Mortal Thoughts, 1991

Nach Orlas Tod lebte Wilbur bei Colm. Wenige Tage nach der Beerdigung war Eamon von zwei Sanitätern aus dem Haus geholt worden. Er hatte sich nicht mehr um sich kümmern können, geschweige denn um seinen Enkel. Nachdem Orla nicht mehr für ihn kochte, hatte er einfach aufgehört zu essen und blieb tagelang im Bett, die Hände und Knie steif von der Gicht. Man brachte ihn in ein staatliches Pflegeheim in Milford, wo er endgültig aus der Welt dämmerte.

Colm kümmerte sich um Wilbur, so gut es ging. Als die Sommerferien vorbei waren, weckte er ihn viel zu früh. Wie an jedem der vergangenen Morgen hatte er Porridge gekocht und Tee, und Wilbur aß ein paar Löffel des zähen Breis, um Colm nicht zu enttäuschen. Dann fuhr Colm den Jungen mit dem Traktor zur Bushaltestelle. Wilbur wollte nicht zur Schule, wollte in seinem neuen Zuhause bleiben, im Stall bei den Kühen sitzen oder in seinem Zimmer und die Tage vergehen lassen. Aber er wusste, dass das nicht möglich war, und bestieg den Bus wie ein Astronaut die Rakete, die ihn Milliarden Lichtjahre von der Heimat forttrug.

Auf dem Schulhof starrten ihn alle an. Er war der Junge, dessen Großmutter auf so schreckliche Weise umgekommen war, und er war der Freund von Conor Lynch, dem Verrückten, der auf seinen Vater geschossen hatte. Erin Muldoon löste sich aus der Herde der Tuschelnden und fragte ihn, wie es ihm gehe. Aber Wilbur schwieg und war froh, als die Glocke läutete. Miss Ferguson gab sich Mühe, ihn wie die anderen Kinder zu behandeln, aber während des gesamten Unterrichts rief sie ihn nie zur Tafel, ließ ihn keine Fragen beantworten und vermied es sogar, ihn anzusehen.

Wilbur war das recht. Seit Orla tot war, sprach er kaum noch, höchstens ein paar Worte mit Colm. Es gab nichts mehr zu reden, fand er. Er war elf Jahre alt, und das Leben schien ihm nicht mehr der Mühe wert zu sein. Nachts lag er im Bett und wünschte sich, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Er beschloss, nun doch an Gott zu glauben, und fing an zu beten. Leise flehte er darum, zu Orla gelassen zu werden. Und zu seiner Mutter. Er stellte sich vor, wie er die beiden Frauen im Himmel wiedersah, wie sie zusammen Radio hörten und sangen und kuriose Meldungen aus der Zeitung suchten. Er forderte Gott auf, ihn im Schlaf sterben zu lassen, an einem Herzversagen, einem Schlag, der ihn nachts aus dem Leben holte.

Wenn er am Morgen aufwachte, verwünschte er Gott, der ihn verschont hatte, und am Abend entschuldigte er sich bei ihm und bat ihn erneut um den Tod. In der Zeitung hatte er von Menschen gelesen, die sich selber umbrachten, indem sie von Brücken sprangen, sich auf ein Bahngleis legten, Schlaftabletten schluckten, sich erschossen, aufhängten, die Pulsadern aufschnitten, den Kopf in den Gasofen steckten. Das schien alles sehr kompliziert zu sein und außerdem einen Mut zu erfordern, für den seine Verzweiflung noch immer nicht groß genug war. Als damals Rosie O’Sea im Meer ertrunken war, ging das Gerücht um, sie habe Selbstmord begangen. Glaubte man den Erwachsenen, war das ein noch größeres Vergehen als das von Marie Kavanagh, die sich mit fünfzehn von einem Herumtreiber schwängern ließ. Aus dem Religionsunterricht wusste Wilbur, dass es eine Sünde war, sich das Leben zu nehmen. Pfarrer Fowley, den Wilbur für einen langweiligen Schwätzer hielt, meinte, nur Gott dürfe Menschen umbringen, das gehöre zu seinen unangenehmen Pflichten wie das Zusammenbrauen von Stürmen oder das Versenken von Schiffen. Niemand starb einfach so, ohne Gottes Zutun. Darauf beharrte Wilbur, wenn er nachts die immergleichen Sätze flüsterte, dieselben Forderungen stellte.

Am Tag nach dem Unfall hatte Colm Wilburs Bett aus dem Haus geholt und in den Raum neben seinem Schlafzimmer gestellt. Der Raum hatte zwei Fenster und einen Holzfußboden. Auf Regalen an den Wänden standen Tierfiguren aus Ton, die Colm selber formte. In den Wintermonaten, wenn es auf der Farm weniger zu tun gab, entstand jede Woche eine neue Figur. Mehr als zweihundert Stück reihten sich auf den Holzbrettern, die frühen Elefanten plump und unförmig, die neueren Giraffen grazil und mit beinahe wissenschaftlichem Ehrgeiz bemalt. Vor einem der Fenster stand ein Tisch, an dem Colm den Tieren unter einer Lupe das Fell auftrug. Kleine Pinsel ragten aus Gläsern, in einem Teller lag Sandpapier. Ein aufgeschlagenes Buch zeigte Zebras, ein Umschlagbild einen Leoparden. Links und rechts des Arbeitstisches, in türlosen Schränken, stapelten sich Bildbände und Zeitschriften.

Vor ein paar Wochen hätte Wilbur nichts lieber getan, als in den Büchern zu blättern und die Figuren einzeln vom Regal zu nehmen und zu betrachten. Jetzt nahm er sie kaum wahr. Nach der Schule setzte er sich zu Colm in die Küche, zwang sich, den Teller leer zu essen und Colms gutgemeinte Fragen zu beantworten. Die Hausaufgaben erledigte er rasch und so beiläufig wie Geschirrabtrocknen oder Zähneputzen. Sein Verstand schien unabhängig von seinen Gefühlen zu funktionieren, wie ein getrennter Kreislauf, angetrieben von einer Energie, die sich aus Abgestumpftheit und Resignation speiste. Das wurde Colm bewusst, wenn er beim Kartenspiel, das er in der Hoffnung auf einen heilenden Effekt allabendlich anordnete, regelmäßig verlor oder wenn er Wilbur aufs Geratewohl testete, indem er Fragen aus dem Lexikon abschrieb und ihn nach der Hauptstadt von Mali oder dem Namen eines römischen Kaisers fragte. Er sah, wie Orlas Tod Wilbur die Lebensfreude, jegliche Neugier, Unvernunft und Fahrlässigkeit genommen hatte, alles, was einen Jungen ausmachte. Was blieb, war eine Hülle, der schmale, federleichte Körper, der sich weiterhin bewegte, und der Kopf, in dem gerade für so viele Gedanken Platz war, wie man zur Lösung einer Rechenaufgabe oder zum Abrufen eines historischen Ereignisses brauchte.

Colm ahnte nichts von Wilburs Wunsch, zu sterben, und selbst wenn er die Gebete aus dem Nebenzimmer gehört hätte, hätte er nicht gewusst, wie er das Kind trösten sollte. Es gab keinen Trost. Nicht für den Jungen, und auch nicht für Colm, der sich plötzlich als alter Mann fühlte. Nichts von dem, was jetzt noch geschehen mochte, würde von Bedeutung sein.

Den Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, fehlte alle Wärme und jeder Funke Hoffnung, kein Tag ohne Orla würde mehr ein guter werden.

Bei Regen und Sturm, wenn niemand ihn hören konnte, stand Colm auf einem Hügel und schrie hinaus, wie sehr er Orla liebte und vermisste. Er sank in die nasse Erde und weinte und verspottete sich für seine Schüchternheit, rief ohne zu stammeln in den Wind, wie schön Orla sei, pries lauthals die Zartheit ihrer Hände, schwärmte heulend von ihren Lippen und dem Glanz ihrer Augen. Wie leicht und fehlerfrei die Sätze aus ihm herauskamen, jetzt, da Orla sie nicht mehr hören konnte. Und wie schwer sie nun auf ihm lagen, jahrelang zurechtgeschobene Worte, angehäufte Komplimente, das ganze Gewicht nie erfolgter Annäherung.

Etwa drei Wochen nach dem Unfall fuhr ein Polizeifahrzeug auf Colms Hof. Der Beamte aus Portsalon hob einen Karton mit einem Fernseher vom Rücksitz und erklärte, das Gerät habe sich im Kofferraum von Orlas Wagen befunden. Im Glauben, eine gute Nachricht zu überbringen, betonte der Polizist, es handle sich um ein teures Modell aus Japan, von der Qualität des Farbbildes habe man sich auf dem Posten überzeugt. Colm bedankte sich, trug die Kiste ins Haus und stellte sie im Wohnzimmer auf einen der beiden Sessel, die kaum benutzt wurden. Er hielt nicht viel vom um sich greifenden Fortschritt, ihm genügte, dass sein Traktor fuhr und im Haus Licht brannte. Im Kino war er nie gewesen, und was er alle paar Monate bei einem Pubbesuch im Fernsehen sah, bestätigte ihm nur, dass die Menschheit verrückt geworden war. Er dachte daran, das Gerät in Orlas Haus hinüberzutragen, das jetzt Wilbur gehörte, ließ es dann aber bleiben.

