13

Dobbs besucht mich fast jeden Tag und bewundert den Holzboden, den ich alle zwei Wochen mit Leinöl poliere. Ich schlage vor, dass wir in seinem Zimmer den Teppich ebenfalls herausreißen und die Dielen schleifen und ölen, und Dobbs strahlt. In Winstons Laden habe ich eine Schleifmaschine gefunden, mit der die Arbeit ein wenig leichter zu schaffen ist. Ich frage Randolph um Erlaubnis, und er hat nichts dagegen, solange es nichts kostet.

Wir schleppen die Möbel auf den Flur, was wegen Dobbs’ steifem Bein ewig dauert. Dann entfernen wir die Sockelleisten und zerren den Teppich von den Dielen, schwitzend und fluchend unter den Masken, die uns vor dem Staub und dem pulverisierten Leim schützen. Der Teppich lässt sich nur in mürben, faserigen Placken vom Untergrund lösen, und wir schneiden ihn in taschenbuchgroße Stücke, die wir in Müllsäcke stopfen. Nach einer Stunde keucht Dobbs dermaßen, dass ich das Herausreißen alleine erledige und ihm das Schneiden überlasse. Drei Stunden später sind wir fertig. Wir schleppen die Müllsäcke hinunter und ignorieren dabei Alfred und Enrique, die wissen wollen, wessen Leiche wir entsorgen.

An manchen Stellen ist der alte Leim knochentrocken und wie kristallisiert und lässt sich mit dem Spachtel leicht abschaben, an anderen ist er hart und zäh und mit dem Holz eine Verbindung für die Ewigkeit eingegangen. Dobbs und ich knien beziehungsweise liegen bäuchlings auf Schaumstoffkissen wie Archäologen, die ihre eigene unrühmliche Vergangenheit freilegen. Wir arbeiten verbissen, hören Glenn Millers Orchester zu und vertreiben neugierige Gaffer mit flapsigen Antworten. Dobbs schläft in einem der freien Zimmer, das er für die kurze Zeit des Exils heimelig macht, indem er seine Bilder darin aufhängt und eine Büchse mit intensiv riechendem Darjeeling offen auf die Kommode stellt.

Am Abend des nächsten Tages ist der Boden von den Leimresten befreit, am Nachmittag darauf fangen wir mit dem Schleifen an. Obwohl der Raum klein ist, zwölf Quadratmeter, sind wir drei Tage beschäftigt. Dann legen wir Zeitungen auf den Boden und streichen die Wände und die Decke mit der weißen Farbe, die vom Streichen der Lobby übriggeblieben ist. Drei Anstriche sind nötig, um die verdammte Tapete zu decken.

Am siebten Tag tragen wir das Leinöl auf, drei Schichten im Abstand von vier Stunden. Am Nachmittag des achten Tages polieren wir den Boden mit Baumwolltüchern, am Abend stellen wir die Möbel zurück in den Raum. Alle kommen hoch, um sich unser Werk anzusehen. Sogar Mazursky, der sich vor ein paar Tagen den Fuß verstaucht hat und keinen unnötigen Schritt geht, humpelt auf Krücken den Flur entlang und macht große Augen. Ich habe bei Winston ein paar alte Holzrahmen gekauft, in denen jetzt Dobbs’ Heimwehbilder stecken, Landschaftsaufnahmen aus Louisiana, die vorher nur mit Reißzwecken an die Wand geheftet waren und auf den arktisweißen Wänden richtig edel aussehen.

«Ich mag die Wände«, sagt Randolph. Er schießt mit einer Wegwerfkamera Bilder, die er dem Besitzer des Hotels schicken wird.»Besser als die Tapeten. Macht den Raum irgendwie größer. «Bestimmt erzählt er dem Kerl, die Idee für die ganzen Renovierungen sei auf seinem Mist gewachsen.

«Ich will auch so ein Zimmer«, sagt Elwood. Mazursky schließt sich ihm an,»Mein Teppich stinkt. «Plötzlich wollen alle ihre Bude verschönert haben und bestürmen Randolph.

«Quatscht nicht mich an«, sagt Randolph, macht ein letztes Bild und verlässt das Zimmer.»Wendet euch an die Firma Sandberg. «Er grinst mir zu und geht zum Fahrstuhl.

Elwood ist der erste, der mich mit Flehen und Betteln weichklopft. Er erzählt mir, dass er in dem Haus in New Jersey, wo er vor einem halben Jahrhundert mal gelebt hat, genau solche Holzböden hatte, wie ich sie freilege. Zuerst vertröste ich ihn auf unbestimmte Zeit, aber dann bietet Dobbs mir seine Hilfe an und wir machen aus Elwoods tristem Loch ein sauberes, helles Zimmer, an dessen Wänden gerahmte Bilder hängen wie in einem vornehmen Haus. Am Tag, an dem wir fertig sind, wird Elwood einundachtzig. Am Nachmittag feiern wir, essen Bananenkuchen nach Madame Robespierres Rezept und trinken Fruchtpunsch. Enrique spendiert eine Flasche Gin, und wer will, kriegt seinen Punsch mit Schuss. Ich habe seit Spencers Beerdigung keinen Alkohol getrunken und vor, noch eine Weile abstinent zu bleiben. Dabei mache ich mir keine Illusionen. Das Leben ist eine Achterbahn, und wenn es abwärts geht und die Räder aus den Schienen springen, federt ein Rausch den Aufprall ein wenig. Elwood braucht drei Anläufe, um die zehn oder zwölf symbolischen Kerzen auf dem Kuchen auszupusten. Er weint gerührt und beschwipst und erzählt von früher. Gegen Abend döst er auf seinem frisch bezogenen Bett ein, und wir lassen ihn schlafen.

Später in dieser Nacht sitze ich hinter dem Empfangstresen und vertreibe mir die Zeit damit, die Karteikarten mit den Personalien der Dauergäste neu auszufüllen. Randolphs Schrift ist kaum zu entziffern, winzig und kringelig, und Leonidas hat auf die Rückseite jeder Karte Bemerkungen gekritzelt. Bei Elwood, der mit Nachnamen Watts heißt, steht zum Beispiel: VORSICHT! RELIGIÖS, KEINE SCHERZE ÜBER GOTT! daneben: SCHWERHÖRIG. Anthony Howard Mazursky hat den Eintrag STUR UND EINFÄLTIG, KEINE DISKUSSIONEN ÜBER POLITIK, KULTUR, KRIMINALITÄT. Die letzten drei Wörter sind durchgestrichen und mit IRGENDWAS! ersetzt. Auf der Rückseite von Spencers Karte steht: REDET NICHT, BESCHWERT SICH NIE. DER PERFEKTE GAST. SCHWESTER IN KALIFORNIEN (ZELDA). Ich setze seinen Todestag dazu und stecke die Karte ein.

Alfred und Enrique sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Sie haben den restlichen Gin getrunken und halten ein schläfriges Gespräch in Gang. Ich höre ihr Lallen und Glucksen und rauhes Lachen über etwas, das mit Sicherheit nicht witzig ist, und schwöre mir, nie wieder einen Schluck Alkohol zu trinken.

Enriques Boden mache ich unter der Bedingung, dass er im Gegenzug Mazursky bei seinem hilft. Alfred ist der einzige der Dauergäste, der seinen schmuddeligen Teppich behalten will. Er behauptet, die Arbeit lohne sich nicht, weil er das Hotel bald verlasse. Nach dem kläglichen Scheitern seiner Versuche, bei Zelda Prescott zu landen, wollte er eine Weile nichts mehr von Frauen wissen, aber jetzt wärmt eine neue Flamme sein altes Herz. Sie heißt Iris Rawlings, ist seit drei Jahren Witwe und kinderlos. Ihr Mann hatte eine Druckerei besessen, nichts Großes, sagt Alfred, aber in einer guten Gegend. Das Gebäude alleine habe vermutlich über eine Million gebracht. Alfred hat Iris bei einer Dichterlesung in der öffentlichen Bücherei kennengelernt, wo sie ehrenamtlich arbeitet. Er hat mit Poesie etwa so viel am Hut wie mit seriöser Arbeit oder Steuererklärungen, aber er ist ein begnadeter Schauspieler und genial, wenn es ums Improvisieren geht. Bei seiner ersten Begegnung mit Iris muss er zu Höchstform aufgelaufen sein, denn schon eine Woche später hat er davon gesprochen, mit ihr zusammenzuziehen.

