5

Dreimal die Woche ist Gruppensitzung. Dann versammeln sich Vermeer und ein zweiter Arzt, zwei Pfleger und neun Männer im Runden Raum. Der Runde Raum ist eckig, aber wir sitzen mit unseren Stühlen in einem Kreis auf einem bunten runden Teppich. Ich muss mitmachen, obwohl ich nicht rede. Vermeer meint, ich würde irgendwann etwas sagen, wenn ich nur lange genug den anderen zuhöre. Sein Kollege, der Pendergast heißt, redet kaum und macht sich dauernd Notizen. Er ist jünger als Vermeer, vielleicht fünfunddreißig, hat aber eine Glatze, auf der sich ein paar helle Haare gehalten haben. Dafür wächst ihm ein Bart, was aussieht, als trage er den Kopf verkehrt herum auf dem Hals. Er ist klein und füllig und seine Stimme so tief, dass man meinen könnte, er verstelle sie, um erwachsener zu wirken. Er trägt Cordanzüge, hell- und dunkelbraune, dazu Ledersandalen. Melvin sagt, Pendergast schwimme jeden Tag fünfzig Längen. Das Schwimmbecken hier hat olympische Maße, und ein Bademeister passt auf, dass sich keiner von uns darin ertränkt.

Ich kann Pendergast nicht leiden. Nicht nur, weil er freiwillig schwimmt. Es sind seine Gesten. Jede seiner Bewegungen scheint einstudiert. Wie er den Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts nimmt. Wie er die Seiten des Schreibblocks umschlägt und den Arm ausstreckt, bevor er etwas aufschreibt. Wie er sich über den Bart streicht und dann über die Krawatte. Die Art, wie er sich zu Vermeer lehnt, um ihm wichtige Beobachtungen ins Ohr zu flüstern. Oder wie er die Beine übereinanderschlägt und dann die Hosenbeine zurechtzupft. Eine steife Choreografie aus Wiederholungen, eine Endlosschleife penibler Bewegungsmuster. Pendergasts Körpersprache ist eine digitale Bandansage, eine maschinelle Mitteilung, deren Sinn nach unzähligem Abspielen ins Absurde kippt.

Eigentlich will keiner der Männer hier sein, aber die Sitzungen sind Pflicht. Das Reden in der Gruppe soll die Männer öffnen, das Thema Suizid frei diskutiert werden, hat Melvin mir erklärt. Vermeer hält es für eine wirkungsvolle Therapie, wenn die Männer ihre Ängste in Worte fassen. Wer fünfmal erscheint, darf einmal aussetzen. Wer dreimal nicht aufkreuzt, wird in die Halboffene Abteilung verlegt. Weil sich keiner den Aufenthalt hier verscherzen will, sitzt jeder pünktlich auf seinem Stuhl.

Die Sitzungen laufen immer ähnlich ab. Vermeer begrüßt alle, stellt die Neuen vor und fordert uns dann auf, loszuwerden, was uns auf dem Magen liegt und unsere Seele bedrückt. Keiner will freiwillig den Mund aufmachen, und so bittet Vermeer meistens Stan, als erster zu reden. Stan will immer von seinen Düngemitteln erzählen, aber dann fordert Vermeer ihn jedes Mal freundlich auf, von sich zu berichten, von seinem Leben und seinen Problemen, warum er hier ist und ob er seine Frau vermisst. Aber Stan doziert lieber über Kompost und Kuhmist und hält sich ansonsten bedeckt.

Wenn Rodrigo loslegt, klingt es, als ob er den Hergang einer Schlägerei erzählt, jedenfalls fuchtelt er mit den Fäusten und benutzt spanische Ausdrücke, die nach wüsten Flüchen klingen. Vermeer versucht dann immer, ihn zu bremsen, und blättert in einem Wörterbuch, das auf seinen Knien liegt.

Roger erzählt mit leiser, aber fester Stimme von Umweltgiften und Chemiekonzernen, von Grundwasser und Tod. Dabei betet er chemische Substanzen und Firmennamen herunter und bewegt seine Finger, als zupfe er in seinem Schoß Unkraut.