Zweimal in der Woche überwand er sich und ging in das leere Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn ihn die Trostlosigkeit der verlassenen Räume nicht schon vorher vertrieb, saß er eine Weile am Küchentisch, drehte eine von Orlas Haarspangen in den Händen und lauschte der Musik, die leise aus dem Radio drang. An manchen Tagen wurden aus den Minuten Stunden, und wenn er schließlich aus seinem versunkenen Zustand auftauchte, lief er verstört ins Freie, werkelte planlos auf einem Feld, fütterte die Tiere und kochte dann das Abendessen, vor dem er und Wilbur später sitzen würden, abwesend und ratlos und unendlich erschöpft vor Sehnsucht.

Wilbur wollte nicht wissen, was mit Conor geschah. Auf der Heimfahrt von der Beerdigung hatte Colm ihm erzählt, man habe den Jungen nach Donegal gebracht. Sean Lynch lag im Koma auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Dublin. Die Kugel hatte seinen Schädel durchschlagen und steckte in seinem Hirn fest. Sie zu entfernen war unmöglich, also ließ man sie drin. Sean wurde im künstlichen Koma gehalten, Maschinen überwachten seinen Schlaf. Anfangs saßen Aislin und Fiona jeden Tag an seinem Bett, nach einer Weile besuchte Aislin ihren Mann noch zweimal wöchentlich und allein. Sie hielt seine Hand und berichtete ihm von zu Hause, dass die Männer das Sägewerk weiter führten und das alte Abzugsgebläse repariert hatten. Sie erzählte ihm von Kieran, der in der Behindertenwerkstatt Schränke baute, große Möbel aus Massivholz, statt zierliche Bilderrahmen. Sie brachte Fotos mit und Zeichnungen von Fiona, später kam sie mit leeren Händen. Conor erwähnte sie nicht, auch wenn sie sah, dass ihr Mann auf keines ihrer Worte reagierte. Der Junge war von Donegal nach Sligo gebracht worden, wo Experten in seiner Psyche kramten. Fürs Gefängnis war er zu jung, und man wollte ihn auf geistige und seelische Defekte hin untersuchen, bevor er der Obhut einer staatlichen Institution übergeben würde.

Aislin fuhr dreimal in der Woche nach Sligo, um ihren Sohn für jeweils eine Stunde zu sehen. Am Anfang hatte sie noch geweint und musste vom Personal aus dem Besuchsraum geführt werden, weil sie ohne ihr Kind nicht gehen wollte. Jetzt riss sie sich zusammen und redete mit ihm, brachte ihm Bücher und Tüten mit Lakritzebonbons und verbarg ihr Erschrecken darüber, dass er keine Reue zeigte. Conor tröstete seine Mutter, versprach ihr, alles würde gut ausgehen. Aislin glaubte ihm und fühlte sich schuldig, weil sie sich eine gute Zukunft nur mit ihren Kindern vorstellen konnte, ohne Sean.

Colm wälzte sich jede Nacht stundenlang in seinem Bett. Nickte er aber endlich ein, konnte ihn bis zum Morgengrauen nichts wecken. Deshalb geisterte Wilbur, wenn er keinen Schlaf fand, ungestört durch das Haus, öffnete Türen und Schränke und hörte in der Küche Radio. Nur einmal war er nachts zum Haus gegangen, hatte durch die rote Tür den Innenhof betreten und dann im Mondlicht fröstelnd das Kräuterbeet betrachtet, das früher sein Sandkasten gewesen und jetzt völlig überwuchert war. Er hatte durch ein Fenster in die Küche gestarrt, auf den Tisch, wo noch immer zwei Tassen und ein Krug standen, und auf die Stereoanlage, deren rotes Auge zurückstarrte. Weder Colm noch ihm war es je eingefallen, im verlassenen Haus den Strom abzuschalten. Nicht einmal den Kühlschrank hatten sie ausgeräumt, und Wilbur stellte sich vor, wie die Lebensmittel darin verrotteten und zu einer grauen Masse aus Schimmelpilzen wurden. Er malte sich aus, wie Ratten ins Haus kamen, an den Leitungen nagten und Kurzschlüsse verursachten und wie das Haus dann endgültig still wäre. Vielleicht deckte irgendwann ein Sturm das Dach ab und ließ die Wände einstürzen. Pflanzen würden alles überwuchern. Das Haus würde sich auflösen und schließlich in der Erde versinken wie die Kirche seines Großvaters. Der Gedanke ließ Wilbur erschauern, und er rannte zurück zu Colms Hof.

Den Fernseher fand Wilbur, ein paar Tage nachdem ihn der Polizist abgeliefert hatte. Er ging selten ins Wohnzimmer, weil darin nichts war außer alten Möbeln und dem Geruch nach kalter Asche, die im offenen, lange nicht mehr benutzten Kamin lag. Die Bücher, die in einem Regal standen, interessierten ihn nicht, weil er aufgehört hatte zu lesen. Er fand, die Entdeckung fremder Welten sei sinnlos, wenn einem schon die eigene zu viel war. Als er das Tuch von der Kiste nahm, entfuhr ihm ein Laut des Erstaunens, und er machte die Tür zu, obwohl er wusste, dass Colm schlief wie ein Toter. Er nahm den Apparat aus dem Karton, kniete sich vor ihn hin und sah ihn eine Weile an, berührte ihn und erschrak ein wenig, als sich sein Gesicht im Bildschirm spiegelte. Dann las er die Bedienungsanleitung, schloss das Gerät an und stellte die Zimmerantenne darauf.

Bevor er das Deckenlicht löschte und die Einschalttaste drückte, horchte er auf Geräusche von oben. Alles war still, kein Wind wehte. Nicht einmal das Holz der Dielen knackte, als Wilbur sich hinsetzte und langsam den Finger ausstreckte, um dem Gerät Leben einzuhauchen wie Gott dem ersten Menschen. Ein Knistern ging durch das erwachende Gehäuse, die schwarze, gewölbte Scheibe öffnete sich zu einem flirrenden Bild, durch das Wellen flossen. Unter einem dumpfen Brummen lag zuerst Musik, dann sprachen Menschen, die als zitternde, von farbigen Flocken umwehte Gestalten in der Dunkelheit des Wohnzimmers leuchteten. Eine Weile saß Wilbur da und betrachtete gebannt das Stück Welt, das sich vor ihm auftat. Er schob die Antenne hin und her, bis das Bild klar wurde und das Brummen verschwand. Drei Kanäle gab das Gerät her, auf einem wurde Gälisch gesprochen. Wilbur versank in den Bildern und Tönen, vergaß die Zeit und auch, dass er eigentlich im Bett liegen und Gott um seinen baldigen Tod bitten sollte.

Sein Leben schien wie ausgeblendet, überstrahlt von der elektrischen Kiste, die gleißend vor ihm schwebte. Es war, als würde er aufhören zu existieren neben diesen Menschen, die durch ein großartiges, unerklärliches Wunder den Raum in Besitz nahmen. Alles außerhalb dieses Kastens, dieses Zimmers, war unwichtig geworden, löste sich auf im Gestöber der bunten Lichtpartikel, die Wilburs Haut bedeckten und seine Pupillen flackern ließen. Er sprang zwischen den Sendern hin und her und ließ die Hand sinken, als der Bildschirm einen Mann zeigte, den er vor drei Jahren in den Schaukästen eines Dubliner Kinos gesehen hatte. Wilbur setzte sich hin und sah sich den ersten Film seines Lebens im Fernsehen an, den ersten, bei dem Orla nicht neben ihm saß.

Im Herbst beschlossen die Behörden, man könne Wilbur nicht länger in Colms Obhut lassen. Der alte Mann, sein Leben lang Junggeselle und nur an Feiertagen in der Kirche anzutreffen, sei wohl kaum in der Lage, sich angemessen um ein Kind zu kümmern. Colm versuchte alles, um die beiden Beamten, die eines Sonntags unangemeldet zu einem Kontrollbesuch erschienen waren, von seinen erzieherischen und haushälterischen Fähigkeiten zu überzeugen, aber es half nichts. Auch Wilburs Flehen und sein darauffolgender Wutausbruch, der einem der Männer vom Sozialamt eine geplatzte Lippe bescherte, konnten an dem Beschluss nichts ändern.