Wir haben auch ohne Alfreds Zimmer genug zu tun. Unter Mazurskys Teppich kommen keine Holzdielen, sondern schimmlige Spanplatten zum Vorschein, was bedeutet, dass wir Parkettboden auftreiben müssen. Mit Winstons Hilfe finden wir einen Restposten Eiche dunkel für achtzig Dollar. Die Hälfte davon bezahlt Randolph aus der Kasse für Instandhaltungsarbeiten, Mazursky übernimmt die andere Hälfte. Wegen seines verstauchten Fußes kann er Enrique und mir beim Entfernen des Teppichs und der Spanplatten nicht helfen, dafür erzählt er uns seine Lebensgeschichte, inklusive Kindheit in Hell’s Kitchen, Gaslampen und Bandenkriegen. Er beteuert, früher ein toller Hecht gewesen zu sein, zählt die Namen seiner Freundinnen auf und kramt verblichene Fotos aus der Kommode, die auf dem Flur steht. Er macht uns mit seiner Theorie zur Ermordung Kennedys vertraut und schildert die erste Mondlandung, als wäre es gestern gewesen. In einem Nebensatz erwähnt er eine gescheiterte Ehe und ein Kind, verklärt seine Zeit beim Militär und zeigt uns Briefe ehemaliger Kameraden, die alle tot sind oder irgendwann aufgehört haben, ihm zu antworten. Was er nicht erzählt, ist, warum es ihn an diesen Ort verschlagen hat, und wir fragen ihn nicht danach.

Mazurskys Einweihungsfest ist rauschender als das von Elwood. Ran dolph überrascht alle und lässt von einem nahen Imbisslokal Essen für uns kommen, und obwohl im Hotel laut Hausordnung Alkoholverbot herrscht, drückt er beide Augen zu und trinkt mehr, als er verträgt. Am Schluss sind außer mir und Dobbs alle betrunken, sogar Elwood, der behauptet, man habe ihm das Bier als alkoholfrei angedreht.

Nachts sitze ich hinter dem Empfangstresen, lese oder surfe im Internet. Leonidas schickt mir regelmäßig Mails. Er ist von Griechenland über die Türkei nach Deutschland gereist und lebt jetzt in Berlin mit einer Gruppe von Malern und arbeitslosen Schauspielern. Er schreibt, Sprache sei überholt, die bildende Kunst habe ihm die Augen geöffnet. Wenn er nicht gerade seinen Lebensunterhalt mit unterbezahlten und gesundheitsgefährdenden Aushilfsarbeiten verdient, malt er im Keller des Wohngemeinschaftshauses Bilder. Ich berichte ihm, was im Hotel läuft, dass wir zwei neue Dauergäste haben, Harvey und Joe, und dass Spencers Zeichnungen die Sitzecke in der Lobby adeln. Dass ich ein paar der Zimmer renoviert habe, schreibe ich ihm auch.

Er schickt mir digitale Aufnahmen seiner Werke als Fotodateien und bittet mich um Bilder der verwandelten Zimmer. Leonidas’ Gemälde sind zwei mal drei Meter groß und ungegenständlich, eine Stilrichtung, die ihm als blutiger Anfänger am meisten entgegenkommt. In einem Fotoladen leihe ich mir eine Digitalkamera und mache Aufnahmen von Dobbs’, Elwoods, Mazurskys und meinem Zimmer und von der Galerie in der Lobby. Während ich die makellos weißen Wände mit den gerahmten Bildern fotografiere, fällt mir auf, wie heruntergekommen der Rest der Lobby ist.

Am nächsten Tag hebe ich eine Ecke des Teppichs neben einem Sofa hoch und sehe, dass darunter ein tadellos erhaltener Holzboden liegt. Der Teppich ist nicht verleimt, sondern mit Messingschienen an den Boden geschraubt. Ich frage Randolph, ob er etwas dagegen hat, wenn ich die Lobby ein wenig aufpoliere, und er lässt mir freie Hand. Enrique, Alfred und Harvey, einer der beiden neuen Dauergäste, helfen mir dabei, die Möbel zu verrücken. Harvey Kurz ist dreiundsiebzig und der optische Zwillingsbruder von Gene Hackman. Er hat ein Vierteljahrhundert lang als Außendienstmitarbeiter Rasenmäher verkauft und dann, nachdem sein Arbeitgeber in Konkurs ging, noch einmal so lange die unterschiedlichsten Jobs gemacht, von Gärtner, Wachmann und Kellner bis zu Autowäscher und Küchenhilfe, immer ein wenig schlechter bezahlt, immer ein wenig entwürdigender. Wie alle alten Männer im Hotel, hat auch Harvey keine Verwandten, die sich um ihn kümmern oder ihn sogar aufnehmen könnten. Sein älterer Bruder, mit dem er sich eine winzige Wohnung in Queens geteilt hat, ist vor zwei Monaten gestorben, und alleine brachte er das Geld für die Miete nicht mehr auf. Jetzt wohnt er bei uns, im Zimmer neben Dobbs. Er sagt, er bleibe wahrscheinlich nicht lange, das New Yorker Klima bekomme ihm immer weniger. Aber ich glaube, Harvey wird uns eine Weile Gesellschaft leisten. Er ist ein umgänglicher Kerl, sogar mit Mazursky versteht er sich erstaunlich gut, obwohl der ihn schon am ersten Abend bezichtigt hat, beim Poker zu betrügen. Außerdem ist Harvey pleite. Er bekommt Sozialhilfe, aber das ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Auf jeden Fall reicht es nicht, um in Key Largo einen Laden für Angelzubehör zu eröffnen.

Wir rollen den Teppich auf und tragen ihn in den Heizungsraum. Ich kaufe Spachtelmasse, um die Risse und Nagellöcher und tiefen Kratzer zu füllen. Es gibt das Zeug in verschiedenen Farbtönen, und wenn es ausgehärtet ist, sieht es aus wie Holz. Dann schleifen wir den Boden, aber nur, um die Flecken und feinen Schrammen zu beseitigen. Enrique hat einen Aushilfsjob in einem Supermarkt gefunden und muss uns am frühen Nachmittag verlassen, aber Harvey und Alfred bleiben, und sogar Mazursky widmet sich hingebungsvoll einer Ecke und erinnert uns alle paar Minuten mit einem lauten Stöhnen daran, dass ihm sein Fuß noch immer Schmerzen bereitet. Alfred ist schlecht gelaunt, weil Iris ohne ihn nach Denver geflogen ist, wo einer ihrer Neffen heiratet.

«Vermutlich hält sie mich für nicht vorzeigbar«, sagt Alfred.

«Ihr kennt euch doch erst… wie lange? Drei Wochen?«Ich hätte lieber etwas anderes gesagt, etwas Fieseres, das Alfred auf die Palme bringt, aber ich weiß, wie ernst ihm die Sache mit Iris ist und dass er tödlich beleidigt wäre, wenn ich über seine hehren Absichten witzeln oder sie gar anzweifeln würde.

«Fast vier, einen ganzen Monat. Wenn ich einen Neffen hätte, der mich zu seiner Hochzeit einlädt, würde ich Iris mitnehmen.«

Mazursky stemmt sich ächzend hoch und trinkt einen Schluck Wasser.»Habt ihr beiden eigentlich schon…«Er steht grinsend da, die Hose gepudert vom Holzstaub.»Du weißt schon.«

«Es geht dich zwar einen feuchten Kehricht an, aber die Antwort ist nein. In dieser Beziehung geht es um Vertrauen, Respekt, seelische Verbundenheit. Dinge, von denen ein seniler Dummschwätzer wie du keinen Schimmer hat. «Alfred tobt sich mit seinem Sandpapier schon seit einer Ewigkeit an derselben Stelle aus.

«Du schleifst noch eine Mulde in den Boden«, sage ich zu ihm.

Alfred rutscht ein Stück weiter.»Ich bin ihr nicht gut genug, so sieht’s aus.«

«Sie will nichts überstürzen«, sage ich, um Alfred aufzumuntern.

«Sie will sich nicht festlegen«, sagt Mazursky,»wenn ihr mich fragt.«

«Dich fragt aber keiner«, sagt Alfred. Er steht auf und holt ein neues Stück Sandpapier.

Eine Weile arbeiten wir schweigend. Randolph sitzt hinter der Empfangstheke und hört Radio, aber so leise, dass wir den Sprecher nicht verstehen. Obwohl Randolph weit davon entfernt ist, reich zu sein, hört er den ganzen Tag Radiosendungen zum Thema Wirtschaft und Finanzen. Während seiner Schicht ist er dauernd vom Flüstern der Börsengurus umgeben, vom geheimnisvollen Murmeln der Analysten. Von Alfred weiß ich, dass Randolph in einem Mietshaus in der Nähe wohnt, das es in Sachen Schäbigkeit mit dem Hotel aufnehmen kann, und aus Mazurskys zweifelhafter Quelle stammt die Information, Randolph habe vor Jahren viel Geld mit Aktien verloren. Ich wünschte, Dobbs würde sein Radio runterbringen und wir könnten Swing hören statt die unverständliche Litanei von Gewinn und Verlust.

«Sie vermisst ihren Mann«, sagt Harvey plötzlich in die nur von Schleifgeräuschen, Mazurskys gelegentlichem Stöhnen und dem Radiowispern gestörte Stille.

«Was?«Alfred wischt sich Schweiß von der Stirn.

Erst sieht es so aus, als bereue Harvey, etwas zum Thema Alfred und Iris beigetragen zu haben, aber dann sagt er:»Sie kann ihren Mann nicht vergessen. Sie liebt ihn noch immer.«

Alfred starrt Harvey eine Weile an, dann beugt er sich wieder über den Fußboden und bearbeitet ihn mit Schleifpapier, als wären Harveys Sätze auf das Holz geschrieben und müssten ausradiert werden. Für eine lange Zeit redet keiner mehr, sogar Mazursky hält die Klappe. Ab und zu werfe ich einen Blick auf Harvey, der von der Seite noch mehr wie Gene Hackman aussieht und an dessen linker Hand ein goldener Ehering glänzt.