Elroy redet nicht viel, und wenn, dann zählt er emotionslos Gründe auf, die es rechtfertigen, sich umzubringen. Dazu steht er auf wie ein Schüler im Unterricht und legt sich das weiße Handtuch, auf dem er sonst sitzt, über den Kopf. Vermeer versucht geduldig, Elroys Katalog zu widerlegen, aber Elroy zuckt nur mit den Schultern, faltet das Tuch penibel zusammen und setzt sich hin.

Sam streitet sich jedes Mal mit Vermeer, weil er nichts sagen will, be vor nicht die Ziegen aus dem Garten entfernt werden. Erst wenn Vermeer Abhilfe verspricht, wird Sam ein paar Sätze los. Er weist uns alle darauf hin, dass er Selbstmord nicht mehr als Lösung betrachtet und nur noch hier ist, weil er gebraucht wird. Sam arbeitet in der Schreinerei und hält sich für unersetzbar. Er baut gerade zwanzig Sitzbänke für den Park, danach plant er ein Gartenhaus und einen Geräteschuppen. Ich glaube, er würde den Eiffelturm aus Holz nachbauen, um seinen Aufenthalt hier zu rechtfertigen.

Wenn Wayne an der Reihe ist, brabbelt er irgendetwas von einer großen fetten Frau, die ihn in eine Kühltruhe sperrt. Er liebt es, zu demonstrieren, wie er zusammengekrümmt in der Kälte hockt und sich die Ohren reibt, damit sie nicht abfrieren. Manchmal kriecht er unter seinen Stuhl, zittert und ruft, sein Selbstmordversuch sei ein Missverständnis gewesen, ein Unfall. Er habe die Kühltruhe nur reparieren wollen, damit seine Frau endlich Ruhe gebe. Von Melvin weiß ich, dass Wayne alleine lebte, bevor er hier landete. Vor einem Jahr hat er Schlaftabletten genommen und sich in die Kühltruhe gelegt, in der schon seine tote Katze lag. Das Tier war Waynes Kind gewesen und tags zuvor gestorben. Stunden später war Wayne, halb erfroren, von einem Nachbarn entdeckt worden, der regelmäßig Fleisch von ihm stahl. Nach seinen Auftritten setzt Wayne sich wieder hin und verschränkt die Arme vor der Brust, als fröstele ihn vom Erzählen.

Ein Typ, der zwei Tage nach mir hier eingeliefert wurde, macht aus der Möglichkeit, sich Dinge von der lädierten Seele zu reden, eine kleine Show. Er ist ein paar Jahre älter als ich, aber noch keine dreißig, und wenn er redet, denke ich immer, er sei auf Speed oder Koks, obwohl das hier drin vermutlich unmöglich ist. Er stellt sich in die Mitte des Teppichs, da, wo die farbigen Kreise in einem goldgelben Punkt enden, hält eine Rede über den Krieg und dreht sich dabei so, dass er jedem von uns eine Minute lang in die Augen starren kann. Vermeer spricht ihn mit Edward an, aber er selber nennt sich Kanonenfutter Carson. Sam sagt, Carson sei desertiert und spiele den verhinderten Selbstmörder nur, um dem Militärgericht zu entgehen. Wenn das stimmt, ist der Typ ein verdammt guter Schauspieler. Ich weiche seinem Blick jedenfalls immer aus und bin froh, wenn er endlich wieder sitzt und schweigt.

Der achte Mann wechselt ständig, weil Vermeer ein Rotationsprinzip entwickelt hat, bei dem nach jeder Sitzung der Mann links außen die nächste Runde auslassen darf und an seiner Stelle ein anderer dazukommt.

Ich bin jetzt seit sechs Tagen hier, heute ist meine dritte Sitzung. Der Nachgerückte heißt Raymond. Ich habe ihn schon mit einem Buch in der Hand durch die Gänge wandern sehen. Melvin sagt, Raymond sei schon eine Weile hier. Melvin scheint es egal zu sein, dass ich nicht rede oder Fragen stelle. Er hält mich jeden Morgen beim Frühstück auf dem laufenden, erzählt mir, wer raus und wer neu drin ist, wer in Ordnung sei und wen ich besser meiden soll. Raymond kann dem Treffen nicht viel abgewinnen und nutzt seine Sprechzeit, um sich über das Essen zu beschweren. Seiner Meinung nach gibt es zu viel Gemüse und Huhn und zu wenig rotes Fleisch. Er und Sam sollten einen Verein gründen und den ganzen Tag mit Petitionen rumrennen.