Es wurde eine Pflegefamilie gefunden, noch bevor die Herbstferien begannen. Wilbur weigerte sich, aber Colm erklärte ihm, warum er gegen die behördliche Verfügung nichts tun konnte. Zum ersten Mal musste Wilbur Koffer packen. Colm hatte ihm zwei alte aus braunem Leder vom Dachboden geholt und dann geholfen, sie mit den Dingen zu füllen, die Wilbur brauchen würde. Am Tag, als Wilbur abgeholt wurde, hob Colm den Jungen hoch und umarmte ihn lange. Dann schenkte er ihm eine Giraffe aus Ton und versprach, ihn jede Woche zu besuchen. Er trug die Koffer zum Auto der Beamten und schloss die Tür, nachdem Wilbur eingestiegen war. Wilbur fühlte sich von Colm verraten und wusste, dass es nicht so war. Trotzdem drehte er sich erst um, als der Wagen den Hof weit hinter sich gelassen hatte. Er sah den alten Mann auf dem Vorplatz stehen, klein und schmal im Licht, das aus einem riesigen Himmel fiel, und er hob die Hand und winkte und wusste nicht, ob Colm es sah.

Die Beamtin, die auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich ab und zu um und stellte Wilbur Fragen. Sie lächelte und versuchte nett zu sein, aber Wilbur sagte keinen Ton. Irgendwann gab die Frau auf und sah auf die Straße, die sie nach Portsalon brachte. Wilbur steckte sich den Finger in den Hals und würgte das Essen samt Nachtisch hervor, das Colm für ihn zubereitet hatte. Der Fahrer fluchte und hielt an, und die Frau suchte in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern. Wilbur musste aussteigen. Sie standen auf einem Hügel, zwischen Felsen grasten ein paar Schafe. Wilbur blickte über das Meer, dann über das Land. Weit weg sah er Colms Hof, dahinter das Haus und die Mauer mit der roten Tür.

Während der Mann und die Frau das Erbrochene aufwischten, ging Wilbur die Straße hinunter auf die Häuser zu. Er wollte bei Colm bleiben, wollte jeden Morgen dessen klebriges Porridge essen und am Abend Karten spielen. Er wollte keine fremden Leute, die ihm Familie und fürsorgliche Eltern vorgaukelten. Er wollte kein besseres, schöneres Leben, wie es ihm die Beamtin versprach. Er wollte nachts in seinem Bett liegen und den Allmächtigen darum bitten, ihn zu sich zu holen. Dazu brauchte er diesen Trott, diese stummen Rituale, die er mit Colm einstudiert hatte. Gott würde irgendwann ein Einsehen haben und Wilburs Gebete erhören. Umgab Wilbur erst einmal amtlich verordnete Liebe, wäre Gott bestimmt nicht mehr bereit, dieses junge Leben zu beenden.

Wilbur hatte den Wagen schon weit hinter sich gelassen, als der Beamte angerannt kam und ihn zurückholte. Als er wegrennen wollte, packte ihn der Mann, und Wilbur merkte, wie die Tongiraffe in seiner Jackentasche zerbrach. Während der restlichen Fahrt redete niemand. Um den Geruch zu vertreiben, waren alle Fenster geöffnet, und Wilbur musste an die Ausflüge mit Orla denken. Erst überkam ihn der Drang zu weinen, aber dann begann er stattdessen zu singen. Laut und falsch sang er Mistletoe and Wine von Cliff Richard und hörte erst auf, als der Wagen vor dem Haus der Conways hielt.

Pauline Conway war eine dreiundfünfzigjährige Frau, die unter der Last, Gutes zu tun, müde und verbittert geworden war. Neben drei eigenen Töchtern und zwei Söhnen, die das Haus spätestens mit achtzehn verlassen hatten, waren im Lauf der Jahre vier Waisenkinder durch die Conway’sche Erziehungsmaschinerie geschleust worden. Wilbur war die Nummer fünf. Pauline und ihr Mann Henry führten ihren neuen Schützling durch das Haus, zeigten ihm den Garten und auch die Garage, in der ein blitzender silberner Wagen stand. Pauline redete in einem fort und zählte dabei all die Dinge auf, die Wilbur zu unterlassen hatte. Ihr Verbotskatalog war bereits länger als der von Miss Ferguson, als sie Wilburs Zimmer betraten. Pauline schob Wilbur in den Raum, und Henry legte ihm eine Hand auf die Schulter.

«Das ist dein Reich«, sagte Pauline und fügte gleich hinzu, Wilbur dürfe ohne Erlaubnis weder das Fenster öffnen noch an der Heizung drehen oder Bilder aufhängen.

Wilbur sah aus dem Fenster auf die Äste eines Baumes, die sich im leichten Wind bewegten. Er hatte sich im Auto vorgenommen, kein Wort mehr zu reden, und nicht vor, daran etwas zu ändern. Pauline und Henry, die sich mit verschreckten Kindern auskannten, waren überzeugt, dass ihr neuer Ziehsohn seine Schüchternheit schon bald ablegen würde. Als Pauline ihn aufforderte, den Schrank zu öffnen, blieb Wilbur in der Mitte des Zimmers stehen und rührte sich nicht. Schließlich machte Pauline die Schranktüren selber auf und tat beim Anblick von Bergen alter Spielsachen überrascht. Auch Henry mimte den Erstaunten und holte einen Bagger aus gelbem Plastik von einem Regal, führte Wilbur die beweglichen Teile vor und meinte, er würde am lieb sten selber in den Garten gehen und damit in der Erde buddeln. Pauline lachte, dann holten die beiden Wilburs Koffer hoch.

Wilbur setzte sich auf das Bett. Neben dem Kissen lag ein Teddy, der an einigen Stellen kahl war und dessen Knopfaugen lose an Fäden hingen. Wilbur sah an die Wände, ließ den Blick über die gerahmten Bilder gleiten, Drucke, die Segelschiffe und Landschaften zeigten, folgte mit den Augen den Blumenranken der Tapete, betrachtete eine Weile das Muster des Bettvorlegers, schloss die Augen und ließ sich nach hinten kippen. Als Pauline und Henry die Koffer brachten, gab er vor zu schlafen. Er merkte, wie Pauline ihm die Schuhe auszog und dass die Vorhänge geschlossen wurden.

Als es still war im Zimmer und er nur noch den eigenen Atem hörte, war Wilburs Gefühl der Einsamkeit so groß, dass er alle Kraft aufbringen musste, um nicht zu weinen. Er dachte an den Mann im Film, der so viele schreckliche Dinge erlebt und trotzdem nicht geweint hatte, und im Halbdunkel dieses fremden Zimmers beschloss er, genau so zu werden wie dieser Mann. Dann stand er auf, öffnete den Schrank, holte alles Spielzeug daraus hervor und warf es aus dem Fenster.

Wenn Pauline und das Wetter es erlaubten, schlenderte Wilbur durch die Nachbarschaft. Er hatte sein Schweigen nach zwei Tagen aufgegeben, beschränkte sich jedoch meist auf die Beantwortung von Fragen. Er grüßte jeden höflich, der ihm begegnete, wie seine Pflegemutter es ihm eingeschärft hatte, aber hinter dem Rücken der Leute murmelte er verächtlich und wünschte, sie würden tot umfallen. Viel zu entdecken gab es in der Gegend nicht, und weil er den Kindern, die sowieso nichts mit ihm zu tun haben wollten, aus dem Weg ging, war er ganz auf sich alleine gestellt. Er vermisste Orla, und auch Colm fehlte ihm, aber der Rest der Menschheit konnte ihm gestohlen bleiben.

Es waren Herbstferien, und die Tage dehnten sich ins Endlose, obwohl Pauline dafür sorgte, dass Wilbur täglich für die Schule lernte und Arbeiten erledigte, die sie und Henry als unangenehm empfanden. So war Wilbur fürs Rasenmähen, Unkrautjäten und Laubrechen zuständig und musste einmal in der Woche den Wagen waschen und die Garage ausfegen. Die übrige Zeit gehörte ihm, und er konnte mit ihr anfangen, was er wollte, solange er keine Dummheiten anstellte, sich nicht schmutzig machte und nicht zu spät zu den Mahlzeiten erschien.

Am dritten Ferientag entdeckte Wilbur einen leerstehenden Schuppen, der zu einem Haus am Rand des Dorfes gehörte. Der Schuppen war aus Holz und von einem Ring aus Pappeln umgeben, und wenn es regnete, schlugen die Tropfen so laut auf das Blechdach, dass Wilbur seine eigene Stimme nicht mehr hörte. Zuerst hatte Wilbur sich nur vor Regenschauern in die Hütte geflüchtet, jetzt stellte er zwischen den schiefen Bretterwänden Szenen des Bruce-Willis-Films nach, duckte sich unter Salven aus Maschinengewehren, schoss Magazine leer und rief im Regengetrommel Sätze, die sich ihm eingeprägt hatten, weil ein Mann sie sagte, der nichts zu verlieren hatte.