Am späten Nachmittag bringt Elwood uns alkoholfreies Bier, das Randolph aus der Instandhaltungskasse zahlt. Dobbs kommt mit einer Tüte Hot Dogs, lobt unseren Fortschritt und entschuldigt sich zum tausendsten Mal dafür, dass er nicht mithelfen kann. Er hat sich vom Schleifen eine Sehnenscheidenentzündung am Handgelenk geholt und kann kaum noch einen Löffel halten. Die Salbe aus der Apotheke verströmt einen Geruch nach Menthol und Harz, der sich mit dem Duft von Sauerkraut, Zwiebeln und Chili mischt. Während wir essen, tritt Joe Feltrinelli, neben Harvey der zweite Neuzugang, der uns wohl eine Weile erhalten bleiben wird, aus dem Fahrstuhl. Joe ist sechsundsiebzig und nicht gerade das, was man einen geselligen Kerl nennt. Er redet mit keinem von uns auch nur ein einziges Wort, strahlt dabei aber nicht die Freundlichkeit aus, die Spencer zum sympathischen Sonderling gemacht hat, sondern verbreitet eine Aura von Kälte und Verschlossenheit. Enrique hat ihm den Spitznamen Silent Joe gegeben, und hinter seinem Rücken nennen ihn alle so. Mazursky versteigt sich zu der Theorie, Silent Joe sei ein ehemaliger Mafiaboss, der hier untertauche, um einem familiären Mordkomplott zu entgehen, aber die meisten hier halten den schweigsamen Neuling einfach nur für einen Kotzbrocken. Joe setzt seine Sonnenbrille auf und verlässt das Hotel, ohne einen Blick an uns zu verschwenden.

«Eingebildeter Arsch«, sagt Alfred, dann macht er sich wieder über den Boden her.

Bis zum Abend sind wir mit dem Schleifen fertig. Wir feiern den Anlass in einem billigen Lokal drei Querstraßen weiter, wo es zu jeder Mahlzeit umsonst Suppe und Pudding gibt.

Am Sonntag fahre ich mit dem Bus zum Friedhof und besuche Spencers Grab. Gestern haben Enrique, Harvey und ich den Boden eingeölt, und als wir fertig waren, konnte nicht einmal Randolph ganz verbergen, wie sehr das Resultat ihn überwältigte. Davon und von Iris Rawlings und Harvey Kurz und Silent Joe erzähle ich Spencer, während ich Unkraut zupfe und einen Strauß frischer Blumen in die Vase stelle. Es ist bewölkt, aber es regnet nicht, obwohl Winston heftige Niederschläge angekündigt hat. Überall auf dem riesigen Friedhof knien Leute vor Grabsteinen und reden leise mit ihren Toten. Eine dicke Frau sitzt auf einem Klappstuhl und liest aus einem Brief vor. Wenn ich hier bin, muss ich an Orla denken und daran, wie gerne ich ihr Grab besuchen und ihr von all den vergangenen Jahren erzählen würde. Wie gerne ich die Erde berühren würde, unter der sie mit meiner Mutter in den Armen liegt.

Ich weine und entschuldige mich bei Spencer, dass es nicht seinetwegen ist. Ein kalter Wind kommt auf, die dicke Frau faltet die weißen Blätter zusammen und rückt mit dem Stuhl näher zum Grabstein wie an einen Ofen. Über gewundene Kieswege gehe ich zum Haupttor, ein weiter Weg, und plötzlich fallen Regentropfen. Von einer Sekunde auf die andere schüttet es, und ich renne unter die Äste eines Baumes und sehe zu, wie der Himmel sich leert. Und ich sehe Aimee. Ich weiß sofort, dass sie es ist. Sie ist die einzige hier, die nicht rennt. Eine Weile warte ich, dann folge ich ihr. Leute kommen mir entgegen, Männer mit Zeitungen über dem Kopf, Frauen unter Handtaschen und Blumenpapier und hochgezogenen Mänteln. Aimee geht über eine Wiese, und ich renne von einem Baum zum nächsten und sehe ihr nach. Sie ist klatschnass, die Haare kleben ihr am Kopf, aber es scheint sie nicht zu kümmern. Ich bin zwischen zwei Bäumen auf einer Wiese, als sie vor einem Grab stehen bleibt. Deckungslos warte ich, nass bis auf die Haut, die durchweichten Schuhe im kurzgeschnittenen braunen Gras. Außer uns ist niemand mehr zu sehen, ein schwarzer Schirm verschwindet aus meinem Blickfeld, ein Vogel in einem Gebüsch. Das Prasseln des Regens schluckt jedes andere Geräusch. Aimee nimmt etwas aus einem kleinen Rucksack und betrachtet es lange, dann geht sie in die Hocke und legt es auf die Steinplatte. Eine Weile kauert sie so, dann erhebt sie sich und dreht sich zu mir um. Ich weiß nicht, wie lange wir uns ansehen, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

«Hallo«, sagt sie tonlos.

«Hallo«, sage ich, so leise, dass ich es selbst kaum höre. Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu. Jetzt erkenne ich den Stapel aus hellen Seiten, der neben ihr am Boden liegt.

«Verfolgst du mich?«Sie streift sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, und das kürzeste, traurigste Lächeln, das man sich vorstellen kann, wischt über ihr Gesicht.

«Ja«, sage ich. Mein Lächeln ist noch dürftiger.

Aimee senkt den Kopf, Wassertropfen glitzern auf ihren Wimpern.»Warum?«

Der Regen, noch eine Spur heftiger geworden, spült mich in Grund und Boden, ich friere und habe das Gefühl, mich langsam aufzulösen, aber ich habe keine Angst zu ertrinken.»Weil ich dich vermisse«, sage ich.

Aimee steht da und sieht mich an, als müsse sie nachdenken über das, was ich gesagt habe. Ich lese die Inschrift auf dem Grabstein. ROBERT J. WARD 1973–1998. Sie dreht sich um. Ich mache noch einen Schritt auf sie zu.

«Mein Bruder«, sagt Aimee.

Ich stehe da und sehe Aimees Rücken, den Hals, an dem feuchte Haare kleben, die Schulterblätter, über die sich nasser Stoff spannt. Ich möchte ihre Hand berühren, von deren Fingerspitzen Tropfen fallen, aber ich lasse es.»Woran ist er gestorben?«frage ich, um irgendetwas zu sagen.

«Er hat sich umgebracht. «Aimee kauert sich hin und reißt ein paar Grashalme aus, die im Spalt zwischen der Platte und dem Grabstein gewachsen sind.

Eine Weile sagen wir beide nichts. Ich gehe in die Hocke und zupfe aus dem schweren Boden, was ich für Unkraut halte. Der Papierstapel ist Aimees Artikel über die Stadt der Selbstmörder. Obwohl die Schrift vom Regen verschmiert ist, kann ich den Titel lesen. Ein Windstoß bewegt eine Ecke des obersten Blattes, und Aimee legt die Hand darauf. Dann nimmt sie mehrere der weißen, rund geschliffenen Steine, die wie grober Kies das Grab einfassen, und beschwert damit den Stapel.

«Hat eine Zeitung ihn abgedruckt?«frage ich.

Aimee schüttelt den Kopf. Sie richtet sich auf, wirft das Gras weg und wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab.»Ich bin keine Journalistin«, sagt sie so leise, dass ich noch einen Schritt näher gehen muss, um sie zu verstehen.»Die ganze Arbeit war umsonst. Es ist…«Sie hebt die Arme, lässt sie wieder sinken und fängt an zu weinen.

Vielleicht eine Sekunde zögere ich, dann mache ich den letzten Schritt und nehme sie in die Arme. Sie schluchzt und stammelt Satzanfänge gegen meine Brust, und ich streichle ihren Kopf und flüstere Wörter, unbeholfene Trostformeln für uns beide.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir den Friedhof verlassen haben. Jedenfalls regnet es noch immer, und das Lokal, in dem wir sitzen und Kaffee trinken, ist voller Wetterflüchtlinge. Aimee hat die Hände um ihre Tasse gelegt und sieht aus dem Fenster. Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, und weil ich sie nicht nach Robert fragen will, warte ich, bis sie von sich aus erzählt. Ein großer hellbrauner Hund trottet zu ihr und legt ihr die Schnauze auf das Bein. Aimee lächelt überrascht und streichelt seinen Kopf, dann geht der Hund zurück unter den Tisch, von wo er gekommen ist, und legt sich hin.

«Wir hatten auch einen Hund«, sagt Aimee. Sie sieht mich an, und ein Rest des Lächelns liegt auf ihrem Gesicht.»Harpo. «Sie dreht die Tasse zwischen den Händen.»Hattest du einen Hund?«

Ich schüttle den Kopf.

«Hast du Geschwister?«

«Nein«, sage ich.