«Danke, Raymond, auch wenn ich heute gerne etwas Persönliches von Ihnen gehört hätte«, sagt Vermeer und macht sich Notizen.

«Das war persönlich«, sagt Raymond.»Bevor ich hier reingesteckt worden bin, habe ich jeden Tag ein Steak gegessen.«

Pendergast rutscht auf seinem Stuhl nach vorne und drückt das Kreuz durch.»Wir haben Sie beim letzten Treffen mit den Resultaten der Studie bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Verzehr roten Fleisches und aggressiver Verhaltensweise vertraut gemacht, nicht wahr?«

Raymond verdreht die Augen und nickt.

«Und wir möchten Sie noch einmal darauf hinweisen, dass niemand Sie hier ›reingesteckt‹ hat. «Pendergast lässt den Blick durch die Runde schweifen.»Ihr Aufenthalt bei uns basiert einzig und allein auf Ihrem Einverständnis. «Sein Blick streift uns erneut, diesmal in umgekehrter Richtung. Stan und Roger nicken mit gesenkten Köpfen.»Und dem Willen, Ihrem Leben eine neue, positive Richtung zu geben.«

Ein paar der Männer murmeln.

«Außerdem ist Ihnen doch bekannt, dass Sie Beschwerden und Anregungen schriftlich einreichen können, nicht wahr?«

«Ich sag’s Ihnen lieber so, Doc, ist persönlicher. «Raymond grinst treuherzig.

Pendergast lehnt sich zu Vermeer und flüstert ihm ins Ohr.

Vermeer nickt und wendet sich an Raymond.»Das ist zwar nicht der übliche Weg, aber ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. «Er blättert die Seite seines Blocks um und sieht dann Stan an.»Stanley, haben Sie noch etwas auf dem Herzen, das Sie uns erzählen möchten?«

Stan rutscht auf seinem Stuhl herum und blinzelt heftig, als hätte er etwas in den Augen. Er war heute schon dran, als erster, wie immer. Er hat von einem Dünger aus Knochenmehl erzählt und ist jetzt verwirrt, dass Vermeer ihn noch einmal anspricht. Er nimmt die Brille ab, betrachtet sie und legt die Bügel um. Dann steckt er sie in die Brusttasche des Hemdes. Sam ächzt laut, aber Stan lässt sich nicht beirren, holt die Brille wieder hervor, klappt sie auf, wischt die Gläser sauber und setzt sie schließlich auf.

«Ich hatte einen Garten«, sagt Stan ruhig. Rodrigo und Raymond stöhnen laut auf.

«Oh, Mann, ich glaub’s nicht!«ruft Wayne.

«Bitte«, sagt Vermeer und wartet, bis alle ruhig sind. Dann richtet er sich an Stan, der die Brille wieder abgenommen und eingesteckt hat.»Stanley, Sie haben uns doch schon von Ihrem Garten erzählt.«

«Bloß drei Millionen Mal«, sagt Wayne.

«Vielleicht möchten Sie uns heute einmal erzählen, weshalb Sie hier bei uns sind und nicht zu Hause bei Ihrer Frau.«

Pendergast blättert in seinen Akten, lehnt sich dann zu Vermeer hinüber und murmelt ihm ins Ohr.

«Genau, Stanley, erzähl uns das doch mal!«sagt Sam gerade laut genug, um gehört zu werden.

«Und davon, wie du dich ausknipsen wolltest!«ruft Rodrigo.

Einer der Pfleger, bestimmt ein ehemaliger Verteidiger im Collegefootball, macht einen Schritt aus der Ecke, in der er seit Sitzungsbeginn steht und darauf wartet, dass einer der Männer ausrastet und auf einen von uns oder einen Arzt losgeht.