Der Schuppen wurde zum Hochhausturm, eine leere Kiste zum bodenlosen Fahrstuhlschacht, aus dem Flammenpilze wuchsen. Draußen kreisten Hubschrauber, deren Lichtbündel in den Raum drangen und die Splitter der geborstenen Fensterscheiben aufblitzen ließen. Explosionen sandten Druckwellen aus und warfen Wilbur zu Boden, beißender Rauch machte ihn blind. Eine Wunde am Oberarm verband er mit einem Stück Tuch, das er aus Paulines Putzschrank genommen hatte. Er ging barfuß, wie sein Held, und das Blut war Ketchup. Er hatte die Handlung im Kopf, und wenn er keuchend in einer Ecke saß und in sein Funkgerät sprach, eine Schachtel für extralange Streichhölzer, mit Sand gefüllt und Klebeband umwickelt, ließ er seine Stimme tief und abgebrüht klingen. Aus einer zerknitterten Packung schüttelte er auf Zigarettenlänge gebrochene Äste, steckte sich einen zwischen die Lippen und zündete ihn mit einem leeren Wegwerffeuerzeug an. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen, die ein normaler Mensch nicht ausgehalten hätte, klaubte Glasscherben aus seinen Fußsohlen und benutzte Worte wie Scheiße und Hurensöhne. Dann prüfte er das Magazin seiner Waffe und robbte los, um noch mehr Feinde zu töten.

Bevor Wilbur nach Hause ging, wusch er sich die Füße in einem Tümpel neben dem Schuppen. Mit einem Handtuch trocknete er sich ab, zog Strümpfe und Schuhe an, legte das Handtuch über eine Kiste im Schuppen und schlüpfte durch die Lücke im Zaun. Er schlich sich in die Garage, zog die schmutzigen Kleider aus und stopfte sie in einen Karton, der oben auf einem Schrank lag und aus dem er eine saubere Hose und ein frisches Hemd holte. Weil er vor dem Abendessen immer baden musste, bekam Pauline seine dreckigen Fingernägel und Haare nie zu Gesicht, und nur einmal fragte sie ihn, eher verärgert als besorgt, wie er zu einer kleinen Schramme an der Backe gekommen sei.

Um seine Pflegeeltern nicht misstrauisch werden zu lassen, erzählte er ihnen von Vogelbeobachtungen im Wald, von der Pracht eines Ameisenhügels und der Artenvielfalt in einem Tümpel. Und obwohl Pauline meinte, es sei ihr lieber, wenn Wilbur sein Wissen aus Büchern erwerben würde, statt Feldforschung zu betreiben, fanden sie und ihr Mann sein naturwissenschaftliches Interesse lobenswert. Henry erzählte dann immer, wie er als Junge Gesteinsproben gesammelt und archiviert hatte. Er beschloss, das sei auch etwas für Wilbur, und Wilbur versprach, sich nach dem Studium der Ameisen und Frösche der Geologie zu widmen.

Nach dem Essen musste Wilbur das Geschirr abtrocknen und durfte dann auf sein Zimmer. Dort nahm er das Heft aus dem Versteck hinter dem Schrank und fuhr damit fort, die Handlung des Films aufzuschreiben. Obwohl er nicht gut darin war, zeichnete er das brennende Hochhaus zwischen den Text, einen Hubschrauber, Bruce Willis’ Waffe, einen Feuerball, eine Handgranate. Die Buntstifte, mit denen er malte, waren alles, was von dem Spielzeug, das Wilbur am ersten Tag aus dem Fenster geworfen hatte, übriggeblieben war. Den Rest hatte er unter Paulines strengem Blick vom Rasen aufsammeln und in den Kofferraum des Wagens laden müssen. Dann waren beide nach Letterkenny gefahren und hatten die Sachen im dortigen Oxfam-Laden abgegeben. Pauline war während der Hinfahrt eingeschnappt gewesen, hatte Wilbur Undankbarkeit vorgeworfen und ihm das Elend der armen Kinder veranschaulicht, die bald mit den Plastikautos und Baukästen spielen würden.

Auf dem Nachhauseweg hatte sie ihm eine Predigt über den Wert von Dingen gehalten und gemeint, gerade Wilbur solle für alles, was ihm geboten werde, dankbar sein. Wilbur, der seinen zweiten Tag des Schweigens durchhielt, starrte nach vorne und stellte sich vor, wie er ins Lenkrad griff und der Wagen von der Straße abkam, wie der silberne Toyota sich mehrmals überschlug und auf dem eingedrückten Dach liegen blieb. Er sah sich blutend aus dem Wrack klettern und sich auf den Boden werfen, während das Auto explodierte. Er sah, wie er über die Wiese hinkte und einen Wagen anhielt, den Fahrer mit der Waffe zum Aussteigen zwang, sich ans Steuer setzte und davonraste, wie er Polizeisperren durchbrach, seinen Verfolgern die Reifen zerschoss, das Fluchtfahrzeug mit leerem Tank in einem Wald stehenließ und auf einen Güterzug aufsprang, der ihn wegbrachte, weit weg von hier, irgendwohin, wo niemand ihn kannte.

Dann waren sie zu Hause, und Wilbur fand die Buntstifte im Garten verstreut, zwischen Grashalmen und verborgen unter den gelben Blättern einer Buche.

Um Punkt halb acht kam Pauline in Wilburs Zimmer und ließ ihn wissen, dass es Zeit fürs Bett war. Da hatte Wilbur das Heft längst wieder versteckt, saß an seinem Schreibtisch und las in einem Buch mit dem Titel Schätze der Kiesgrube, das Henry ihm geschenkt hatte. Jedenfalls tat er so, als würde er lesen, und war jeweils froh, wenn Pauline ihn zum Zähneputzen aufforderte. Nachdem er im Bett lag, kam Pauline noch einmal zu ihm, küsste ihn auf die Stirn und löschte das Licht. Wilbur hätte es vorgezogen, nicht geküsst zu werden, aber Pauline fand wohl, sie vermittle ihm damit das Gefühl, richtig zur Familie zu gehören. Gegen acht Uhr öffnete Henry die Tür und wünschte Wilbur eine gute Nacht. Oft erzählte er ihm noch irgendeine Geschichte, meistens etwas mäßig Aufregendes aus seiner Jugend, aber dann rief Pauline von unten, und Henry beeilte sich, ihr im Wohnzimmer Gesellschaft zu leisten.

Henry und Pauline saßen jeden Abend vor dem Fernseher, es sei denn, sie hatten Verpflichtungen in der Gemeinde. Am ersten Freitag jeden Monats fand die Sitzung der St. John’s Community statt, eines Vereins, dessen Mitglieder sich die Verschönerung des Ortes zum Ziel gesetzt hatten, und an jedem zweiten Montag traf man sich im Portsalon Seniors Circle, der sich um alte alleinstehende Menschen kümmerte. Im einen Verein war Pauline Präsidentin, im anderen Henry Protokollführer. Nahm Pauline an einer Sitzung teil, blieb Henry zu Hause, und wenn er seine gemeinnützigen Aufgaben erfüllte, wachte Pauline über den Pflegesohn. Nicht einmal den Sonntag hatte Wilbur für sich, denn der gehörte der Kirche. Er wurde dazu angehalten, die Texte der gängigsten Lieder auswendig zu lernen und seine Singstimme zu trainieren. Wenn er sein abendliches Bad nahm, musste er so laut singen, dass Pauline ihn in der Küche hören konnte. Dabei gab er sich keine große Mühe, die Töne zu treffen, und als er auch nach mehreren Wochen des Übens noch immer falsch sang, meinte Pauline, er solle sich in der Kirche ein wenig zurückhalten.

Nach dem Gottesdienst kamen meistens Gäste zum Mittagessen, das Pauline schon am Samstag vorbereitet hatte. Waren alte Leute unter den Besuchern, musste Wilbur ihnen zu Kaffee und Kuchen etwas vorlesen, mit Bleistift markierte Stellen aus der Bibel oder erbauliche Kurzgeschichten eines schottischen Landpfarrers und Laienschriftstellers, in denen es um opferbereite Missionare, selbstlose Nonnen und kluge Hirtenhunde ging. Nach jeder dieser Lesungen wurden Wilburs Vortragskunst, seine klare Aussprache und helle Stimme gelobt, und Pauline ließ sich voller Eifer darüber aus, wie wichtig es sei, täglich ein gutes Buch zur Hand zu nehmen, gerade in einer von der Unkultur des Fernsehens geprägten Zeit.

Obwohl es Wilbur bei solchen Gelegenheiten drängte, etwas zu sagen, schwieg er. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft hatte er sich allabendlich die Treppe hinuntergeschlichen, um durch den Türspalt ins Wohnzimmer zu spähen und zu sehen, was seine Pflegeeltern bis spätnachts wach hielt, und er wusste, dass es nicht die Lektüre von Büchern war. Die Satellitenschüssel, an der Rückseite des Daches angebracht und von der Straße her nicht zu sehen, speiste das Fernsehgerät der Conways mit englischen Seifenopern und amerikanischen Krankenhausserien, einem wüsten Reigen aus Trennungen, Krebsleiden, Bankrotten, wundersamen Heilungen, häuslicher Gewalt, Geständnissen auf der Intensivstation, ungewollten Schwangerschaften und verschollenen Zwillingsbrüdern.