Aimee sieht zu dem Hund hinüber, der zu schlafen scheint. Ihre Haare sind noch feucht und die Augen gerötet vom Weinen. Sie wendet sich wieder mir zu, spielt mit einem leeren Zuckerbriefchen.»Ich hatte Bobby. Fünf Jahre älter. Er konnte toll zeichnen, Pflanzen, Tiere, einfach alles. Den Hund da hätte er, also… na ja, jedenfalls, nach dem College hat er als Illustrator gearbeitet. Sachen für Zeitschriften, Werbung, ab und zu Kinderbücher. Ich bin mit achtzehn von zu Hause weg, aber Bobby ist bei meinen Eltern geblieben. Sie haben ihm ein Atelier eingerichtet, im Dachstock. «Aimee trinkt einen Schluck Kaffee, bevor sie weiterredet.»Er war schon als Kind seltsam, hat lieber drinnen gesessen und gemalt, statt draußen mit den Nachbarjungs rumzutoben. Er war immer so ernst, weißt du?«Sie sieht mich kurz an, dann senkt sie wieder den Blick.»Wenn ich über die Cartoons in der Zeitung gelacht hab, hat er sich nur gewundert. Meine Eltern fanden das nicht beunruhigend oder so. Sie meinten, er sei eben anders, tiefsinnig, ein Künstler. Ich würde mir unnötig Gedanken machen, haben sie gesagt, mit Bobby sei alles in Ordnung. «Sie zerknüllt das Zuckerbriefchen.»Nach dem College wollte ich studieren, Psychologie, aber… tja… meine Noten waren nicht gerade toll. Also habe ich gejobbt, als Kellnerin, Verkäuferin… du weißt schon, so was eben. «Aimee trinkt ihren Kaffee aus und löffelt dann abwesend den Zucker vom Boden der Tasse.

Die Leute um uns herum gehen, auch der Hund ist auf einmal weg. Ein paar Tische entfernt sitzt eine alte Frau und klaubt Flusen von ihrem feuchten Schal. Ihren Kaffee trinkt sie wie ich mit dem Löffel.

«Irgendwann hatte ich genug von den Idiotenjobs und hab eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Ein bisschen hat das ja auch mit Psychologie zu tun. «Sie leckt den Löffel ab und sieht mich an. Ich nicke.»Bobby war fünfundzwanzig, als er versucht hat, sich umzubringen. Er hat sich im Garten in den Schnee gesetzt und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Tochter unserer Nachbarn, das Mädchen, das er immer heimlich gezeichnet hat, hat ihn gefunden. Er kam ins Krankenhaus, nicht das, wo ich gearbeitet habe, und eine Woche später wurde er ins Caldwell Institut verlegt. Meine Eltern hielten das für eine gute Idee, das Institut war ein halbes Jahr zuvor eingeweiht worden. Alle Welt lobte die neuen Methoden, die wunderbaren Therapien und deinen tollen Dr. Vermeer.«

«Er ist nicht mein Dr. Vermeer«, sage ich ruhig.»Und ich habe nie behauptet, er sei toll. Ich habe nur gesagt, dass ich ihm nichts vorwerfen kann.«

Aimee nickt, schiebt mit der Fingerspitze Zuckerkörnchen hin und her. Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt, ihr einfach nur zugehört.

«Ja, klar«, sagt Aimee,»tut mir leid. Auf jeden Fall hat mein Bruder elf Tage später einen zweiten Selbstmordversuch unternommen, und diesmal hat er es geschafft. «Sie sieht mich an, in ihrem Blick liegt etwas Herausforderndes und unendlich Trauriges.

Vor dem Lokal bellt der Hund. Aimee zieht die Nase hoch und wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Der Kratzer auf ihrer Wange ist verschwunden. Die Kellnerin kommt und schenkt Kaffee nach. Sie ist müde und nicht sehr freundlich, aber Aimee lächelt ihr zu und bedankt sich. Jungen in Pfadfinderuniform gehen am Fenster vorbei, der vorderste trägt eine Fahne. Es regnet nicht mehr.

«Warum warst du auf dem Friedhof?«fragt Aimee.

«Einer der Männer aus dem Hotel liegt da begraben.«

«Lebst du gerne in dem Hotel?«

Ich zucke mit den Schultern.»Ja. Es geht.«

«Hast du deinen Vater gefunden?«

«Was?«Ich sehe Aimee an, aber sie sagt nichts mehr, sie weiß, dass ich ihre Frage verstanden habe. Sie tut Zucker in ihren Kaffee und rührt um. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich ihr von meinem Vater erzählt habe, aber es fällt mir nicht ein. Vielleicht hat sie damals die Sachen in meinem Koffer gesehen, die Fotografie, die Briefe.»Nein«, sage ich schließlich.

«Lass uns gehen«, sagt Aimee und steht auf, gerade als ich nach ihrer Hand greifen will.

Eigentlich wollte ich Aimee den Boden der Lobby zeigen und die weißen Wände und Spencers Bilder, aber sie ist nicht in der Stimmung dafür, und außerdem sitzen Alfred, Enrique, Mazursky, Elwood und Harvey und zwei Männer, die ich noch nie gesehen habe, auf den Sofas, rauchen, spielen Karten und Domino und reden Schwachsinn. Obwohl Aimee schlecht gelaunt ist, grüßt sie die alten Männer beinahe fröhlich, und das Septett grüßt zurück und winkt. Natürlich lassen Alfred und Enrique ein paar dumme Sprüche vom Stapel, und Mazursky wiehert los. Aimee hat unterwegs ein Sixpack Bier gekauft, das Enriques Blick nicht entgangen ist, und als ich hinter ihr die Treppe hochgehe, ruft er irgendwas in der Art, dass sie mich erst abfüllen und dann Sex mit mir haben wird und dass ich auf der Hut sein soll. Ich zeige ihm den Finger und nehme mir vor, ihm bei der nächsten Gelegenheit die Brille zu verstecken und ihn einen Tag lang halbblind durch die Gegend tapern zu lassen.

Falls Aimee vom Anblick meines Zimmers beeindruckt ist, kann sie es gut verbergen. Sie sieht sich um und setzt sich in Spencers Sessel, das Bier auf den Knien. Eine Flasche hat sie schon im Taxi getrunken, obwohl der Fahrer davon nicht begeistert war und dauernd in den Innenspiegel gesehen hat, und jetzt öffnet sie die zweite.

«Willst du ein Glas?«frage ich.

Aimee schüttelt den Kopf. Der leere Rucksack liegt neben ihr, und erst jetzt wird mir klar, dass der Artikel noch immer auf dem Grab ihres Bruders liegt. Ich setze mich aufs Bett. Aimee streckt die Beine aus, trinkt und betrachtet die Zeichnungen.

«Von wem sind die?«

Für einen Moment erwäge ich zu behaupten, sie seien von mir, aber Aimee würde mir sowieso nicht glauben.»Spencer«, sage ich.»Ich war heute an seinem Grab.«

Aimee hat die Zeichnung von sich entdeckt und steht auf, um sie aus der Nähe zu betrachten.»Wow«, sagt sie leise, nachdem sie ewig vor dem Bild gestanden hat. Sie setzt sich zurück in den Sessel und trinkt die Flasche leer. Dann schabt sie mit dem Fingernagel am Etikett, löst kleine Papierfetzen vom Glas.

«Alles in Ordnung?«

Aimee sieht mich an, als würde die Frage sie überfordern.

«Du bist irgendwie seltsam. «Ich gehe zu ihr und knie mich neben dem Sessel hin, lege die Arme auf die Lehne.

«Ich komme gerade vom Grab meines Bruders«, sagt Aimee ausdruckslos. Sie starrt auf ihre Schuhspitzen. Ich kann das Bier in ihrem Atem riechen.

«Entschuldige. «Ich berühre ihren Arm. Aus Dobbs’ Zimmer dringt kein Laut. Leise Swingmusik würde jetzt bestimmt helfen. Aimees Gesicht ist verborgen hinter strähnigen Haaren. Ich gehe mit dem Kopf nahe an sie heran, küsse sie auf den Hals.

«Nicht«, sagt sie leise und dreht den Kopf weg.

«Warum bist du hergekommen?«

Aimee schweigt.

Ich bleibe noch einen Augenblick in meiner Haltung, dann setze ich mich zurück aufs Bett. Aimee zupft Papierstückchen von ihren Knien. Ich frage mich, ob ich mich gerade zum Idioten gemacht habe. Wenn ich nachrechne, wie lange wir uns nicht gesehen haben, komme ich auf mindestens zwei Monate, eher drei, mein Zeitgefühl ist mir irgendwie abhanden gekommen. Gut möglich, dass Aimee inzwischen einen neuen Freund hat, falls ich überhaupt jemals ihr Freund war, ihr fester Freund. Vielleicht ist sie mit dem Löwenbändiger zusammen, Stewart, Stew.

«Wie lange willst du eigentlich hierbleiben?«fragt Aimee plötzlich.

«Hier im Hotel?«Aimee sagt nichts.»Ich weiß nicht. Bis ich was Besseres gefunden habe.«

«Was ist das für dich, was Besseres?«

Offenbar überlege ich zu lange, denn Aimee steht auf und nimmt den Rucksack. Ich bleibe sitzen.»Wohin willst du?«

«Nach Hause. «Sie öffnet die Tür und geht hinaus.

