille Übereinkunft herrschte zwischen den beiden, die besagte, dass das Leben zu kompliziert sei, um darüber in achtlos hingeworfenen Worten zu plaudern oder es aus einer panischen Langeweile heraus zu verharmlosen, wie es die Mädchen auf dem Schulhof taten.

Lieber schwiegen sie, als die Stille mit Banalitäten zu stören. Sollten die Erwachsenen über die Farben des Himmels philosophieren und deren Einfluss auf das Wetter, über die Mannschaften fachsimpeln, die es ins Finale im Gaelic Football geschafft hatten, oder über die Gründe spekulieren, warum die siebzehnjährige Rosie O’Sea ins Meer gegangen war, obwohl sie nicht schwimmen konnte. Sie überließen es den Säufern im Pub, die fallenden Preise für Milch und die steigenden für Bier zu beklagen, und den Jungs auf dem Pausenplatz, sich über englische Fußballteams und italienische Rennautos auszulassen. Stumm saßen sie da und beobachteten die Bewegungen im Fell der Hügel, während die Welt aufgeregt und angeödet vor sich hin quasselte.

Wurde es kühl oder drohte Regen, kam Orla aus dem Haus und holte sie herein. Dann tranken sie in der Küche heiße Schokolade und hörten Musik aus dem neuen Radio, das wie ein silbernes Haus mit blau erleuchteten Fenstern auf dem Regal über der Anrichte stand. Zu den Liedern, die sie kannte, sang Orla mit, und Wilbur senkte verschämt und verzückt den Blick, während seine Füße unter dem Tisch in wildem Takt wippten.

Conor war diese Musik fremd wie die Bücher, die sich in Wilburs Zimmer stapelten. Er lauschte ihr mit der erstaunten Andacht und der unterdrückten Begeisterung, mit der ein Forscher den Lockrufen eines unbekannten Tieres lauscht. Der U2-Song Desire baute in ihm Berge von Genügsamkeit ab und trieb Stollen in sein Innerstes, durch die Helligkeit flutete, Begehren und Verwirrung. Angefüllt mit heißer Schokolade und Musik, saß er auf seinem Stuhl, zuckte fiebrig mit den Fingern und öffnete den Mund, als schlucke er die Töne. Manchmal schloss er selbstvergessen die Augen, dann ruckte sein Kopf vor und zurück, und seine Ohren, den Klängen entgegengewölbte Schüsseln, leuchteten. Öffnete er in der kurzen Stille zwischen zwei Stücken die Augen, lief er rot an und verbarg sein Gesicht hinter der Tasse, deren Glasur die Farbschichten von Torf imitierte.

Orla betrachtete die beiden Freunde mit gemischten Gefühlen. Sie freute sich für Wilbur, der jemanden brauchte, der nicht über ein halbes Jahrhundert älter war als er, einen Gefährten, mit dem er über Dinge reden konnte, über die er mit ihr nicht sprach, und in dessen Gesellschaft er lernen konnte, dass er nicht der einzige Junge auf der Welt war, der täglich vor neuen Rätseln des Universums stand. Aber sie bedauerte auch, dass sie ihren Enkelsohn mit Conor teilen musste, dass er nicht mehr seine ganze Zeit mit ihr verbringen wollte. In dem Maße, in dem die gemeinsamen Stunden für ihn an Wichtigkeit zu verlieren schienen, gewannen sie für Orla an Bedeutung. Die Nachmittage und Sonntage, an denen Conor nicht auftauchte, wurden für Orla noch kostbarer als zuvor, und wenn sie zusammen eine neue Stadt erbauten oder in ihrem blauen Auto durch die Gegend fuhren, kostete sie jeden Augenblick aus, als könnte es der letzte sein. Nachts blieb sie oft noch Stunden wach, saß an Wilburs Bett und sah ihn an, oder sie lag in dem Klappbett, auf dessen Anschaffung Wilbur aus Sorge um ihren Rücken bestanden hatte, und horchte auf die Geräusche, die das schlafende Kind von sich gab.

Es kam vor, dass sie am Fenster stand und zum Hügel sah, auf dem die beiden Jungen saßen, und mit den Tränen kämpfte. Dann wandte sie sich ab, machte heiße Schokolade und rief sich in Erinnerung, dass Wilbur erst acht war und es noch mindestens sieben Jahre dauern konnte, bis er mit Conor oder anderen Burschen aus dem Ort um die Häuser ziehen, Mädchen interessant finden und Dummheiten begehen würde.

Es war nicht kalt, die Sonne strengte sich an. Ständig kamen Wolken daher, fette Spielverderber, die aufs Feld rannten und blieben, bis sie ihr albernes Tun leid waren und weiterzogen. Der Wind hatte etwas Fahriges, nestelte in den Büschen und rüttelte ein wenig an der roten Tür, dann legte er sich hin und drückte das Gras auf die Erde. Ein Flugzeug zog einen Schnitt ins Blau, aus dem weiße Füllung quoll. Wilbur und Conor saßen auf ihrem Hügel, die Füße nach England gerichtet. Sie lutschten Bonbons, die ihre Zungen schwärzten, und seit einer Stunde schwiegen sie. Auf Orlas Geheiß hatten sie sich Pappe unter die Hintern gelegt, gegen die Feuchtigkeit, die der Boden barg. Ab und zu verscheuchten sie eine Fliege, schlürften den Lakritzesaft durch die Zähne und blinzelten.

«Wenn man tot ist, was kommt dann?«fragte Conor irgendwann. Er sah ein paar Schafen nach, schmutzigweißen Punkten, die sich über einen der Hügel bewegten.