Wilbur sah sich diese düsteren, von gelegentlichen Leuchtfeuern vermeintlicher Glücksmomente erhellten Sagen menschlichen Zusammenlebens ein paar Tage lang an, dann blieb er nachts lieber in seinem Zimmer und übte mit tiefer Stimme markante Sprüche seines zähen Helden. Manchmal, wenn er an das Fernsehgerät dachte, das ihm gehörte und das er bei Colm hatte zurücklassen müssen, wurde er wütend. Sein Leben hätte um einiges weniger langweilig sein können, wenn man ihn nicht hierher verfrachtet hätte. Jede Nacht hätte er, vom schlafenden Colm unbemerkt, ins Wohnzimmer gehen können, um sich Filme anzusehen, die nur zu später Stunde gezeigt wurden, weil die Leute darin fluchten und andere Leute erschossen und sich küssten.

Wilbur empfand es als unerträgliche Verschwendung, dass seine Pflegeeltern sich einen solchen Mist ansahen, und wenn er tagsüber mal alleine war, weil Pauline für ein paar Minuten wegmusste, warf er mit Steinen nach der Schüssel. Er schaffte es sogar, sie so zu treffen, dass ein Mechaniker kommen und ein Teil ersetzen musste. Alle fragten sich, wie der Schaden entstanden war, und als der Mann Dellen in der Schüssel entdeckte und ein paar Steine in der Dachtraufe fand, wurde Wilbur zur Rede gestellt. Erst stritt er alles ab, doch unter dem Druck des Verhörs, das Pauline perfekt beherrschte, gestand er schließlich und rechtfertigte seine Tat damit, dass Pfarrer Fowley das Fernsehen ein Werk Satans genannt hatte. Damit war Wilbur in den Augen der Conways zwar ein fehlgeleiteter Jugendlicher, der die metaphorisch gemeinte Aussage eines Geistlichen zu wörtlich genommen hatte und Nachsicht verdiente, aber einer Strafe entging er dennoch nicht. Sein aus pädagogischen Gründen bereits kümmerliches Taschengeld wurde bis zur Tilgung der Reparaturkosten gestrichen, und er musste die Regenrinnen reinigen. Henry fand zwar, die Arbeit auf der Leiter sei für einen kleinen Jungen zu gefährlich, aber wie immer setzte Pauline sich durch.

Während Wilbur in fünf Metern Höhe auf den Sprossen der Leiter stand und verrottetes Laub aus der Rinne schaufelte, dachte er daran, sich fallen zu lassen. Er malte sich aus, wie er auf dem Rasen aufschlagen und sich beide Beine brechen und wie Pauline beim Anblick seiner zerschmetterten Glieder das Bewusstsein verlieren würde. Der Gedanke gefiel Wilbur und half ihm, die Arbeit hinter sich zu bringen. Er gefiel ihm aber nicht gut genug, um den Sprung von der Leiter tatsächlich zu wagen.

Wie er es versprochen hatte, besuchte Colm Wilbur nach einer Woche. Er war dünn geworden, und Wilbur sah, wie jedes Lächeln ihn Kraft kostete. Colm hatte eine seiner Tonfiguren dabei, ein Nashorn, das er Wilbur schenkte. Wilbur zeigte ihm sein Zimmer, danach saßen sie im Garten, sahen in den Himmel und fachsimpelten über die Wolken und den Wind und ob es bald regnen würde. Als es dann tatsächlich regnete, machte Pauline ihnen Tee, und nach zwei Stunden verabschiedete sich Colm und ging. Wilbur hätte ihn gerne gebeten, das nächste Mal den Fernseher mitzubringen, heimlich natürlich, damit Pauline nichts merkte, aber er wusste, wie albern sein Wunsch war.

Am Gartentor umarmte Colm ihn und machte sich dann auf zur Bushaltestelle. Der Regen hatte aufgehört, aber es war kalt geworden und dunkel unter den tiefen Wolken. Wilbur sah dem alten Mann in seinem schwarzen Sonntagsanzug nach, und plötzlich durchströmte ihn ein banges, schmerzliches Gefühl, dessen Ursache er nicht benennen konnte. Er wollte Colm nacheilen und seine Hand nehmen und mit ihm den Weg bis zur Kreuzung gehen, aber dann rief Pauline ihn hinein, weil er vor dem Abendessen seine Hausaufgaben machen musste. Wilbur gehorchte widerwillig, rannte in sein Zimmer hoch und beobachtete durch ein Fenster, wie Colm auf der schwarzen, vom Regen glänzenden Straße immer kleiner wurde und schließlich hinter einer Kuppe verschwand.

Nach dem Abendessen schrieb Wilbur Colm einen Brief, in dem er sich für das Nashorn bedankte und ihm sagte, dass er ihn vermisste. Weil ihm danach nichts mehr einfiel, schrieb er den Text von Mistletoe and Wine darunter und nahm sich vor, Colm beim nächsten Besuch die Melodie des Liedes beizubringen. Dann zeichnete er etwas, das ein Nashorn sein sollte, steckte den Brief in einen Umschlag und legte ihn in das Versteck.

In dieser Nacht lag Wilbur lange wach, und wenn er sich anstrengte, konnte er von unten die Musik der Seifenopern und die Stimmen der Schauspieler hören. Er überlegte, wie es wohl war, so zu tun, als sei man jemand anderes. Er fand Gefallen an der Idee, sein Leben sei eine Inszenierung und er eine Figur, die es nicht wirklich gab. In so einem Spiel konnte er verletzt werden, ohne Schaden zu nehmen, genauso wie Orla es ihm im Kino erklärt hatte. Das Schicksal mochte Kugeln und Pfeile auf ihn abschießen, doch er war unverwundbar. Er verspürte weder Freude noch Ungeduld, wenn er sich den weiteren Verlauf seines Lebens vorstellte, aber sterben wollte er auch nicht mehr. Der Mann im Film nahm in jeder Sekunde den Tod in Kauf, versuchte jedoch mit allen Mitteln, ihn zu verhindern. Es war nicht die Liebe zum Leben, die ihn auf den Beinen hielt, es war die Verachtung für den Tod. Man musste die eigene Existenz als Kräftemessen begreifen, als Wettkampf des Menschen gegen eine höhere Gewalt, die alles daransetzte, einen zu vernichten.

Die Frage, die Wilbur sich stellen musste, lautete, ob er weich und feige sein wollte wie sein Vater oder zäh und gnadenlos wie der Mann im Film. Die Antwort war so klar, dass Wilbur in dieser Nacht Gott nicht mehr bat, ihn umzubringen. Er hörte überhaupt auf zu beten und murmelte stattdessen Sätze ins Dunkel, die seine Angst in Mut verwandelten und seine Verzweiflung in sture Kraft. Er wollte stark werden und hart und wünschte sich, irgendwann nichts mehr fühlen zu müssen.

An einem Sonntag, wenige Tage vor Ende der Herbstferien, stahl Wilbur einem alten Mann, der von Pauline und Henry zum Essen eingeladen war, fünf Zigaretten aus der Packung. Er hatte dem Mann und den beiden Frauen, alle drei Bewohner eines Seniorenheims, eben einige Passagen aus der Bibel vorgelesen und nutzte die Gelegenheit, als die Gesellschaft in den Garten ging, um unter Henrys Anleitung Krocket zu spielen. Während die betagten Leute angestrengt unbeholfen versuchten, die Kugeln zu treffen, nahm Wilbur die Zigaretten an sich und versteckte sie in seinem Zimmer hinter dem Schrank. Danach stand er eine Weile am Fenster und sah dem Treiben auf der Wiese unter sich zu. Mr. Walsh hustete stark, und Wilbur bildete sich ein, ihm durch den Diebstahl einen Gefallen erwiesen zu haben.

Als es zu regnen begann, eilten alle ins Haus, und Wilbur wartete darauf, gerufen zu werden, weil das Fehlen der Zigaretten entdeckt worden war. Aber als Pauline ihn holte, war es nur, weil er dem Besuch ein weiteres Kapitel aus den Erinnerungen des Pfarrers aus den Highlands vorlesen sollte. Während er die Geschichte von armen, gottesfürchtigen Bauern und der Errichtung einer Kapelle erzählte, musste er an seinen Großvater Eamon und dessen Kirche denken und daran, dass dieser verrückte Greis in einem Heim dem Tod entgegendämmerte. Am Ende des Kapitels klatschten die alten Damen begeistert, und Mr. Walsh drückte Wilbur fünfzig Cent in die Hand.

Mit dem Geld kaufte Wilbur am nächsten Tag in Brennan’s Laden eine Schachtel Streichhölzer, ging in den Schuppen und rauchte die erste Zigarette seines Lebens. Jedenfalls glaubte er das, denn davon, dass man den Rauch in die Lungen ziehen musste, wusste er nichts. Der Tabak brannte auf der Zunge und der Qualm in den Augen, und Wilbur verzog das Gesicht wie der Mann im Film. Grimassen schneiden gehörte zum Rauchen wie das Ausspucken von Krümeln und das beiläufige Wegschnippen der Asche. Rauchen war kein Vergnügen, es war ein Ritual, ein Zeichen dafür, dass man hartgesotten war, ein richtiger Kerl, so sah Wilbur die Sache. Wenn er ehrlich war, fand er es sogar ziemlich eklig, aber er war überzeugt davon, dass es ein wichtiger Bestandteil im Leben eines Mannes war, und die Tatsache, dass es gemeinhin als Laster galt, bestätigte seine Theorie nur.

