10

Aimee wohnt in einem schmalen Backsteinhaus, dessen untere Hälfte dunkelrot gestrichen ist und an dessen Stirnseite im Zickzack eine schwarze Feuerleiter verläuft. Auf den Gitterböden der Feuerleiter stehen Töpfe mit verkümmerten Pflanzen, über die man im Brandfall klettern müsste. Der Verputz der beiden oberen Stockwerke ist weiß, Leitungen und Kabel wachsen aus ihm heraus und spannen sich schlaff über einem Stück Rasen bis zum Nachbarhaus. Der Gehsteig vor dem Gebäude ist ein Flickenteppich aus Betonplatten, Verbundsteinen, rissigem Zement und mit Kies vermischtem Teer. Angekettet an einen schiefen Zaun lehnt ein Rennrad, dem der Sattel und das Vorderrad fehlen. Aimee erzählt, es gehöre Stewart, einem ihrer Mitbewohner. Er nehme die Teile ab, weil sich der Rest zum Klauen nicht lohne.

Ich gehe neben Aimee durch ein Tor, hinter dem ein geteertes, von Müllcontainern und weiteren Fahrrädern besetztes Rechteck liegt. Aimee öffnet die gelb gestrichene Haustür, dann stehen wir einen Atemzug lang im Dunkeln, bis sie das Licht anknipst und im Schein der Deckenlampe ein enges Treppenhaus vor uns liegt.

Als das Licht in der U-Bahn wieder angegangen war, entstand ein merkwürdiger Moment, während dem ich nicht wusste, ob ich Aimees Hand weiter festhalten oder loslassen sollte. Dann war der Frau auf dem Sitz vor mir der Schlüsselbund hinuntergefallen, und ich konnte ihn aufheben, was den Rückzug meiner Hand weniger peinlich machte. Wir sind an einer Haltestelle ausgestiegen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, und zu Fuß weitergegangen. Einmal mussten wir einer Gruppe von Kindern mit einem angeleinten Hund ausweichen, und unsere Arme berührten sich, aber als ich zögernd nach Aimees Hand tastete, griff ich ins Leere, weil Aimee in eine Seitenstraße einbog.

Während wir an Wäschereien, Pizzabuden, geschlossenen Bars und Restaurants, an Wohnhäusern, Garageneinfahrten, verwahrlosten kleinen Parkanlagen, eingezäunten Sportplätzen, mit Eisengittern abgetrennten Höfen, aufgelösten Tankstellen und lückenhaften Bauzäunen, an bunten Holzhäusern mit blumengeschmückten Veranden und herausgeputzten Vorgärten und offenen Hauseingängen vorbeigingen, redete Aimee fast ununterbrochen. Sie erzählte von den Leuten, mit denen sie sich die Wohnung teilt, von Ruth, die irgendwas studiert, von Sheila, der Köchin, und von Stewart, der im nahe gelegenen Zoo arbeitet und ein toller Hecht zu sein scheint. Jedenfalls schwärmte Aimee geradezu von ihm, und nach wenigen Minuten hasste ich den Kerl. Aimee meinte, Stewart würde den Job des Tierpflegers von Grund auf lernen und es sei unglaublich, was er täglich erlebe. Ich kenne diese Sorte Angeber. Bestimmt karrt er den ganzen Tag Elefantenscheiße durch die Gegend und erzählt am Abend seinen Mitbewohnerinnen, er hätte einem Tiger einen Dorn aus der Pranke gezogen.

Die Wohnung liegt im dritten Stock, hat vier Zimmer, Küche und Bad. Im Flur stehen ein Paar schwarze Gummistiefel und riesige Basketballschuhe, die bestimmt Stewart gehören. An seiner Zimmertür hängt ein metallenes Krokodil, mit dem man anklopfen soll. Die Zimmer sind winzig. Aimee besitzt eine Matratze, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl. Ein Computer steht auf dem Tisch, darunter ein Drucker und ein Stapel Papier. In Regalen türmen sich Bücher und Zeitschriften. An der Wand über dem Schreibtisch hängen Notizzettel und Zeitungsausschnitte, mittendrin ein Foto, das einen vielleicht fünfundzwanzig Jahre alten Mann zeigt. Er steht vor einem Garagentor, lächelt ein wenig unsicher und stützt sich auf eine Schneeschaufel.