Ich springe vom Bett hoch und laufe ihr nach.»Was hast du denn?«Aimee antwortet nicht. Sie geht den Flur entlang und zur Treppe, als müsse sie einen Zug erreichen.»Aimee?«

«Lass mich. «Aimee geht die Stufen hinunter.

«Bist du mit Stewart zusammen?«

Aimee bleibt stehen, dreht sich um und sieht mich an. Es dauert eine Weile, bis sie etwas sagt.»Du bist ein Idiot. «Dann geht sie weiter die Treppe hinunter.

«Ach ja?«rufe ich und folge ihr.»Warum verschwendest du dann deine Zeit mit mir?«Ich überhole Aimee und stelle mich auf der untersten Treppenstufe vor sie hin.»Ich bin also ein Idiot. In Ordnung, du bist die Psychologin. Dann sag mir aber auch, wie ich daran was ändern kann! Was soll ich tun?«

Aimee holt ihre Brieftasche hervor und daraus ein Blatt Papier. Sie faltet es auseinander und hält es mir hin. Es ist einer der Handzettel, mit denen wir meinen Vater gesucht haben. Er ist zerknittert und hat einen dunklen Fleck dort, wo die Telefonnummer steht.

«Woher hast du den?«

«Ist doch egal. Gefunden. «Sie sieht mich an, scheint auf etwas zu warten.

«Wir haben nach meinem Vater gesucht«, sage ich.

«Und habt ihn nicht gefunden. Oder?«

Ich sage nichts. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Kopf schüttle.

«Ich hab da angerufen«, sagt Aimee. Sie faltet den Zettel zusammen und will ihn in die Brieftasche stecken, aber dann hält sie ihn mir hin.

«Wann?«Ich nehme das gefaltete Blatt. Hunderte davon habe ich verteilt, eine Ewigkeit ist das her.

«Etwa vor einem Monat. Alice hat mir erzählt, ihr hättet deinen Vater gefunden. Dafür seist du jetzt weg. «Einen Augenblick bleibt Aimee noch stehen, dann geht sie die letzten Stufen hinunter in die Lobby.

«Hast du ihr gesagt, wo ich bin?«

Aimee dreht sich nicht mehr um.»Ist das dein einziges Problem?«

«Es ist alles viel komplizierter, als du denkst«, sage ich und halte sie am Arm fest.

Aimee sieht auf meine Hand, und ich lasse sie los.»Erklärst du’s mir?«Sie steht da und sieht mich an, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Blick ist fordernd und ungeduldig, das Gegenteil von ermutigend. Dann dreht sie sich mit einem Ruck um und will gehen, aber ich berühre sie am Arm, und sie bleibt stehen.

«Ich habe monatelang nach meinem Vater gesucht«, sage ich. Meine Finger zupfen an ihrem Ärmel, und als ich es merke, lasse ich die Hand sinken.»Und dann, nach einer Ewigkeit, habe ich ihn gefunden. Nach so vielen Jahren habe ich ihn endlich gefunden und konnte ihm nicht sagen, wie wütend ich auf ihn bin.«

«Du bist ein Idiot«, sagt Aimee mit bedauerndem Unterton.

«Du wiederholst dich, verdammt noch mal!«brülle ich sie an. Ich habe die Schnauze voll von ihren Vorwürfen. Wenn sie mich loswerden will, um mit ihrem Zooheini glücklich zu werden, muss sie es mir nur sagen, aber ihre ständigen Beleidigungen habe ich satt.

«Das weiß ich, du Idiot!«brüllt Aimee zurück.»Idiot!«Ihr Kopf ist plötzlich rot. Sie holt Luft und ballt die Fäuste, aber statt sich zu beruhigen, brüllt sie weiter. Ihre Stimme ist gigantisch, schwingend vor Zorn und trotzdem gefasst. Bestimmt kann Dobbs sie in seinem Zimmer hören.»Dein Vater hatte einen Schlaganfall! Er ist nicht tot! Du musst nicht an sein Grab gehen, um ihm zu sagen, dass du ihn vermisst! Du kannst jeden Tag bei ihm sein und ihm helfen, so lange, bis er dich versteht und weiß, wer du bist, und dann kannst du deinen aufgestauten dämlichen Frust an ihm auslassen!«Sie dreht sich um und geht durch die Lobby zum Ausgang, ihre Arme fliegen in die Luft.»Aber du, du verkriechst dich in diesem verfluchten Hotel und richtest dich ein, als ob du die nächsten siebzig Jahre hier verbringen willst!«

Ich folge ihr und nehme Randolph wahr, der hinter der Empfangstheke sitzt, und die Gesichter der Lobbyisten, die sich in einem synchronen Schwenk mit Aimee zur Tür bewegen, und am liebsten würde ich allen unter Androhung von Prügel raten, sich wieder um ihren eigenen Scheiß zu kümmern, aber Aimee rennt schon durch den Vorhang.

«Ich liebe dich!«rufe ich ihr hinterher und bleibe stehen. Es ist mir egal, dass mich alle anglotzen, Zeitungen und Dominosteine und Zigaretten in den vor Neugier und Verwunderung erschlafften Händen haltend. Es kümmert mich nicht, dass ich acht Zeugen für diesen Satz habe. Meinetwegen sollen sie sich Popcorn holen, das Licht ausmachen und vergessen zu atmen.

Nach einer effektvollen Pause teilt sich der Vorhang, und Aimee erscheint. Die Stille im Raum ist intensiver als der Lärm eines vorbeirasenden Güterzuges.

«Noch ein Problem, großartig!«ruft Aimee und klingt gleichzeitig genervt und erheitert, ihre Augen blitzen.»Wenn du die andern gelöst hast, kannst du dich ja darum kümmern. «Damit geht sie. Ein Hauch kalter Luft weht durch den sich schließenden Vorhang. Die schwere Tür quietscht und fällt gleich darauf ins Schloss.

Mazursky klatscht vorsichtig Beifall, hört aber sofort auf, als ich den Kopf in seine Richtung drehe. Noch immer starren mich alle an. In ihren Blicken liegt erwartungsvolle Unruhe, als sei ich ein Schauspieler, der vergessen hat, wie das Stück weitergeht. Elwoods Mund steht offen. Trotz seiner Schwerhörigkeit dürfte er den Dialog einwandfrei verstanden haben. Die beiden Neuen, die offenbar ein Zimmer für die Nacht gebucht haben, halten je einen Teller in den Händen, auf denen angebissene Brote liegen. Wahrscheinlich denken sie, das hier sei so eine Art Abendveranstaltung, ein flotter Einakter, und vergessen mit vollen Backen zu kauen.

Ich weiß tatsächlich nicht, was ich tun soll. Die Uhr über der Empfangstheke tickt plötzlich so laut, dass ich zusammenzucke. Enrique schüttelt den Kopf, meine Vorstellung scheint ihn zu enttäuschen.

«Was stehst du noch rum, Mann?«ruft Alfred schließlich.»Geh ihr nach!«

Ich sehe noch, wie Harvey mir aufmunternd zunickt, dann renne ich hinaus auf die Straße, wo Aimee gerade in einem Taxi davonfährt. Auf dem Gehsteig steht eine Kiste, eine zweite trägt Winston in seinen Laden. Damit ist auch die Frage geklärt, warum sich ein Taxi in unsere Straße verirrt hat. Eine Weile stehe ich noch da und lausche dem Echo meines letzten Satzes, dann hebe ich die Kiste hoch und bringe sie Winston. Er steht vor einem Klapptisch und wickelt kleine Porzellanfiguren aus Zeitungspapier.

«Ich wollte sie noch mit einem Schwätzchen über das Wetter aufhalten, aber sie schien es sehr eilig zu haben«, sagt Winston und betrachtet eine Figur, die einen im Stroh schlafenden Bauernjungen darstellt. Ein Schlapphut liegt auf dem Gesicht des Jungen, auf seinem Bauch hockt ein dösendes Huhn. Winston kann sich kaum satt sehen an den Details und der kunstvollen Bemalung.»Deine Freundin?«Er schiebt die Brille hoch und sieht mich kurz an, um sich dann einer anderen Figur zuzuwenden, einer Frau in wallenden Gewändern, die sich mit einer Hand auf ein Gewehr stützt und auf deren abgewinkeltem Arm ein Falke sitzt. Winson kneift die Augen zusammen, seufzt.

Ich stelle die Kiste auf den Boden neben die andere.»Ich weiß nicht mal, wo sie wohnt.«

Winston stellt die Figuren in eine Vitrine.»Danke fürs Reintragen«, sagt er.

Ich murmle ein» Nichts zu danken «und gehe zur offenen Tür.

«Will?«

Ich bleibe stehen und drehe mich um.

«Du wirst sie schon finden. «Winston hält die Figur eines sich umschlingenden Paares in der Hand, um das sich Gänse scharen.

Ich nicke, vermutlich nicht sehr überzeugend, dann verlasse ich den Laden.