Schon die nächste Zigarette würde wie selbstverständlich zwischen seinen Lippen stecken und ihm keine Übelkeit mehr verursachen. Irgendwann würde man ihn nur noch rauchend antreffen, eingehüllt in blaue Schwaden, hinter denen seine Augen kalt blitzten.

Nachdem er die Kippe auf dem Lehmboden ausgedrückt hatte, spielte Wilbur mit den Streichhölzern, legte sie zu Figuren und Buchstaben und zählte sie. Weil ihm das bald einmal zu langweilig wurde, zündete er eines an und dann noch eins. Er ließ sie abbrennen, machte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger mit Spucke nass und hielt die Streichhölzer am verkohlten Kopf, bis sie in einer letzten winzigen Rauchsäule erloschen. Dann zündete er Strohhalme an, die herumlagen, danach kleine Holzstücke. Schließlich entfachte er ein Feuer aus Stroh und Reisig und dürren Latten, die sich in einer Ecke stapelten. Die Flammen loderten, von Wilbur aufgeregt kontrolliert, und eine Säule aus sauberem Rauch stieg schnell und fast gerade unter das Giebeldach.

Erst als Wilbur Laub und Placken von Moos ins Feuer legte, breitete sich Qualm aus, der rasch den Schuppen füllte. Wilbur stocherte hektisch mit einem Schaufelstiel in dem brennenden Haufen und zertrat mit den Schuhen glühende und züngelnde Holzstücke, die er aus dem Brandherd geschoben hatte. Dabei hustete er und rieb sich die tränenden Augen, unterließ es jedoch, die Tür des Schuppens zu öffnen, um seine Anwesenheit nicht zu verraten. Als er das Feuer gelöscht hatte und nur noch ein kokelnder Fleck vor ihm lag, pinkelte er darauf, keuchte die abflauende Panik aus der Brust und kicherte über das Zischen und den süßlich riechenden Dampf, der aus der Glut emporstieg.

Den Mann, der in der offenen Tür stand, sah Wilbur erst, als er, vom plötzlichen Licht überrascht, den Kopf hob. Obwohl er nicht fertig war, zog Wilbur eilig die Hose hoch und knöpfte sie zu. Der Mann war alt und bärtig und trug einen Mantel, dessen Farbe im abziehenden Rauch von fahlgrau zu braun wechselte, und er stützte sich auf einen Stock. Die Zeit, während der sie sich anstarrten, geriet Wilbur zur Ewigkeit, und er war beinahe erleichtert, als der Mann endlich den Mund aufmachte.

«Wer bist du?«rief der Alte, und er klang eher neugierig als verärgert. Er stand in der Türöffnung wie eingerahmt. Licht fiel in seinen Rücken und ließ seine Gestalt an den Rändern strahlen. Er erinnerte Wilbur an ein Gemälde im Wohnzimmer der Conways, das Moses zeigte, der einen krummen Stock in der Hand hält, während sein Gewand im Wind weht. Was nicht zu diesem biblischen Bild passte, war die Hornbrille mit den dicken Gläsern.

Wilbur antwortete nicht. Er wollte stumm bleiben. Darin hatte er Übung.

Der Mann wiederholte seine Frage und zerrte Wilbur, als dieser schwieg, an der Hand aus dem Schuppen und über eine ungemähte Wiese. Das Gras war feucht vom letzten Regen, und Wilbur bemerkte, dass der Alte nur Pantoffeln an den nackten Füßen trug. Nachdem sie einen Kiesplatz überquert hatten, erreichten sie das Haus, einen zweistöckigen Bau, an dem sich Efeu bis zum Dach emporrankte. Der Alte ließ Wilbur erst los, nachdem er ihn im Wohnzimmer in einen Sessel gedrückt hatte, dann setzte er sich ihm gegenüber in einen zweiten, größeren Sessel, stützte die Hände auf den Gehstock und starrte seinen Gefangenen nachdenklich an.

«Ich kenne dich«, sagte er und schien Wilburs Namen in dessen Augen lesen zu wollen.

Wilbur senkte den Blick und hoffte, seine nassen Schuhe würden auf dem Teppich ordentliche Flecken hinterlassen. Eine Katze kam aus einem Nebenraum und strich ihm um die Beine, bis der Mann sie zu sich rief und hochhob. Wilbur überlegte, aufzuspringen und davonzurennen, aber der Mann saß keine zwei Meter vor ihm und würde ihn bestimmt packen, sobald er sich bewegte. Er stellte sich vor, er wäre der Held des Films und der Alte der Anführer der Verbrecher. Er war verletzt und seinem Feind in die Hände gefallen. Jetzt ging es darum, ruhig zu bleiben und den richtigen Moment abzuwarten, den Augenblick der Flucht oder des Angriffs. Wilbur entspannte sich, setzte die Miene auf, die er im Schuppen geübt und vor dem Badezimmerspiegel perfektioniert hatte. Er legte sich einen Satz zurecht, der abgebrüht klang, furchtlos und kalt. Er hatte Zeit. Zumindest bis fünf, wenn er im Haus der Conways den Tisch decken musste.

Der Mann streichelte, nachdenklich ins Leere blickend, die Katze, und Wilbur hob den Kopf und sah ihn an. Er schätzte ihn auf über siebzig, das war mindestens so alt wie Mr. Walsh, eher älter. Die Vorstellung, einen schwächlichen Greis anzugreifen, um zu fliehen, missfiel Wilbur. Er wollte Feinde, die ihm ebenbürtig waren, unzimperlich und verschlagen wie er selber.

«Jetzt hab ich’s!«rief der Mann plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel. Die Katze sprang von seinem Schoß, blieb einen Moment verwirrt neben dem Sessel stehen und rannte dann aus dem Zimmer.»Du bist der Neue der Conways!«

Wilbur sagte nichts. Er war erschrocken wie die Katze und hasste sich dafür. Jetzt nahm er alle Kraft zusammen und starrte dem Mann ins Gesicht. Er hätte sich gerne eine Zigarette angezündet, um seine Gelassenheit zu unterstreichen. Aber die Streichhölzer lagen im Schuppen, und er konnte seinen Bewacher schlecht um Feuer bitten.

«Nein, so was auch«, sagte der Alte. Er grinste und trommelte mit den Fingern auf der Lehne des Sessels, dessen braunes Leder faltig und brüchig war und Wilbur an die kahle Haut eines sehr alten, in der Sonne verendeten Tieres denken ließ. Der Mann lächelte vor sich hin und nickte.

Wilbur sah sich im Zimmer um. Neben einem offenen Kamin lagen Torfstücke in geflochtenen Körben. Ölbilder zeigten lichtsatte Landschaften, durch die Wilbur gerne gegangen wäre. Unter einem der Bilder stand eine Kommode, darauf ein Plattenspieler, ein klobiges Modell mit riesigen Schaltern und Knöpfen und dennoch der einzige moderne Gegenstand im Raum. In Regalen standen Bücher, die meisten davon dicker als die Bibel, aus der Wilbur vorlesen musste. Auf einem kleinen Tisch lagen Zeitungen, beschriebene Blätter, Zettel, Brillen und noch mehr Bücher. Es war düster in dem Raum, alles in ihm schien in einer anderen, früheren Zeit zu ruhen. Die Möbel wirkten schwer und unverrückbar, die Vasen dünn und durchlässig, als würden sie bei einer Berührung zerfallen. Von der Decke hing ein Leuchter, dessen Schirm eine gläserne weiße Blume war. Längliche Glühbirnen ragten aus ihrer Mitte, Blütenstempeln gleich. Auf dem runden Tisch neben dem Sessel des Mannes stand eine Bronzefigur, ein Pferd im Galopp, Mähne und Schweif fliegend, eingefroren in einer Sekunde des Glücks, der Sekunde vor dem Tod. Wilbur sah weg, schloss für einen Moment die Augen. Als er sie öffnete, trieb die Sonne etwas Helligkeit durch die Wolken und ließ in einer Ecke des Raumes den Bauch eines Instruments schimmern.

«Ein Cello«, sagte der Alte.

Wilbur senkte den Blick, drehte die Schuhspitzen einander zu.

«Ich konnte mal darauf spielen. Früher, als ich noch meine Schuhe binden konnte. «Der Mann lachte. Es klang wie ein leises Husten.

Eine Weile saßen sie da und hörten auf das Ticken der Uhr, deren Pendel hinter einem runden Fenster schwang. Es war warm in dem Zimmer, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. All die Gegenstände, die es füllten, schienen Wärme abzugeben. Wilbur hatte Durst, er wollte weg. Aber er blieb sitzen. Der Sessel umschloss ihn, er versank langsam in ihm.