«Ich brauche nicht viel«, sagt Aimee, und es klingt wie eine Rechtfertigung. Sie nimmt ein paar Kleider vom Bett und streicht die Decke glatt.

«Es ist nett«, sage ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, dieses Wort nicht zu verwenden. Ich stehe da und überlege, was ich zu dem Zimmer noch sagen könnte, aber mir fällt nichts ein. Aimee räumt einen Teller mit Orangenschalen und eine Tasse in die Küche. Ich sehe aus dem Fenster, um einen Kommentar über die Aussicht vorzubereiten, aber da ist nur die Klinkermauer des Nachbarhauses. Die meisten Bücher sind über Psychologie und Journalismus, von den wenigen Romanen kenne ich keinen einzigen.

«Tee oder Kaffee oder was Kaltes?«ruft Aimee aus der Küche.

«Kaffee«, rufe ich zurück. Eine Cola wäre mir jetzt lieber, aber die Zubereitung des Kaffees wird Aimee eine Weile beschäftigen. Ich brauche noch einen Augenblick, um herauszufinden, ob ich überhaupt hier sein will. Es ist kurz vor vier. Irgendwann gegen Abend werden alle nach Hause kommen, und Aimee wird mich ihnen vorstellen. Stewarts Händedruck wird übertrieben kräftig sein, die Studentin wird mich einen Moment lang irritiert betrachten und dann beteuern, wie nett es sei, mich kennenzulernen, und die Köchin wird fragen, ob ich Veganer sei. Wenn ich Pech habe, werde ich zum Abendessen eingeladen. Die Köchin wird bestimmt etwas zubereiten, das ich hasse, und ich werde es aus Höflichkeit hinunterwürgen, während Stewart erzählt, wie er ein vermeintlich totgeborenes Nashorn wiederbelebt hat. Die Studentin wird wissen wollen, wo Aimee und ich uns begegnet sind, und Aimee wird einen Augenblick zögern und dann die Wahrheit sagen. Die drei werden sich plötzlich sehr intensiv mit dem Essen auf ihren Tellern beschäftigen, ein paar unverfängliche Bemerkungen machen und das Thema wechseln. Sie werden sehr freundlich sein und mich erst zerpflücken, wenn ich weg bin.

Nein, ich will nicht hier sein. Die Hände in den Taschen, stehe ich mir selber im Weg herum. Ich überlege noch immer an einer Bemerkung zu diesem Raum, etwas locker Dahingesagtem, aber mein Kopf ist leerer als diese vier Wände, und außerdem wäre es jetzt sowieso zu spät. In meinem Hotelzimmer könnten Aimee und ich auf dem Bett liegen und aus den Wasserflecken an der Decke Tiere lesen und Zeppeline und Dampfschiffe. Wir könnten dafür sorgen, dass uns warm wird, während aus Dobbs’ Zimmer leise Musik herüberdringt und sich mit dem Geräusch des Regens mischt.

«Milch und Zucker?«

«Ja, bitte. «Ich gehe in die Küche, einen hellen Raum, der von einem Tisch und sechs Stühlen beherrscht wird und dessen Wände in unregelmäßigem Orange gestrichen sind. Aimee drückt die Tür des Kühlschranks mit dem Fuß zu und stellt eine Packung Milch auf die Spüle. Natürlich hängt ein Plakat des New Yorker Zoos an der Wand, und natürlich zeigt es einen Tiger. Vor diesem Bild sitzt Stewart bestimmt jeden Abend und verzapft den drei hingebungsvoll lauschenden Frauen seine Märchen.

«Ich hab überhaupt keine Möbel«, sage ich. Dann erst frage ich mich, warum ich das gesagt habe.