Am nächsten Tag bin ich früh wach. Die Nachtschicht ist mir endlos lang vorgekommen, weil keiner der Männer in der Lobby war und nicht mal Dobbs runterkam, um mir Gesellschaft zu leisten. Am Ende der Schicht war ich hundemüde, aber schlafen konnte ich trotzdem nicht. In der Küche habe ich mir eine Tasse Kaffee und einen Doughnut geholt und sitze in der Lobby auf einem Sofa. Randolph verhandelt mit einem Gast den Preis für ein Zimmer. Der Mann, der nicht viel älter als sechzig ist, trägt eine graue Hose und eine blaue Jacke, aus der sein kleiner bleicher Kopf ragt wie aus einem vom Wind geblähten Zelt. Offenbar werden die beiden sich einig, denn der Mann legt Geld auf den Tresen, nimmt seinen Koffer und die Tasche und schlurft die Treppe hoch. Ich sehe mir die drei Säulen an, die zwischen dem Fliesenboden des Empfangsbereichs und den renovierten Dielen der Sitzecke stehen und deren Holzverkleidung von einer Schicht dunkelbrauner Farbe überzogen ist. Nachdem ich den Kaffee ausgetrunken habe, stehe ich auf und klopfe mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen das Holz.

«Ich wette, das waren mal sehr schöne Säulen aus einem guten Holz«, sage ich.

«Schon möglich«, sagt Randolph, ohne vom Bildschirm des Computers aufzusehen. Wenn draußen kein Auto vorbeifährt, ist das leise Klacken der Tastatur zu hören. Manchmal rauscht Wasser durch eine Röhre in den Wänden. In der zweiten Etage stochert ein Schlüssel im Loch, dann schließt sich eine Tür. Der neue Gast steht jetzt in seinem Zimmer und fragt sich, wie es so weit kommen konnte. Wenn er lange genug bleibt, reiße ich ihm den Teppich unter den Füßen weg und poliere ihm den Boden so blank, dass er nie mehr weg will. Müdigkeit erfasst mich bei dem Gedanken, die restlichen achtundzwanzig Zimmer des Hotels zu renovieren, aber auch eine seltsame Ruhe. Randolph dreht an der Skala des Radios, knisternde Stimmen ertönen und Fetzen prasselnder, verzerrter Musik.

«Die Farbe lässt sich abbeizen. Dauert zwei Tage pro Säule, vielleicht drei. «Ich löse mit dem Fingernagel ein Stück Farbe vom Holz.

«Mir gefallen sie, wie sie sind«, sagt Randolph.

«Vielleicht helfen mir Dobbs und Alfred, dann sind wir in einer Woche fertig. «Ich gehe zur Empfangstheke und fahre mit der Hand über die zerkratzte Arbeitsfläche.»Abgeschliffen und geölt könnte das ein Schmuckstück sein. «Ich klatsche mit der flachen Hand auf das Holz, damit Randolph merkt, dass ich von der Theke rede.

Randolph dreht das Radio leiser und sieht mich an.»Warum tust du das, Will?«

«Was meinst du?«

«Warum lebst du hier? Warum arbeitest du hier? Warum bist du besessen von der Idee, jedes Stück Holz in diesem Hotel freizulegen?«

«Was soll das? Ich brauche ein Dach über dem Kopf und einen Job. Und in meiner Freizeit renoviere ich ein paar Zimmer.«

«Stimmt das mit deinem Vater?«

Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass alle, die gestern Abend in der Lobby waren, die Unterhaltung zwischen Aimee und mir mitbekommen haben. Laut genug waren wir ja. Mein Blick ist auf die Holzfläche gerichtet, deren mit Schmutz und Tinte verfärbten Kratzer ein dunkles Gewirr bilden, in dem hastig eingeritzte Initialen und Symbole zu erkennen sind.

«Kann ich den Schlüssel für den Abstellraum haben?«frage ich schließlich und so kühl und beherrscht wie möglich. Ich habe keine Lust, mich mit Randolph über meinen Vater zu unterhalten.

«Wozu?«Randolph sieht mich noch immer an, was sehr ungewöhnlich ist, denn meistens gibt er einem das Gefühl, man sei einen Blickkontakt nicht wert.

«Ich will die Leiter holen, das Werkzeug.«

«Wozu?«

Jetzt sehe ich Randolph ins Gesicht.»Hab ich doch gesagt! Ich will die Säulen abbeizen!«

«Und ich habe gesagt, mir gefallen sie, wie sie sind«, sagt Randolph ruhig.

«Aber unter dieser hässlichen Farbe liegt schönes Holz verborgen!«»Meinetwegen kann darunter Marmor liegen. Die Säulen bleiben so.«

Eine Weile starre ich Randolph an. Ich merke, wie mein ganzer Kopf rot und warm wird vor Wut, vielleicht sogar anschwillt. In Randolphs Gesicht rührt sich kein Muskel, es ist ein stiller See, in den man einen Stein werfen möchte. In meinem Hirn blitzen Beschimpfungen auf, aber Fassungslosigkeit und plötzlicher grenzenloser Hass auf Randolph verhindern, dass ich den Mund öffne. Ich drehe mich um und gehe zur Treppe. Hinter mir ertönt ein loses Stück Musik, dann erfüllt das monotone Murmeln eines Börsengurus die Halle.

Zwei Stunden später klopft es an meine Tür. Ich liege auf dem Bett und lese eine Kurzgeschichte von Tschechow, aber ich kann mich nicht konzentrieren, brauche eine Ewigkeit für eine Seite und habe beim Umblättern schon wieder alles vergessen. Alfred und Harvey stehen auf dem Flur, hinter ihnen sehe ich Dobbs.

«Können wir mit dir reden?«fragt Alfred, und er klingt, als habe er eine neue Rolle einstudiert, die des ernsthaften Unterhändlers, des taktvollen Überbringers gewichtiger Nachrichten.

«Sicher. «Ich mache einen Schritt zur Seite, und die drei treten ein. Dobbs lächelt und senkt den Blick, ein kleiner Junge beim Besuch im Büro des Schuldirektors. Ich werfe die Tagesdecke über das Bett und setze mich auf den Stuhl. Dobbs und Harvey nehmen auf dem Bett Platz.

«Also, Will«, sagt Alfred,»es ist so…«Er wirft einen raschen Blick auf seine Freunde, bevor er weiterredet.»Wir sind ja nun nicht mehr die Allerjüngsten, und was die Gesundheit betrifft, so haben wir doch mit den verschiedenen Auswirkungen des Zerfalls zu kämpfen. «Er macht eine Pause und sieht mich an, als erwarte er meinen Einspruch. Aber ich bin nicht in der Stimmung für geistreiche Bemerkungen und schweige. Außerdem bin ich gespannt, worauf Alfred mit seiner geschwollenen Ansprache hinauswill. Alfred räuspert sich und faltet die Hände.»Unsere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sind, sagen wir es mal so, recht limitiert.«

Harvey nickt und murmelt etwas. Dobbs zupft Fusseln von seiner Hose.

«Aus diesen Gründen haben wir gestern mit Randolph gesprochen. Und sind uns einig geworden. «Alfred verstummt wieder.

«Ach ja?«sage ich.»Und worüber?«Ich sehe Dobbs so lange an, bis er meinen Blick erwidert.

«Über die Arbeiten«, sagt Dobbs leise,»hier im Hotel.«

«Randolph gibt uns die Zimmer billiger, wenn wir ein paar Jobs übernehmen. «Harvey erhebt sich, und Dobbs beeilt sich, ebenfalls aufzustehen.

«Redet ihr von meinen Jobs?«Ich bleibe sitzen. Sollen sich die drei ruhig bedrohlich fühlen, aufdringlich und unverschämt.

«Sieh mal, Will, die Nachtschicht und das alles, das ist doch sowieso zu viel für einen allein. «Jetzt markiert Alfred den netten Onkel, der es gut meint mit seinem Neffen.»Du kannst nicht vierundzwanzig Stunden in diesem Kasten hocken. Das ist ungesund.«

«Genau!«sagt Harvey.»Du bist jung! Hier drin verschwendest du deine Begabung!«

«Mit deiner Intelligenz stehen dir alle Türen offen«, sagt Dobbs.

«Türen? Begabung? Wovon zum Teufel redet ihr?«Ich würde gerne aufstehen, aber bleierne Müdigkeit hat meinen Körper befallen. Außerdem wäre ich dann noch immer ein paar Zentimeter kleiner als Dobbs, der Kleinste der drei.

«Wir haben ein paar Seiten aus deinem Buch gelesen, die du weggeworfen hast«, sagt Alfred und tut, als sei er wegen dieser Indiskretion ein wenig zerknirscht.

«Sie lagen im Abfalleimer«, sagt Dobbs.

«Jedenfalls bist du hochtalentiert, Will!«Alfred zeigt mit dem Finger auf mich.»Du musst raus ins Leben!«Er deutet zur Tür, als läge dahinter eine vor Möglichkeiten berstende Welt.

Harvey nickt.»In diesem Loch zu vergammeln ist eine Sünde!«

Eine Zeitlang betrachte ich den polierten Boden. Alfred, Harvey und Dobbs setzen sich wieder auf das Bett.