«Magst du Musik?«fragte der Alte. Er stand auf, ging zu der Kommode, nahm eine Schallplatte daraus hervor und legte sie auf den Teller des Plattenspielers. Als er das Gerät einschaltete, gaben die Lautsprecher, die in den Regalen zwischen Büchern standen, ein Knacken von sich, dann brummten sie träge wartend. Wenig später erklang eine Musik, deren erste langgezogene Töne in Wilburs Bauch strömten, sich ausbreiteten und langsam aufstiegen, sachte an seinen Schläfen rieben und dann in seinem Kopf kreisten, ein Schwarm leuchtender Käfer in tiefdunkler Umlaufbahn, ein sanftes Scheuern von Flügeln, Wärme erzeugend, ein endloses Rollen, Summen, ein Licht in der Finsternis des Schädels. Wilbur bewegte sich nicht, atmete nicht. Die Musik machte das für ihn, übernahm seinen Körper. Wilbur wurde schwer, er versank, und trotzdem flog er. Die Augen geschlossen, schwebte er über sich, über der Welt, hellwach und in tiefem, aufgewühltem Schlaf.

Als die Klänge verebbten und die Nadel in der Auslaufrille kratzte, wusste Wilbur nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er blinzelte ins Dämmerlicht und sah, dass er alleine war. Er wartete und horchte, stand schließlich auf und spähte in die angrenzende Küche, dann hob er den Tonarm von der Platte und stand eine Weile da. Er berührte das Sitzpolster des zweiten Sessels, es war kühl. Er wollte rufen, aber dann tat er es nicht und verließ das Haus.

Auf dem Vorplatz sah er zu den Fenstern hoch, doch nirgendwo brannte Licht, hinter keinem Vorhang bewegte sich etwas. Ein dichter Nieselregen strich ihm über das Gesicht, und Wilbur drehte sich um und rannte zum Haus der Conways.

Die Schule fing wieder an und damit das Getuschel über Wilbur. Alle auf dem Pausenhof wussten, dass er bei den Conways lebte. Wieder war es Erin Muldoon, die ihn ansprach, während die übrigen Schüler nur verhohlen glotzten. Sie fragte, ob Wilbur an einem Sonntagnachmittag zu ihr kommen wolle, aber er sagte, das ginge nicht, weil er den alten Leuten aus der Bibel vorlese. Erin versuchte es mit einem Samstag und dann mit irgendeinem Tag der Woche, gab aber auf, als Wilbur für jeden eine Verpflichtung hersagte. Sie presste die Lippen zusammen, drehte sich um und ging zu ihren Freundinnen, in deren Mitte sie verschwand wie ein Fisch zwischen wogendem Tang. Lachen und Gemurmel stiegen aus diesem Wald, und Wilbur setzte sich abseits der anderen Kinder auf eine Mauer und versuchte, die Klänge, nach denen er sich sehnte, in seinem Kopf zum Schwingen zu bringen. Wenn er die Augen schloss, gelang es ihm manchmal, dann wurde er wieder schwer und schwebte, bis die Glocke schrillte oder ein Kieselstein seinen Kopf traf und grölendes Lachen die Musik verdrängte.

Dem Unterricht folgte Wilbur wie im Traum. Sein Gehirn war ein Schwamm, der alles aufsog, was er las oder hörte. Er wusste, dass er etwas Besonderes war, und er nahm es hin. Das half ihm, den Neid und Spott der Mitschüler zu ertragen. Man schubste ihn herum und versteckte seine Bücher, flüsterte ihm auf dem Flur Beleidigungen ins Ohr und stellte ihm ein Bein. Von Sean Finn und Niall McCoy fing er ab und zu eine Kopfnuss ein oder einen versteckten Tritt ans Schienbein. Er gewöhnte sich daran. Auch an die Blicke und das Kichern der Mädchen, an die Art, wie sie sich von ihm abwandten und eine gewölbte Hand vor den Mund hoben, um über ihn zu tuscheln. Welche Gerüchte sie verbreiteten, wusste er nicht, und es war ihm gleichgültig. Hin und wieder warf ihm Sean Finn ein paar Brocken davon zu in der Hoffnung, Wilbur würde ihn einen Lügner nennen und damit ein paar Ohrfeigen und Magenhiebe rechtfertigen, aber sein Lieblingsopfer stellte sich taub.

Weil die Tätlichkeiten gegen Wilbur im Geschiebe auf den Fluren und in dem Gedränge auf dem Pausenhof verborgen blieben und Wilbur sich nie beschwerte, hatten die Lehrer keinen Grund, etwas zu unternehmen. Miss Ferguson sah zwar, dass Wilbur oft drangsaliert wurde, aber sie wollte ihn nicht noch mehr zum Außenseiter machen, indem sie ihn übermäßig schützte. Sie verbarg so gut es ging ihre Zuneigung zu ihm, die hauptsächlich auf der Bewunderung seiner außergewöhnlichen Intelligenz beruhte, wusste aber auch, dass es diese Intelligenz war, mit der der Junge den Hass seiner Mitschüler auf sich zog. So sah sie sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, Wilbur im Unterricht zu fordern, ihn aber gleichzeitig nicht zu sehr aus der Menge der meist mittelmäßig begabten Kinder herausragen zu lassen.

Wilbur Sandberg würde die Grundschule in Portsalon zu Ende machen, das stand für seine Lehrerin fest. Mit zwölf würde er die Schule in Letterkenny besuchen, wie die übrigen seiner Klasse, die versetzt wurden. Welchen Weg er danach einschlagen sollte, lag nicht in ihrer Zuständigkeit. Es gab Schulen für Hochbegabte, aber ob Wilbur sich an einem Ort wohlfühlen würde, wo kopflastige Sonderlinge, weltfremde Streber und egozentrische Genies zur geistigen Elite geschmiedet wurden, bezweifelte sie. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihm so viel Wissen mitzugeben, wie es der vorgegebene Unterrichtsplan erlaubte, aber mehr konnte sie nicht tun, obwohl ihr der Junge ans Herz gewachsen war.

Vielleicht hätte sie etwas gegen Sean Finn und Niall McCoy unternommen, wenn ihr der Sportlehrer von den blauen Flecken an Wilburs Schienbeinen erzählt hätte. Aber Fintan Taggart sah weder in Blutergüssen noch Kratzern oder Fleischwunden etwas Schlimmes. Im Gegenteil. Für ihn waren sie Beweise körperlicher Aktivität, unvermeidbare Folgen eisernen Trainings und unzimperlichen Einsatzes, er betrachtete sie als Auszeichnungen, die man trug wie Orden.

Eigentlich hätte Wilbur seinen Sportlehrer bewundern sollen. Fintan Taggart war ein harter Kerl. Er fuhr ein Rennrad und rannte im kalten Regen Berge hoch, an denen Spaziergänger außer Atem gerieten. Er konnte fluchen und mit einer dunklen Stimme brüllen, und Fotos bewiesen, dass er auf haushohen Wellen geritten war und Ziegelsteine mit der bloßen Hand entzweischlug. Die Jungen, die so werden wollten wie Taggart und auf dem besten Weg dazu waren, verehrten ihn. Wilbur hasste ihn. Fintan Taggart war der erste Mensch, den er töten wollte.

Dabei hatte Wilbur nichts gegen Sport. Unvoreingenommen betrachtet, schien er eine praktikable Möglichkeit, den Körper zu formen. In seinem Fall hätte das geheißen, Muskeln zu bilden und das mickrige Gewicht aufzustocken. Bis Taggart in Portsalon aufkreuzte, war es Miss Ferguson gewesen, die ihrer Klasse ein wenig Bewegung verschaffte. Dazu war man entweder auf den Pausenhof oder in die Turnhalle gegangen, eine bessere Scheune aus Wellblech, deren Wände und Dach bei starkem Wind schepperten. Darin trabten die Kinder im Kreis oder machten Freiübungen, begleitet vom Tamburin, auf das die Lehrerin mehr oder weniger rhythmisch schlug. Bei den harmlosen Ballspielen konnte es zu keinen Körperkontakten und folglich zu keinen Grobheiten kommen. Miss Ferguson legte viel Wert auf die therapeutische Wirkung eines Spiels, Härte und Kampf waren ihr ein Greuel.

Ihr Favorit war ein Spiel, das sie Klingelball nannte. Dabei saßen die Schüler mit verbundenen Augen auf dem Boden und warfen sich einen mit Glöckchen gefüllten Ball zu. Es gab keine Mannschaften, Ziel war es, den Ball in einen Blecheimer zu befördern, den Miss Ferguson immer wieder verschob. Wilbur mochte an dem Spiel vor allem den Umstand, dass niemand ihn sehen konnte, denn in Turnzeug gab er eine noch dünnere und unfertigere Figur ab als in Straßenkleidung. Und das Klingelgeräusch des Balls gefiel ihm. Er stellte sich einen verirrten Vogel vor, der zwitschernd durch ihre Reihen flatterte und dem man in sein Nest helfen musste.