Aimee sieht mich an. Wahrscheinlich stellt sie sich dieselbe Frage.»Im Hotel. Die einzigen Dinge, die mir gehören, sind der Steinzeitfernseher und die Heizung.«

«Ich hatte mal eine Menge Möbel«, sagt Aimee,»aber sie wurden gestohlen. «Sie gießt kochendes Wasser über den Kaffee und wartet, bis es durch den Filter getropft ist. Die feinen Haare in ihrem Nacken leuchten im Licht der Papierlampe, die als weißer Mond über dem blauen See des Tisches schwebt.»Vor ein paar Jahren, in Queens. Zwei Wochen nach dem Einzug war alles weg. Bis auf die Matratze, Bücher, Kleider und Kleinkram.«

Ich würde gerne Aimees Kleinkram sehen, gerne wissen, was sie im Lauf der Jahre gesammelt hat. Ob sie Steine vom Strand mitgenommen, Figuren aus Cornflakes-Packungen behalten hat, ob sie in einer verbeulten Keksdose Spielsachen aufbewahrt und Fotos und Briefe und ob sie genauso an den Dingen hängt wie ich.

Stattdessen frage ich:»Hattest du eine Diebstahlversicherung?«Das letzte Wort klingt so banal und obszön, dass ich schreien möchte, um seinen Nachhall zu übertönen.

Aimees Kopf ist leicht schräg gelegt, und sie sieht abwesend oder verträumt zu, wie der Kaffee durch den Filter rinnt und sich in der Glaskanne sammelt. Eine Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht und bewegt sich leicht im Rhythmus ihrer Atemzüge. Sie fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die spröde und rissig sind wie meine. Ich würde gerne hinter sie treten und die Arme um sie legen und sie auf den Hals küssen, aber das geht nicht, nicht nach einem Satz, der mit dem Wort Diebstahlversicherung endete. Ich frage mich, ob sie mich jetzt für einen totalen Vollidioten hält.

«Nein«, sagt Aimee. Sie schüttet das restliche Wasser in den Filter und stellt den Kocher weg.»Ich mag Versicherungen nicht. «Dann belädt sie ein Tablett mit der Kanne, zwei Tassen und Löffeln und der Milchtüte.»Der Zucker ist da«, sagt sie, deutet auf einen offenen Schrank und geht aus der Küche.

Ich folge ihr mit der Zuckertüte, aus der ein Löffel ragt, in ihr Zimmer. Wir setzen uns auf den Boden, mit dem Rücken zum Bett, und sie schenkt Kaffee ein. Dann gießt sie Milch in meine Tasse und gibt zwei Löffel Zucker dazu. Dass sie sich daran erinnert, macht mich glücklich, und ich will ihr das sagen, aber dann warte ich zu lange, und der Moment ist vorbei. Sie trinkt einen Schluck ihres schwarzen Kaffees, steht auf und nimmt einen Stapel Papier vom Tisch, den sie mir reicht. Es sind vielleicht zwanzig Seiten, große Schrift, doppelter Zeilenabstand. Auf dem obersten Blatt steht: Ein Spielplatz für Selbstmörder, darunter, etwas kleiner: Unhaltbare Zustände im Caldwell Institut und: Von Aimee Ward.

«Lies ihn einfach mal und sag mir dann, was du davon hältst. «Aimee setzt sich wieder neben mich und schlingt die Arme um die angewinkelten Beine.

«Jetzt?«frage ich.

Aimee nickt.»Du warst da. Wenn ich etwas Falsches geschrieben habe, sag’s mir.«

Deswegen bin ich also hier. Ich bin ihr Augenzeuge, ihr Korrekturleser, eine mögliche Quelle, von der sie sich ein paar Informationen erhofft, an die sie nicht herangekommen ist. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie noch mit mir zusammen ist. Vielleicht hat sie die Typen aus demselben Grund ins Gartenhaus geschleppt.

«Was ist?«

Ich sehe Aimee an. Die Narbe ist kaum zu erkennen in diesem Licht. Es regnet wieder, ich kann hören, wie die Tropfen auf das Flachdach über uns trommeln. Wir haben nie über die Sache im Gartenhaus gesprochen, richtig, meine ich. Oder warum sie bei mir im Hotel aufgetaucht ist. Sie hat nie gesagt, dass sie mich liebt. Sie hat mit mir geschlafen, aber von Liebe war nie die Rede. Vielleicht hat Aimee außer mir noch andere ehemalige Bewohner von Vermeers Stadt besucht. Kann sein, dass sie eine Liste hat, auf der ich eine Nummer bin.