«Bitte«, sagt Vermeer etwas lauter,»wir haben Regeln aufgestellt, an die wir uns halten. «Er ignoriert Sams Lachen und dass Wayne mit dem Tuch über dem Kopf unter den Stuhl kriecht und lächelt Stan aufmunternd an.»Also, Stanley, Sie sind verheiratet, nicht wahr?«

Stan setzt die Brille erneut auf, dann nickt er.»Meine Frau heißt Norma«, sagt er nach einer Weile.»Sie schreibt mir einmal im Monat. «Er verstummt und sieht in die Runde, als habe er vergessen, was er sagen wollte. Er nimmt die Brille ab und betrachtet sie.

Vermeer wartet. Stan reibt die Gläser und setzt die Brille auf, sieht ins Leere. Wayne streckt sich, atmet lautstark aus. Rodrigo murmelt vor sich hin.

«Freuen Sie sich über die Briefe Ihrer Frau, Stanley?«fragt Vermeer schließlich.

Stan scheint zu überlegen. Kann auch sein, dass er die Frage nicht gehört hat. Seine Hände ruhen gefaltet in seinem Schoß. Alle sehen ihn an, auch Wayne, der auf dem Boden liegt.

«War an dem Brief von heute etwas Besonderes, Stanley?«fragt Vermeer.

Stan sieht Vermeer an. Sein rechter Zeigefinger kratzt hastig die linke Handfläche. Sein bleiches Gesicht ist starr, er sieht aus wie ein Schüler, der die entscheidende Prüfungsfrage nicht beantworten kann.

Vermeer lächelt, er will Stan nicht in Verlegenheit bringen, obwohl er genau das tut.»Heute ist Ihr Hochzeitstag, Stanley, nicht wahr?«sagt Vermeer.»Fünfundzwanzig Jahre, so lange sind Sie mit Norma verheiratet.«

Stan sieht Vermeer an, als habe ihn dieser eines Verbrechens überführt. Wenn er die Stelle an der Hand weiter so kratzt, blutet sie gleich.

«Fünfundzwanzig Jahre«, sagt Sam,»alle Achtung, Stan!«Raymond klatscht ein paar Mal in die Hände.

«Warum feierst du nicht mit ihr, Mann?«ruft Rodrigo.»Geh nach Hause, trink was und besorg’s ihr!«Er, Raymond und Sam lachen, Wayne setzt sich kichernd auf seinen Stuhl.

«Rodrigo, ich muss Sie wirklich bitten«, sagt Vermeer.»Wenn Sie sich zu Wort melden, sollten Sie unsere Regeln einhalten. Unflätigkeiten hatten wir aus diesem Raum verbannt.«

«Ist doch wahr«, sagt Rodrigo und dann etwas auf Spanisch.

«In einem Punkt hat Rodrigo vielleicht recht«, sagt Vermeer, nachdem Wayne endlich aufgehört hat zu kichern.»Sie sollten sich überlegen, mit Ihrer Frau zu feiern, Stanley.«

Stan nimmt die Brille ab, sieht sie lange an, reibt die Gläser am Pullover sauber, legt die Bügel um und steckt die Brille in die Brusttasche. Pendergast setzt den Punkt ans Ende eines Satzes und streicht sich über Bart und Krawatte.

Stan weint. Ich sehe die Tränen und wende den Blick ab. Die anderen fühlen sich auch plötzlich unbehaglich, keiner schaut ihn jetzt mehr an, nicht einmal Wayne. Pendergast räuspert sich. Stan zieht die Brille aus der Tasche und setzt sie auf. Dann weiß er nicht, wohin mit seinen Händen. Ich stehe auf und verlasse den Raum. Nach mir kommen Roger und Elroy auf den Flur, dann Sam, Wayne und Carson, schließlich Raymond und Rodrigo mit dem zweiten Pfleger. Ich drehe mich um und sehe, wie Vermeer vor Stan kauert und auf ihn einredet, dann fällt die Tür zu.