Wilbur kniff die Augen zusammen, kratzte sich am einen Bein und dann am andern. Er ließ sich mit seinen Antworten immer viel Zeit. Leute, die ihn nicht kannten, dachten, er habe sie nicht gehört, und wiederholten die Frage. Seine Mutter war im Himmel, das wusste er von Orla. Vor ein paar Wochen hatte sie sich am Küchentisch ganz nahe neben ihn gesetzt und ihm alles erzählt. Dass seine Mutter zu schwach gewesen und gestorben sei, nachdem sie ihm das Leben geschenkt habe, und dass sein Vater so traurig gewesen sei, dass er davongerannt war. Sie hatte ihm ein Buch gezeigt, in dem ein farbiges Bild war, die Zeichnung von einem Baby, das im Bauch der Mutter liegt, eingerollt und mit geschlossenen Augen wie eine winzige nackte Maus.

«Da sind die Meinungen geteilt«, sagte er schließlich, nachdem er sich ein neues Bonbon in den Mund gesteckt hatte. Den Satz lieh er sich vom jungen McSweeney, der in einer weißen Schürze hinter der Fleischtheke stand und seinen Vater damit ärgerte, dass er die Kundschaft in aussichtslose Diskussionen verstrickte. Fragte ihn eine arglose Hausfrau, was er von den Unwettern im Südwesten halte und ob möglicherweise das Ozonloch schuld sei, leitete er die Antwort mit seinem» Da sind die Meinungen geteilt «ein und ließ dann seine grotesken und zeitaufwendigen Ansichten zur Lage der Menschheit folgen, die meistens in der Behauptung gipfelten, die Regierung schütte» Zeug «ins Trinkwasser, das die Leute zu willenlosen Robotern mache. Wilbur hängte seinem» Da sind die Meinungen geteilt «nichts an, er wartete lieber, welche Vermutungen den Fragenden umtrieben.

«Der Pfarrer sagt, wenn man katholisch ist, kommt man in den Himmel«, sagte Conor.»Ins Jenseits, als Engel.«

«Aber nur die Guten, die ohne Sünde«, sagte Wilbur.

«Und die andern?«

«Die nicht. Die landen in der Hölle.«

Die beiden Jungen ließen das Wort auf sich wirken. Hölle. Es bescherte ihnen ein leichtes Schaudern, als wehte kalte Luft durch einen Türspalt. Beide zogen die Beine an, schlangen die Arme darum und legten das Kinn auf die Knie. Ein Traktor tuckerte eine Straße entlang und zog eine Fahne aus blauen Abgasen hinter sich her.

Wilbur ließ seine Beine plötzlich los und starrte Conor entsetzt an.»Denkst du, ich lande in der Hölle?«

Conor drehte den Kopf und legte die Stirn in Falten.»Wie kommste denn darauf

«Weil ich dich… geschlagen habe!«Wilbur vermied den Ausdruck verprügelt, es war ihm unangenehm genug, den Vorfall überhaupt zu erwähnen. Seit Conor vor drei Wochen an die rote Tür geklopft hatte, war zwischen ihnen kein Wort über den Tag auf dem Schulhof gefallen.

«Blödsinn«, sagte Conor.»Ich leb ja noch. Für die Hölle musste schon einen umbringen.«

Wilbur dachte nach. Der Traktor war zum Fleck geworden, zum winzigen rauchenden Schiff, das durch grüne Wellen fuhr. Hatte er selber aufgehört, auf Conor einzuschlagen, oder hatte ihn ein Lehrer weggezerrt und hochgehoben, bevor…?

«Hey, Will!«Conor stieß Wilbur in die Seite und lachte, zeigte seine schwarze Zunge und den Zahn, dem ein Stück fehlte.»Du kommst nicht in die Hölle, das kannste mir glauben.«

Wilbur sah Conor an. Der nickte, machte den Mund zu und blickte wieder nach vorne. Der Traktor war verschwunden, sein blauer Schweif hatte sich aufgelöst. Hinter den Hügeln, auf denen keine Schafe mehr standen, stiegen Wolken auf. Bald würde es kühler werden, dachte Wilbur, und Orla würde aus dem Haus kommen und nach ihnen rufen. Eine Fliege setzte sich auf seine Hand und rieb sich die Hinterbeine. Licht fing sich in ihren Flügeln, die technische Wunderwerke waren, das hatte er gelesen. Conor legte den Kopf zurück, spuckte das Bonbon in die Luft und fing es mit dem Mund wieder auf. Die Fliege sah Wilbur mit ihren dunkelblau schimmernden Facettenaugen an und schwirrte davon, eine betrunkene Spur in die Luft zeichnend.

«Ich hoff, mein Alter kommt in die Hölle«, sagte Conor, in die Landschaft blickend, die ihm so vertraut war, dass sie sich manchmal auflöste vor seinen Augen, flach wurde und leer und unendlich weit.

Wilbur hatte den Trick mit dem Spucken auch versucht, aber sein Bonbon landete entweder in seinem Gesicht, den Haaren oder im Gras. Er schob den Ärmel des Pullovers zurück und sah auf die Uhr, obwohl ihn die Zeit nicht interessierte. So hatte er etwas, das Conor nicht hatte, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte. Er überlegte, ob er wollte, dass sein Vater, den er nie gesehen hatte und der tot war, auch in der Hölle schmorte, aber da rief Orla nach ihnen, und ihm war, als könne er die heiße Schokolade riechen und die Musik hören, die in der Küche auf sie warteten.

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