«Will?«Aimee lächelt, winkt mit einer Hand.»Ist was?«

Ich schüttle den Kopf, dann beginne ich zu lesen.

Aimee beschreibt die Stadt der Selbstmörder als eine Mischung aus Erholungsheim für Lebensmüde und Forschungslabor eitler Psychologen, in dem die Insassen als ahnungslose Versuchskaninchen gehalten werden. Vermeer stellt sie als ehrgeizigen und in Europa heftig umstrittenen Wissenschaftler dar, dem das geistige und körperliche Wohl seiner Patienten weniger wichtig ist als die Möglichkeit, an ihnen neue und unorthodoxe Behandlungsmethoden zu testen. Sie behauptet, aufgrund falscher und ungenügender psychologischer Betreuung und dem fast gänzlichen Verzicht auf medikamentöse Behandlung würden viele der Insassen einen weiteren Suizidversuch unternehmen, oftmals noch während ihres Aufenthalts in der Offenen Abteilung. Sie erwähnt zwei Fälle von Selbstmord in Vermeers Stadt, und obwohl die Namen geändert sind, erkenne ich James Foster, der Glasscherben geschluckt, und Roger Willett, der sich mit Chlor vergiftet hat. Aimee schreibt, die beiden würden noch leben, wenn sie richtig behandelt worden wären, statt» in einer Art Ferienheim herumzuspazieren, unterschwellig depressiv, wandelnden Zeitbomben gleich«.

Ich lese den letzten Satz und lege die Blätter ordentlich hin. Der Regen hat aufgehört oder so sehr nachgelassen, dass er auf dem Dach nicht mehr zu hören ist. Das kleine Zimmer riecht nach Kaffee und schwach nach Duftöl oder Räucherstäbchen. Meine Beine fühlen sich ein wenig taub an, mein Kopf auch. Seltsamerweise habe ich Hunger.

«Und?«fragt Aimee nach einer Weile.

«Ich weiß nicht«, sage ich.

«Du weißt nicht?«

Soll ich ihr sagen, dass mir der Artikel egal ist? Dass ich keinen Grund sehe, weshalb er veröffentlicht werden sollte? Ich halte Vermeer weder für größenwahnsinnig noch für skrupellos. Ob er fachlich inkompetent oder ein revolutionärer Geist ist, kann ich nicht beurteilen. Zu mir war er freundlich, ich mochte seinen Akzent. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Strick, daneben steht ein leerer Fotorahmen. Er ist ein wenig seltsam, vielleicht verrückt. Das macht ihn mir irgendwie sympathisch. Aber ich war kein richtiger Patient. Ich wollte mich nicht umbringen, nicht vor und nicht während meines Aufenthalts in seiner Stadt. Keine Ahnung, ob seine Ideen den Männern helfen oder schaden. Ich habe nie eine andere Institution von innen gesehen und weiß nicht, ob die Patienten dort weniger oft versuchen, sich ein zweites oder drittes Mal umzubringen.

«Ich bin froh, dass ich eine Weile dort sein konnte«, sage ich.

Aimee nimmt den Papierstapel von meinen Beinen, erhebt sich und legt ihn auf den Schreibtisch.

«Melvin ist gar kein Patient.«

«Was?«Ich wollte gerade sagen, dass ich auch froh sei, sie dort getroffen zu haben, aber wahrscheinlich will sie das im Moment nicht von mir hören.

«Dein Zimmergenosse hat nie versucht, sich umzubringen. Er ist Psychologe, ein Angestellter des Instituts.«

«Woher weißt du das?«

«Ich weiß es eben. Leute reden. Es gibt Akten. «Aimee gießt sich Kaffee in die Tasse.»Vermeer war übrigens ganz schön sauer, als du einfach abgehauen bist. Du warst die ideale Besetzung für das Treffen mit dem Ausschuss.«

Ich sitze da und sehe auf meine Beine. Ich kann das Gewicht des Artikels noch auf ihnen spüren. Ein Spielplatz für Selbstmörder.

«Ich wollte mich nicht umbringen.«

Aimee sagt nichts. Sie bläst in ihre Tasse und trinkt.