Am späten Nachmittag sitze ich im Park und lese die Reportage über den Stamm in Papua-Neuguinea zu Ende. Aber ich kann mich nicht auf den Text konzentrieren und lege das Heft immer wieder weg und sehe Ho zu, der in einer Ecke der Wiese einen selbstgebauten Drachen steigen lässt. Obwohl es fast windstill ist, steht der gelbe Kubus aus Balsaholz und Papier hoch über den Bäumen, die das fußballfeldgroße Rasenstück an drei Seiten einfassen. Wenn doch etwas Wind aufkommt, trägt er den Geruch der Ziegen herüber. Elroy, Lefty und ein alter Mann, den ich nicht kenne, spielen Frisbee. Elroy kann weder werfen noch fangen. Er hebt die Scheibe auf, rennt auf Lefty zu und wirft sie mit beiden Händen wie einen Teller. Zwei Wärter schlendern umher. Sie vermeiden es, so auszusehen, als passten sie auf uns auf.

Ich nehme mir vor, Vermeer zu fragen, wo mein Koffer ist. Vielleicht würde mir der Anblick meiner Habseligkeiten helfen, mich an die Zeit zu erinnern, die zwischen meinem letzten Tag im Hotel und meiner Ankunft hier vergangen ist. Daran, dass ich mich am Empfang mit Conor Finnerty eingetragen habe, erinnere ich mich noch, auch an die alten Männer, an die schäbige Lobby, den launischen Kerl hinter der Theke und den griechischen Nachtportier. Ich sehe das pornografische Foto vor mir, das in der Hotelbibel lag. Die Frau ist schön, ihr Lidschatten blau wie die Tapete im Hintergrund.

Sam und Rodrigo tragen eine Bank aus dem Gebäude, wo die Schreinerei liegt, auf die Wiese und stellen sie unter eine Baumgruppe. Sam betrachtet die Bank, umkreist sie, geht in die Hocke und entfernt sich ein paar Schritte, um sie erneut zu studieren. Dann geht er zurück. Rodrigo zündet sich eine Zigarette an und legt sich auf die Bank. Beide sehen mich, beachten mich aber nicht. Soll mir recht sein. Ich sitze auf dem Hotelbett und habe etwas vor, weiß aber nicht, was. Ich erhebe mich und gehe über den Kiesweg zur Tür, öffne sie und trete auf den lichtlosen Flur, Ziegengeruch umweht mich, den Fahrstuhl benutze ich nie, nehme die Treppe und stehe in der Lobby, Gras unter den Füßen, blicke in den Himmel, wo der gelbe Drachen fliegt, und weiß nicht, wohin ich soll. Ich schließe die Augen und warte, und irgendwann bewege ich mich, fahre davon, in einem Wagen oder Bus. Aber wohin? Ans Meer, aus dem man mich später herausziehen wird? Je länger ich versuche, den Verlauf der fehlenden Stunden zu rekonstruieren, umso leerer wird mein Kopf.

«Alles in Ordnung?«

Das Fahrzeug setzt seine Reise ohne mich fort. Ich öffne die Augen. Aimee lächelt mich an. Die Narbe auf ihrer Wange ist hautfarben, ein winziger Smileymund.

«Wer meditiert, lebt länger«, sagt sie.»Hab ich gelesen. «Sie sieht mich leicht besorgt an.

Ich lächle, mein Nicken bezieht sich auf ihre Frage, ob alles in Ordnung sei. Nicht dass ich bereue, stumm zu sein, aber jetzt würde ich sie gerne fragen, wo sie die ganze Zeit gewesen sei, ob sie nur auf der Krankenstation arbeite und ob sie in einem der Häuser wohne, in denen die Ärzte und das Pflegepersonal untergebracht sind.

«Diese Woche hab ich in der Offenen Dienst«, sagt sie, als habe sie meine Gedanken gelesen.»Man hat dich zu Melvin gesteckt, stimmt’s?«