Das Ende der Turnstunde warf ihn jeweils schnell in die Realität zurück. Im Umkleideraum lachten die Jungs sich schief über seine bleichen Beinchen und Ärmchen und den handtuchbreiten Brustkorb, der hohl klang, wenn man dagegen stieß. Sie nannten ihn Alien und taten, als fürchteten sie sich vor ihm, nur um ihm gleich darauf einen schmerzhaften Knuff zu verpassen. Viele der Jungs waren Bauernsöhne, von der Arbeit auf dem Hof kräftig und derb. Ihre Haut war dunkel, und wenn sie prahlerisch und drohend die Arme anwinkelten, wuchsen kleine Muskelberge, die alle anfassen mussten. Neben diesen Kolossen fühlte Wilbur sich tatsächlich wie ein Außerirdischer. An Turntagen lag er abends im Bett und dachte sich eine Geschichte aus, in der er den Absturz eines UFOs überlebt hatte und jetzt unter den Menschen auf einem fremden Planeten ausharren musste. Man hatte wissenschaftliche Experimente mit ihm angestellt, doch war ihm die Flucht aus dem Labor gelungen. Er lag in der Dunkelheit, bewegte die Finger vor dem Gesicht und glaubte, sich an die Schläuche zu erinnern, die an ihn angeschlossen gewesen waren, und an die enge, gläserne Hülle des Raumschiffs.

Die Lehrerschaft hatte sich erfreut gezeigt, als Fintan Taggart anbot, den Sportunterricht an der Schule zu übernehmen. Miss Ferguson war die einzige gewesen, die Bedenken äußerte und meinte, sie würde die Spiele mit ihren Kindern vermissen. Dass der braungebrannte Mann, der zur Beerdigung seines Vaters aus Neuseeland angereist war, über keinerlei pädagogische Kenntnisse verfügte, störte weder die Verantwortlichen an der Schule noch die zuständigen Behörden. Fintan Taggart, zweiunddreißig Jahre alt, strahlte vor Gesundheit und Tatendrang, er war höflich, ehrgeizig und ein guter Christ, und nicht zuletzt war er ein Junge aus dem Ort. Einer der Lehrer hegte anfangs Zweifel an der Autorität des Sunnyboys, doch am jährlichen Schulsporttag bewies Taggart nicht nur unermüdlichen Einsatzwillen und Übersicht, sondern auch eine sichere und notfalls strenge Hand im Umgang mit den Kindern.

Dass er innerhalb eines Jahres und mit eigenen Händen eine Schwimmhalle erbaut hatte, die eine Bereicherung des Sportunterrichts darstellen und dem Ort zudem eine gewisse Popularität bescheren würde, war ein weiterer Grund für die Behörden, ihm eine Lizenz als Lehrer zu erteilen. Sein Vorhaben, den Kindern aus der Gegend das Schwimmen beizubringen, sah das Gremium als Geschenk des Himmels, an einer Sitzung wurde Taggart gar zum Gesandten Gottes.

Das Gebäude, in dem sich das Schwimmbecken befand, stand auf einer Wiese, auf der Taggarts Vater früher eine Handvoll Schafe weiden ließ. Der Tag der Einweihung war gleichzeitig der Tag, an dem Fintan Taggart offiziell als Lehrkraft der Schule von Portsalon bestätigt wurde. Drei Wochen nach den Herbstferien drängten sich Leute aus den umliegenden Orten, Lokalpolitiker, Lehrer, Geistliche und ein paar Reporter und Fotografen in dem Würfel, den graues, durch das Plexiglasdach fallendes Licht erhellte und in dem es nach Chlor und Farbe roch. Die Schüler, unter ihnen Wilbur, hatten auf der Wiese vor dem Gebäude Lieder gesungen und standen dann in der Kälte und warteten auf das Ende der Zeremonie. Drinnen sprangen ein paar Kinder, die bereits schwimmen konnten, vom Einmeterbrett und kletterten unter dem Applaus der Anwesenden aus dem Becken.

Taggart, in einem neuen Adidas-Trainingsanzug, hielt eine Rede und pries das Wasser als lebenspendendes Element, warnte aber auch vor dessen tödlicher Kraft. Er erntete beifälliges Murmeln von Eltern, als er die Unersetzbarkeit von Kindern betonte, ließ die Kirchenmänner ernst nicken, indem er den Schöpfer dafür pries, dem Menschen die Fähigkeit des Schwimmens verliehen zu haben, und den Journalisten lieferte er selbstgefällige Anekdoten und plakative Botschaften zur Ausschmückung ihrer Artikel. EIN MANN WILL LEBEN RETTEN, JEDE FLIESE EIN SCHICKSAL, EIN BECKEN VOLLER HOFFNUNG lauteten die Überschriften der Artikel, die wenig später in den Lokalblättern erschienen und Fintan Taggart als Mann mit einer Mission darstellten, als Retter, als Messias.

In allen Zeitungsberichten wurde noch einmal das tragische Schicksal des Jungen aus Portsalon heraufbeschworen, für den der Schwimmunterricht zu spät kam. Liam O’Donnell, einer aus Conor Lynchs ehemaligem Gefolge, der Mitläufer, der Wilbur damals täglich mit Daumen und Zeigefinger die Haut am Oberarm verdreht hatte, dass sie sich blau verfärbte, war bei einem Bootsausflug mit seinen Brüdern ertrunken. Die Klasse war zu seinem Begräbnis gegangen und hatte am Grab gesungen, Wilbur so laut und falsch, dass Miss Ferguson ihn mit einem strengen Blick zum Verstummen brachte.

Fintan Taggarts Ziel war es, den Kindern die Angst vor dem Ertrinken zu nehmen. Bei Wilbur löste er durch seinen Schwimmunterricht eine den Jungen bis in die Träume verfolgende Panik vor Wasser aus. Bevor Taggarts Tempel errichtet war, hatte Wilbur nichts gegen ein heißes Bad gehabt. Als Orla noch lebte, gab es für ihn kaum etwas Schöneres, als von Schaum umhüllt in der Wanne zu sitzen und Orlas Summen zu lauschen. Seit er bei den Conways war, gehörte das Baden zur täglichen Pflicht, und Wilbur begann nach einer Weile, das von Dampfschwaden erfüllte Badezimmer als den einzigen Ort im Haus zu schätzen, wo seine Pflegemutter ihn aus Gründen der Schicklichkeit alleine ließ. Erst in dem Becken, an dessen Boden die Namen der Ertrunkenen durch einen Film aus milchigem Wasser schimmerten, entwickelte Wilbur Todesangst. Unter dem Brüllen des Lehrers und dem Johlen der Mitschüler schaufelte er mit den Armen und schlug mit den Beinen, ein mickriges Hündchen, der schwächste Welpe aus dem Wurf, den man ertränkte.

Als Wilbur eines Tages, zu müde zum Kämpfen, an den Grund des Lochs sank, fühlte er die tiefere, kühlere Schicht des Todes an seiner Haut. Sein Trudeln und Strampeln über dem Grund dauerte nur einen schrecklichen Gedanken lang, dann lag er, von einem Zaun aus Beinen umgeben, am Rand des Beckens. Taggart holte ihn keuchend vor Anstrengung und Angst aus der Bewusstlosigkeit und befreite ihn vom Schwimmunterricht. Den Conways erklärte er, Wilbur reagiere allergisch auf das Chlor.

Um Wilburs Furcht vor dem Wasser zu bestrafen, trug Taggart ihm die Reinigung des Beckens auf. Alle zwei Wochen musste Wilbur die Fliesen mit Seifenlauge abschrubben und die Filterkörbe leeren. Taggart, der auch in der Freizeit in seinem roten Trainingsanzug herumlief, saß derweil im nahen Pub oder neben dem Ofen, in dem die Fliesen gebrannt worden waren und der jetzt als Heizung diente. Wilbur rutschte auf den Knien im glitschigen Film, der sich auf dem Beckenboden abgelagert hatte, und überlegte, wie einfach es gewesen wäre, zu sterben. Dann tauchte Taggart am Rand auf und trieb ihn zu schnellerem Arbeiten an, und Wilbur dachte an den Mann im Film und daran, wie leicht es sein mochte, jemanden zu töten.

Es war der letzte warme Herbsttag des Jahres, als Wilbur vor dem Haus des alten Mannes stand, die Hände in den Taschen und auf den Mut wartend, der nötig war, um anzuklopfen. Im Erdgeschoss brannte hinter den Vorhängen Licht, und manchmal glaubte Wilbur Schritte zu hören, das Schließen einer Tür oder das Knacken von Holz. Aus dem Schornstein trieb Rauch, der die Farbe der Torfbarren hatte, die im Kamin verbrannten. Ein leichter Wind zerzauste Wolken, unter denen Linien schwarzer Vögel zogen, weg aus diesem Land an einen Ort, wo es keinen Winter gab. Wilbur sah ihnen nach, und als die Tiere ins trübe Blau des Horizonts eintauchten und sich darin auflösten, hob Wilbur die Hand und klopfte an. Nach einer Weile öffnete der Alte und trat zur Seite, als habe er Wilbur erwartet.

Загрузка...