«Du findest bestimmt problemlos einen Job«, sagt Alfred.»Und eine neue Bleibe«, sagt Harvey.

Ich sehe die drei an.»Warum sollte ich mir eine neue Bleibe suchen?«Dobbs senkt den Blick. Harvey sieht Alfred an, der sich räuspert.»Hat Randolph es dir noch nicht gesagt?«

Ich schüttle den Kopf.»Nein, hat er nicht.«

«Nun ja, es ist so«, sagt Alfred, dem der Part des Übermittlers schlechter Neuigkeiten auf den Leib geschneidert ist,»der Besitzer des Hotels… wie heißt er noch gleich?«

«Greenwood«, sagt Dobbs.

«Greenberg«, sagt Harvey.

«Wie auch immer, jedenfalls hat er beschlossen, das Hotel nur noch für Männer zugänglich zu machen, die das fünfzigste Lebensjahr überschritten haben.«

«Was?«

«Ein Hotel für reife Herren.«

«Hotel für reife Herren?«rufe ich, und meine Stimme kippt ein wenig.

«Nun ja, Absteige für alte Säcke trifft es wohl eher. «Harvey lacht, und Alfred und Dobbs stimmen mit ein, hören aber auf, als sie sehen, dass ich das alles überhaupt nicht witzig finde.

Eine Weile sitzen wir schweigend da. Ich versuche die Wut auf Randolph aufzukochen, um sie über das Trio auszuschütten, aber es gelingt mir nicht. Ich bin eine Figur in einem abgekarteten Spiel, ich erkenne einen Zaunpfahl, wenn man damit vor meinem Gesicht winkt. Von hier verschwinden soll ich, schon kapiert. Die drei Heinis glotzen mich an, Dobbs scharrt mit dem Fuß. Ich würde ihnen gerne sagen, dass sie mir tierisch auf die Nerven gehen, und sie dann mit Arschtritten aus dem Zimmer befördern.

Stattdessen sage ich:»Wir wollten doch noch den Boden in deinem Zimmer machen, Al.«

«Du wolltest den Boden in meinem Zimmer machen«, sagt Alfred.»Ich mag den Teppich.«

«Der Teppich ist versifft«, sage ich. Ich höre mich überdeutlich, mein Ton ist trotzig.

«Ich habe ihn schaumgereinigt.«

«Ich dachte, du ziehst bald aus.«

«Wohl eher nicht. Iris und ich… na ja. «Alfred presst mit einem Geräusch Luft durch die Lippen. Dobbs und Harvey tätscheln synchron seine Knie.

Ich nicke mit hängendem Kopf. Im dunklen, glänzenden Holz kann ich mein Gesicht erkennen. Ich hasse die dumpfe, dumme, ewig gleiche Traurigkeit darin.

Am Nachmittag stehe ich mit meinem Koffer und einem Seesack, den ich bei Winston gekauft habe, vor Alices Haus. Es kommt mir vor, als läge ein ganzes Leben zwischen dem Tag, an dem ich die Wohnung verlassen habe, und heute. Irgendwie stimmt das ja auch. Ich setze mich neben dem Eingang auf den Seesack und warte. Leute gehen vorbei, zwei Kinder in Superheldenkostümen rennen zwischen ihnen hindurch. Miss Talbott, die auf derselben Etage wie Alice wohnt, tritt mit einem altertümlichen Radiogerät im Arm aus dem Haus und sieht in den graublauen Himmel. Ihre silbernen Haare stecken unter einer Plastikhaube, an den Füßen trägt sie winzige rosa Gummistiefel. Ein Seufzer entfährt ihrem blutrot geschminkten Mund, als sei sie enttäuscht, dass es nicht regnet. Sie wirft einen kurzen Blick auf mich, scheint mich nicht zu erkennen und geht über die Straße. Das Kabel, das aus dem Radio hängt, berührt beinahe den Boden.

Es ist Abend, als Alice, beladen mit einer Papiertüte vom Supermarkt, im langsamen Strom der Passanten auftaucht. Sie sieht mich und bleibt stehen, dann rennt sie auf mich zu. Ich erhebe mich, und sie lässt die Papiertüte mehr oder weniger fallen, und wir umarmen uns. Nach einer Weile sieht sie mich an, in ihren Augen liegen Bestürzung und Freude, ihre Hände halten meinen Kopf und streichen durch meine Haare, die viel zu lang geworden sind. Gleich weint sie, aber dann steht plötzlich Batman neben uns und hält eine Apfelsine in der ausgestreckten Hand.

Alice braucht einen Moment, bis sie begreift, dann sagt sie:»Möchtest du sie behalten?«

Der kleine Junge schüttelt den Kopf, drückt ihr die Frucht in die Hand und rennt mit flatterndem Umhang davon, verschwindet zwischen den Leuten. Ich helfe Alice beim Aufsammeln der übrigen Apfelsinen, nehme mein Gepäck und folge ihr ins Haus.

Am nächsten Morgen fahren wir in die Bronx. Alice hat gestern Abend mit Nathalie Kerkowski telefoniert und unseren Besuch angekündigt. Im Taxi hält sie meine Hand und versucht erst gar nicht, mit mir zu reden. Ich bin so nervös, dass mir schlecht ist, mein leerer Magen schaukelt im Rhythmus des Verkehrs. Es ist der erste sonnige Tag des Jahres, jedenfalls der erste, den ich wahrnehme. Licht füllt den Wagen aus, ein trüber weißer Dunst, der warm auf der Haut liegt. Die halbe Nacht lang haben wir geredet, danach konnte ich kaum schlafen.

Alice bestand darauf, dass ich meine Geschichte zuerst erzähle, und ich fing mit dem Hotel der alten Männer an, dem Ausgangs- und Schlusspunkt meiner Reise im Kreis. Dazwischen lag ein wirrer, vermutlich lückenhafter Bericht von Abstürzen und Umnachtung, vom Treibenlassen in der Stadt der Selbstmörder, von gescheiterten Anläufen einer Rückkehr ins Leben und misslungenen Versuchen meines Verschwindens aus der Welt. Das meiste, was ich erzählte, erschreckte Alice. Ich brachte sie aber auch beinahe zum Lachen, als ich Sams Petition gegen die Ziegen erwähnte und Mazurskys Auftritt an Spencers Beerdigung beschrieb. Wir tranken Kaffee, und um Mitternacht machte Alice Pfannkuchen, weil wir beide das Abendessen vergessen hatten.

Alice hörte einfach nur zu. Wenn ich stockte, saß sie da und wartete, bis ich fortfuhr. Dann war die Reihe an ihr. Sie hatte damals gedacht, ich würde ein paar Tage für mich alleine brauchen, mich irgendwann bei ihr melden und zurückkommen, wenn ich so weit wäre. Nach einer Woche begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen, aber Ernest und Rebecca meinten, ich sei jung und durch die Begegnung mit meinem Vater verwirrt, aber bestimmt wohlauf. Zehn Tage wartete Alice, dann ging sie zur Polizei, wo man ihre Angst um mich nicht sehr ernst nahm und ihr riet, Geduld zu haben. Von Typen wie mir wimmle es in New York City, sagte man ihr, ich würde entweder nie mehr auftauchen, irgendwann gefunden oder bald von alleine nach Hause kommen.

Harold, Louise und George kamen zu Besuch, und Harold verbrachte mehrere Tage damit, in einem Mietwagen durch Brooklyn zu fahren und nach mir zu suchen. Im Reformkostladen und in Alices Geschäft hingen Plakate mit meinem Bild, und diesmal gab es für Hinweise auf meinen Verbleib zweihundert Dollar Belohnung. Aus Sorge, nicht da zu sein, wenn ich mich blicken ließe, verschob Alice ihre Reise nach Florida, wo Trevor und Clive auf sie warteten. Alice hatte ihnen nichts von meinem Verschwinden erzählt und holte es nach, worauf die beiden unverzüglich nach New York fliegen und eine groß angelegte Suche starten wollten. Nur die von Alice erwogene Möglichkeit, ich könnte mich nach Cape Coral durchschlagen und bei ihnen klingeln, vermochte sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Alice und Nathalie waren einen Tag nach meiner Flucht mit meinem Vater zu einem Arzt gegangen. Der Schlaganfall hatte sein Hirn geschädigt, seine linke Seite gelähmt und ihm die Sprache genommen. Von Verna Kerkowskis Geld wurde eine zweiwöchige Therapie in einer Klinik bezahlt. Der Zustand meines Vaters hatte sich kaum verändert, aber immerhin hatte er ein wenig an Gewicht zugelegt. Das erste Wort, das er von sich gegeben hatte, war Ball. Hätte man ihm ein anderes Wort eingetrichtert, hätte er es ebenfalls irgendwann nachgesprochen. Das Gute an dem Schlaganfall war, dass mein Vater sich nicht mehr betrinken wollte. Vielleicht hatte sein beschädigtes Hirn schlicht vergessen, dass es früher von dem brennenden Gedanken angetrieben worden war, sich mit Alkohol zu tränken. Falls er körperliche Entzugserscheinungen gehabt hatte, waren diese wahrscheinlich in den ersten Wochen aufgetreten, als er in seinem Zimmer lag, von Verna ins Bett gesteckt, als habe ihn bloß eine Grippe erwischt.