Ich nicke. Ich würde mich gerne mit ihr auf eine Bank setzen und unterhalten. Sie hat eine schöne Stimme, und wenn sie lächelt, fühle ich mich gut. Sie trägt keinen Lidschatten, nur etwas Lippenstift und Wimperntusche. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein könnte, wenn wir uns draußen begegnet wären. Möglich, dass sie mir in der Nähe des Hotels über den Weg gelaufen wäre. Vielleicht hätte es geregnet, und die Zeitung über ihrem Kopf wäre völlig durchgeweicht gewesen. Ich hätte ihr meinen Schirm angeboten. Erst hätte sie mich für einen Verrückten gehalten, für einen der Irren, von denen es in der Gegend wimmelt. Oder sie hätte gedacht, ich wolle sie anmachen. Dann hätte ich irgendetwas Harmloses gesagt, etwas Nettes, vielleicht sogar Geistreiches, Witziges. Sie hätte gelacht, na ja, gelächelt. Der Regen wäre heftiger geworden, sie hätte ihren Argwohn abgelegt und mit einer Hand nach dem Schirmgriff gefasst. Oder sie hätte sich bei mir untergehakt, jegliche Bedenken verwerfend. Ein kalter Wind hätte uns in ein Café getrieben, wo alte Leute aus der Nachbarschaft sitzen, Karten spielen und über die Launen ihrer Haustiere reden. Wir hätten Milchkaffee getrunken, ihr Haar wäre feucht gewesen. Die Kellnerin hätte sie Kindchen genannt und uns warmen Apfelkuchen aufgeschwatzt. Der Regen wäre gegen die Scheiben geprasselt, die Welt auf diesen Ort geschrumpft. Sie hätte mir erzählt, dass sie Aimee heiße, als Pflegerin arbeite und drei Blocks entfernt wohne. Dann hätte sie mich aufgefordert, von mir zu erzählen, und ich hätte auf die Straße hinausgeschaut und nicht gewusst, wo ich beginnen soll.

«… wenn ich dich Will nenne. So heißt du doch, oder? Will.«

Ich sehe sie an. Ihre Haare sind nicht mehr feucht, der Streifen aus Milchschaum über ihrer Lippe ist verschwunden. Ich habe nicht gehört, was sie gesagt hat. Sie lacht, schüttelt den Kopf. Vermutlich bin ich rot angelaufen. Dann nimmt sie meine Hand.»Komm mit«, sagt sie und zieht mich über die Wiese. Das Gras unter meinen Füßen ist weich, verfärbte Blätter liegen herum, in den Büschen scharren Vögel, schwarze Amseln. Wir gehen durch einen kleinen Wald, ich sehe Eichhörnchen, bestimmt von Vermeer hier angesiedelt.

In der Hütte riecht es nach Harz, die Scheiben sind schmutzig und die Bodenbretter auch. Aimee zieht die Tür zu. In den Ecken schaukeln Spinnweben im Luftzug, staubgepudert. Fliegen liegen darin wie in zu großen Hängematten. Aimee streift das Sweatshirt über den Kopf und gibt es mir. Dann öffnet sie den Verschluss des Büstenhalters und nimmt ihn ab. Dabei sieht sie mich unentwegt an. Ich senke den Blick und starre auf ihre Brüste, weil ich ihr nicht ins Gesicht sehen kann. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre Brust. Ich bewege meine Finger nicht, vergesse zu atmen. Ihre Haut ist warm, meine Hand kalt. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen, ich schließe sie, atme ein. Aimee sagt etwas, leise.

Ich weiß nicht, wie lange ich dastehe in meiner Dunkelheit. Ich versuche, an etwas zu denken, das mir weiterhilft, aber es fällt mir nichts ein. Meine Augen öffnen sich, ich sehe meine Schuhspitzen. Dann drehe ich mich um, reiße die Tür auf und stürze aus der Hütte, renne zwischen den Stämmen hindurch und über die Wiese, wo Elroy, Lefty und der Alte noch immer Frisbee spielen. Sam und Rodrigo tragen die Bank zurück in die Tischlerei. Elroy ruft mir etwas nach, aber ich verstehe ihn nicht.