«Es war alles ein Riesenmissverständnis.«

«Vielleicht«, sagt Aimee.»Weißt du, dass ich deinen Koffer geklaut habe?«

«Wie, geklaut?«

«Aus dem Raum, wo die Sachen aufbewahrt werden.«

Ich sehe Aimee an. Sie hält den Kopf gesenkt.

«Hat das keiner gemerkt?«

«Doch, ja, wahrscheinlich. Ich war nicht mehr da, um es herauszufinden. «Jetzt sieht sie mich an. Dann stellt sie die Tasse auf den Boden und geht zum Fenster, legt eine Hand ans Glas.»Aber keine Sorge, ich wollte sowieso kündigen.«

Eine Weile schweigen wir. Aimees Hand liegt auf der Fensterscheibe. Ich überlege, wie ich ihr mit dem Artikel helfen kann. Möglicherweise interessiert sie der Vorfall mit der defekten Überwachungskamera. Oder dass ich wegen einer Lücke im Sicherheitsnetz in den Besitz eines Bademantelgürtels gekommen bin, mit dem ich mich hätte erdrosseln können.

«Warum bist du zu mir ins Hotel gekommen?«höre ich mich schließlich fragen.

«Was?«Aimee dreht sich um und legt die Stirn in Falten.»Warum fragst du?«

«Nur so. «Ich bereue, ihr diese Frage gestellt zu haben. Aber dann ist mir alles egal.»Hast du Carson auch besucht?«

«Wen?«

«Kanonenfutter Carson. Der Kerl, der desertiert ist. Hast du den auch besucht, nachdem er draußen war?«Ich stehe auf, dabei stoße ich mit dem Fuß meine Tasse um. Kaffee versickert im Teppich. Es regnet nicht mehr. Ein Vogel sitzt auf einem Stromkabel, eine Amsel, glaube ich. Jedenfalls ist er schwarz, und als er auffliegt, lösen sich Tropfen vom Kabel. Ein Motorrad fährt vorbei, die Haustür fällt ins Schloss.

«Was soll das, Will?«Aimee hat die Tasse auf das Tablett gestellt und drückt ein Papiertaschentuch auf den Fleck.

«Tut mir leid«, sage ich.»Ich bezahl die Reinigung.«

«Ich rede nicht vom Teppich!«

«Ich verstehe das alles nicht! Du hast diese Typen im Gartenhaus an dich rangelassen. Und mich. Du hast mit mir geschlafen. Und jetzt soll ich dir bei diesem Artikel helfen. Was willst du von mir?«

«Ich hab niemanden an mich rangelassen, du Idiot!«Aimee wirft das zerknüllte und mit Kaffee vollgesaugte Taschentuch auf das Tablett und steht auf. Sie sieht mich wütend an, und ich drehe mich wieder zum Fenster.»Ich hab ihnen erlaubt, meine Titten anzufassen! Damit sie eine Ahnung davon kriegen, warum es sich lohnt, zu leben! Wegen meinen Brüsten und den Brüsten anderer Frauen und weil verdammt noch mal alles besser ist, als sich umzubringen!«Sie geht wütend aus dem Zimmer und lässt die Tür offen.

«Warum hast du mit mir geschlafen?«frage ich, aber ich bin zu leise, sie hört mich nicht. Die Wohnungstür wird geöffnet und geschlossen. Draußen wird es langsam dunkel. Der Himmel ist von einem hellen Grau, fast makellos sauber. In einem Zimmer im Haus gegenüber geht ein Licht an und macht aus dem Fenster ein gelbes Viereck in der dunklen Fassade.

«Aim, ich muss dir unbedingt… oh…«Der Typ, der im Türrahmen steht, muss Stewart sein. Er ist groß und kräftig, und seine Haut ist noch immer braun vom Sommer. Er trägt Jeans und ein kariertes Baumwollhemd über einem T-Shirt, auf dem BON JOVI steht. Wenn ich so was anziehe, sehe ich aus wie zwölf. Jetzt, wo Stewart vor mir steht, hasse ich ihn nicht mehr. Ich bin nur plötzlich sehr müde. Ich dachte, ich hätte das hinter mir, aber ich bin neidisch auf diesen Kerl, weil er mich um fast zwei Köpfe überragt und weil er vor Selbstbewusstsein strotzt. Und weil sein Zimmer drei Schritte von Aimees entfernt liegt. Stewart sieht kurz über seine Schulter und mustert mich dann.