Die Ärzte meinen, mein Vater würde nie mehr derselbe sein wie früher, aber da ich nicht weiß, wie er früher war, gibt es nichts, worum ich trauern könnte. Dass er mich vielleicht nie erkennen und mir nie erzählen können wird, warum er mich damals im Stich gelassen hat, muss ich wohl hinnehmen. Meine Fragen und meine Wut werde ich für mich behalten müssen. Dreimal in der Woche übt er in der Klinik mit einer Therapeutin so simple Dinge wie das Ergreifen und Festhalten von Gegenständen oder sich zu kämmen. Jede Woche lernt er ein neues Wort, vielleicht auch irgendwann Will oder Sohn. Ob er jemals die Bedeutung dieser Worte begreifen wird, können die Ärzte nicht sagen.

Bevor ich mich in meinem Zimmer ins Bett legte, um schlaflos an die Decke zu starren, fragte ich Alice nach Aimee. Sie rief vor ein paar Wochen hier an und sagte, sie wisse, wo ich sei, und es gehe mir gut. Obwohl Alice sie anflehte, ihr meinen Aufenthaltsort zu verraten, schwieg Aimee und meinte, ich würde mich zu gegebener Zeit melden, jedenfalls hoffe sie das. Sie fragte nach Lennard Sandberg, und Alice erzählte ihr von der Suche nach meinem Vater und dem Schlaganfall und meiner Reaktion auf alles.

Wir halten vor dem Haus mit der Flagge, und der Himmel ist so blau und hell, dass ich beim Betreten der Eingangshalle das Gefühl habe, in eine dunkle Gruft zu taumeln. Ich schwitze und bringe es nicht fertig, in den Fahrstuhl zu steigen, und so nehmen wir zusammen die Treppe in den elften Stock. Vor der Wohnungstür schnappe ich nach Luft, die Augen geschlossen. Alice nimmt meine Hand, und die Faust öffnet sich. Sie sagt etwas, ihre Stimme ist sanft und ruhig, und ich nicke. Sekunden nachdem Alice geklingelt hat, öffnet Nathalie die Tür. Sie hat sich verändert. Ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Augen und Bewegungen, alles ist anders, lebendiger. Ich bin überrascht, als sie mich umarmt, und lasse es geschehen. Aus der Küche dringt leise Musik.

Ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen. Ein Teil von mir beantwortet Fragen und nimmt wahr, dass die Musik ein Walzer ist, der Rest atmet heftig, geht durch den schummrigen Flur und betritt das hinterste Zimmer. Mein Magen ist ein leerer Ballon, ich schwebe. In meinem Kopf ist plötzlich Stille. Ich bin klein, noch kleiner als in Wirklichkeit. Mein Herz schlägt langsamer, Ruhe erfasst mich wie ein warmer Wind.

Mein Vater sitzt aufrecht im Bett, und vermutlich bilde ich mir nur ein, dass er lächelt. Ich setze mich zu ihm und nehme noch einmal seine Hand.

Drei Wochen später stehe ich in der Bronx am Eingang des Zoos in der Fordham Road. Heute Morgen um elf habe ich das rot und weiß gestrichene Haus mit der schwarzen Feuerleiter gefunden. Fünfeinhalb Tage brauchte ich dazu. Eine von Aimees Mitbewohnerinnen streckte den Kopf aus dem Fenster, und nach langem Hin und Her verriet sie mir endlich, dass Aimee bei Stewart im Zoo sei. Als ich ging, rief sie mir nach, ich soll Aimee in Ruhe lassen. Ich habe mich nicht mehr nach ihr umgedreht, bin losgerannt und habe mir auf der Webster Avenue ein Taxi geschnappt.

Obwohl es der erste einigermaßen warme Tag des Jahres ist, sind nicht viele Besucher da. Ich bezahle Eintritt und sprinte los, über einen Platz, wo gebaut wird, vorbei am Affenhaus und einen gewundenen Weg zwischen Bäumen entlang. Nach einer Biegung kommt mir eine Schulklasse entgegen, und ich pralle fast in die vordersten Kinder und eine Lehrerin hinein. Immer zwei Kinder halten sich an der Hand, alle tragen gelbe Mützen und sehen mich an, als sei ich ein entlaufenes Tier. Vor einem Café sitzen alte Leute und recken die Gesichter in Richtung Sonne. Ich frage einen Mann, der einen Wegweiser repariert, nach Stewart, aber der Kerl kennt ihn nicht. Ein Reiher oder Kranich läuft über den Weg und verschwindet in einer Gruppe von Büschen. Ich könnte auch normal gehen, trotzdem renne ich, überzeugt, dass jede Sekunde zählt.

Auf einem Platz rufe ich laut nach Aimee, und vom Dach eines Gebäudes fliegen Vögel hoch, Tauben. In der Wiese neben einem Weg steht ein Fahrzeug. Auf der Ladefläche liegen Holzpfosten, Rollen mit Draht und Werkzeuge. Zwei Männer heben mit Spaten Löcher aus der Erde. Sie kennen Stewart, wissen aber nicht, wo er ist. Ich bedanke mich und trabe schwitzend und keuchend weiter. Einer der Männer ruft mir nach, ich dürfe hier nicht rennen. Auf einem Platz sitzen Kinder auf Klappstühlen und zeichnen Flamingos, die reglos in einem Teich stehen. Ich zwinge mich, zwischen ihnen hindurchzuschlendern, dann hetze ich weiter.

Aimee steht auf einem eingezäunten Stück Land, neben sich Stewart. Gelbe Helme sitzen auf ihren Köpfen. Die beiden halten ein großes Stück Papier in den Händen, einen Plan vermutlich, und Stewart deutet mit einem Arm über die aufgewühlte Erde hinweg. Ein Bagger schiebt einen Felsbrocken vor sich her. Bäume, deren Wurzelballen in Plastik gewickelt sind, liegen herum. In einer entfernten Ecke des Geländes sind Arbeiter damit beschäftigt, noch mehr Bäume von einem Lastwagen zu laden.

Ich klettere über eine Absperrung, hinter der ein Streifen ungemähter Rasen liegt, und bleibe vor einem Betongraben stehen. Der Graben ist mit schmutzigem Wasser gefüllt, auf dem Blätter treiben. Das Wasser ist braun, hat die Farbe von Tee. Ich kann den Grund sehen, Steine und Äste, möglicherweise sogar etwas Lebendiges, Wuselndes. An einer Seite ist der Graben von einem hohen Drahtzaun begrenzt, an der anderen beschreibt er eine Kurve und verläuft ins Endlose. Ich rufe nach Aimee, aber der Lärm des Baggers übertönt alles. Der Zaun ist mindestens drei Meter hoch, ganz oben verläuft Stacheldraht, in dem bunte Plastikfetzen flattern. Stewart faltet den Plan zusammen und legt seinen Arm um Aimee, und ich denke daran, einen Stein nach ihm zu werfen. Aber ich bin ein schlechter Schütze, ich würde nicht einmal den Bagger treffen. In der Sekunde, in der ich Aimees Namen brülle, verstummt der Bagger.

Aimee dreht sich zu mir um, und ich winke. Ich habe meine Probleme gelöst. Ich wohne nicht mehr im Hotel der alten Männer. Ich begleite meinen Vater dreimal in der Woche zur Therapie, und in der restlichen Zeit bringe ich ihm bei, wie man einen Löffel hält und sich Socken anzieht. Ich schiebe ihn im Rollstuhl durch den Park und sage jedes Mal das Wort Hund, wenn uns einer begegnet, Baum, wenn wir einen sehen. Einen Job habe ich auch, ich trage Lunchpakete in die Bürohäuser, wo es Leute gibt, die in der Mittagspause etwas Gesundes essen wollen. Ernest hatte die Idee, und der Kundenkreis wird immer größer. Noch immer habe ich seit Spencers Beerdigung keinen Tropfen Alkohol getrunken. Sogar mein Gedächtnis funktioniert wieder. Ich kann mich daran erinnern, wo ich ins Meer gefallen bin. Ob man mich jetzt schon als normal bezeichnen würde, bezweifle ich, aber ich denke, ich mache Fortschritte.

Aimee ist ein Stück in meine Richtung gegangen, Stewart folgt ihr. Er fuchtelt mit den Armen. Der Motor des Baggers springt brummend an, schwarze Abgaswolken steigen in den Himmel. Ich renne den Graben entlang, aber hinter der Biegung versperrt mir eine Mauer aus Felsblöcken den Weg. Schaufeln stecken in der Erde, am Boden liegen Zementsäcke.

Ich bleibe stehen, schwindlig vom Rennen. Dann springe ich in den Graben. Das Wasser ist kalt und tief. Für einen Augenblick, eine Sekunde, eine Ewigkeit, ist es still und dunkel. Ich schlage mit den Armen und Beinen, schlucke Wasser.

Ich will nicht ertrinken.

Ich ertrinke.

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