Im Winter vor meinem zwanzigsten Geburtstag bin ich zu einer Prostituierten gegangen. Ich hatte noch nie mit einer Frau geschlafen und war überzeugt, abnormal zu sein. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Geld eingesteckt und mich von einem Taxifahrer in eine der Straßen bringen lassen. Vor Aufregung beinahe ohnmächtig, ließ ich mich von der ersten Frau, die mich ansprach, mitschleppen. Sie hatte eine Wohnung in einem schäbigen Mietshaus, dessen sämtliche Bewohner sich im Treppenhaus aufhielten, als wir hereinkamen. Die Männer grüßten mich und rissen dreckige Witze, einer schlug mir auf die Schulter. Die Frauen grinsten und schätzten mich auf vierzehn. Im Schlafzimmer der Prostituierten roch es nach der fetten Dogge, die erst vom Bett gescheucht werden musste. Auf einer Kommode stand ein Weihnachtsbaum aus Plastik, an den Wänden hingen Tierbilder neben Fotos aus Herrenmagazinen. Der Hund lag auf dem Teppich und sah mich an. Die Prostituierte, von der ich nicht einmal den Namen wusste, sagte, er werde mich zerfleischen, wenn ich sie angreifen würde. Ich versicherte ihr, dass ich nichts dergleichen vorhatte. Sie wollte das Geld im Voraus, und ich gab es ihr. Dann zog sie sich aus. Auf der Straße hatte ich vor lauter Panik nicht bemerkt, wie alt sie war. Sie muss Mitte vierzig gewesen sein, mindestens. Jedenfalls hatte ihr Körper nichts mit den Fotos an den Wänden gemein. Als sie bis auf die schwarzen Strümpfe und die Stöckelschuhe nackt war, riss sie die Tagesdecke vom Bett und legte sich hin. Mir war die Situation peinlich, und ich sah den Hund an, der seinerseits nicht die Augen von mir nahm. Sie wollte wissen, ob ich vorhätte, die ganze Zeit nur dazustehen. Ich zuckte die Schultern und zwang mich, sie anzusehen. Draußen heulte eine Sirene, im Innenhof brüllten sich Männer an. Sie sagte, ich sei wohl ein Spanner, und ich nickte. Sie knetete mechanisch ihre Brüste und forderte mich auf, endlich die Hose auszuziehen. Sie zog die Beine an und spreizte sie, und ihr Stöhnen klang, als plage sie Rheuma. Ich stammelte eine Entschuldigung und rannte aus der Wohnung und die Treppen hinunter. Die Männer grölten und meinten, ich sei ja von der ganz schnellen Truppe. Auf der Straße konnte ich endlich den Rotwein auskotzen, mit dem ich mir Mut angetrunken hatte. Eine alte Frau in einer orangefarbenen Daunenjacke beschimpfte mich als Taugenichts, und ich gab ihr recht.

Daran denke ich, zwei Stunden nachdem meine Hand auf Aimees Brust lag, zwei Jahre nach meinem kläglichen Scheitern. Die erste nackte Brust in meinem Leben, die ich berührt habe und die einer Frau gehört, die ich mochte, die ich gemocht hätte, wenn sie mich nicht in dieses Gartenhaus gezogen hätte. Jetzt hasse ich sie dafür, dass sie diesen Moment mit Spinnweben und Vogeldreck ausgeschmückt hat, mit Staub und blinden Scheiben. Dafür, dass sie mich überrumpelt hat, dass ich zum Trottel wurde, zum erstarrten Vollidioten, gelähmt vor Verlangen und Entsetzen. Sie ist nicht besser als die Doggenfrau, die mich mit einer versifften Tagesdecke und erschöpftem Ächzen vertrieben hatte.

Wenn Sex so flüchtig und in solchen Kulissen stattfindet, werde ich auch die nächsten zwanzig Jahre der unerfahrene Wichser bleiben, der ich bin. Dann verzichte ich auf die körperlichen Freuden und therapeutischen Effekte, die der Beischlaf mit sich bringt und die man mir in Fernsehsendungen und Illustrierten unablässig verspricht. Dann scheiße ich auf Wärme und Berührungen, Herzgleichschlag und Seelenverschmelzung, auf Liebe, Geborgenheit, Glück und Ewigkeit und den ganzen Müll.

Ich liege auf meinem Bett, das Kissen über dem Gesicht. Melvin ist taktvoll genug, mich in Ruhe zu lassen. Wenn er eine Dose Malzbier öffnet, klingt das Zischen wie das Niesen eines kleinen Tieres. Malzbier hat keinen Alkohol, der ist hier drin so verboten wie trübe Gedanken und Rasierklingen. Für einen Drink würde ich alles geben, mein Leben, meinen Koffer, meine Erinnerung.

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