«Du bist…«

«Ich bin«, sage ich und lasse es dabei bewenden. Stewart ist für einen Augenblick verwirrt, dann lächelt er.

Aimee kommt mit einem Lappen und einem Geschirrtuch aus der Küche.

«Hi, Stew. «Sie geht an ihm vorbei, kniet sich hin und schrubbt an dem Fleck herum.

«Aim, du wirst es nicht glauben. Ich hab dir doch gestern von diesem Puma erzählt, Chuck.«

«Lass mich raten«, sage ich, all meinen Mut und meine Feigheit zusammennehmend, und gehe an Stewart vorbei auf den Flur,»du hast Chuck einen Zahn gezogen. Einen vereiterten. Ohne Betäubung. Mit bloßen Händen. «Ich gehe zur Wohnungstür, öffne sie und trete ins Treppenhaus. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen. Das Licht geht aus, und ich stehe eine Weile da.

Aimee kommt nicht hinter mir hergelaufen. Sie ruft nicht einmal nach mir. Eine Weile warte ich noch, dann gehe ich langsam im Stockdunklen die Stufen hinunter.

Der Regen ist in dichtes Nieseln übergegangen, eins von der Sorte, das einen in kürzester Zeit bis auf die Knochen durchnässt. Ich bleibe am Tor stehen und sehe in beide Richtungen die Straße hinunter. Ich habe keinen Schimmer, wo es langgeht. Der Anblick von Stewarts amputiertem Rad tröstet mich kein Stück.

«Hey, Will!«

Ich drehe mich um. Aimee steht an einem Fenster im dritten Stock. Wasser läuft mir ins Genick und am Rücken hinunter, und ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern.

«Wo willst du hin? Komm wieder hoch!«

Ich spiegle mich in einer Pfütze. Von dort oben sehe ich vermutlich aus wie ein Zwerg, ein jämmerlicher, kindischer Gnom, ein begossener Pudel. Ein sturer Trottel, der den gesenkten Kopf schüttelt.

«Du holst dir eine Erkältung!«

Das hat Orla oft zu mir gesagt. Du holst dir eine Erkältung. Zieh dir etwas Warmes an. Komm rein, der Tee ist fertig. Wenn der Regen schneller kam, als ich rennen konnte, rieb sie mir die Haare mit einem Handtuch trocken. Dabei schloss ich die Augen und dachte, dass so das Leben zu sein hatte. Genau so. Dass, wann immer man nass war und fror, es jemanden geben sollte, der einen wärmte.

Ich werde Aimee bitten, mit mir einen Kaffee zu trinken. Irgendwo in der Nähe gibt es bestimmt ein Lokal, wo wir uns in eine ruhige Ecke setzen können. Vielleicht heißt die Kellnerin Francine oder Florence und schwatzt uns einen Teller Suppe auf, weil ich klatschnass bin. Vielleicht sind die anderen Gäste alte Männer, die Domino spielen und über das Wetter und die missliche Lage der Welt reden. Vielleicht dringt Musik aus einem Radio durch die offene Küchentür, während ich Aimee von mir erzähle. Von meiner Mutter, die ich nie gesehen habe, und meinem Vater, den ich nicht kenne. Von Orla und Colm und Matthew und davon, dass ich mich nicht umbringen wollte, jedenfalls nicht in Vermeers Stadt. Dann werde ich ihr sagen, dass ich sie liebe. Und sie wird mir vermutlich sagen, dass sie mich mag, aber nicht liebt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es unangenehm werden, aber das ist mir egal. Ich habe diese drei Worte noch nie zu jemandem gesagt, nicht als Erwachsener jedenfalls. Es wird endlich Zeit. Auch wenn ich mich lächerlich mache und alles in einem Desaster endet.

Der Regen wird wieder heftiger, aber mir ist nicht kalt. Ich hebe den Blick zum Fenster, wo Aimee nicht mehr steht. Bestimmt kommt sie gleich runter, und wir können los.

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