Mercury Rising, 1998

Manchmal, wenn sie sich alleine wähnte, summte Alice Krugshank vor sich hin. Es war keine erkennbare Melodie, die im Innern ihres dünnen Körpers entstand, sondern eine lose Folge von Tönen, nur dazu da, das andere Geräusch in ihrem Kopf zu überdecken. Während Alice summte, vertieft in das Machen eines Bettes oder das Falten von Wäsche, hielt Wilbur den Atem an und lauschte dem leisen Klang. Er erinnerte sich an Orla, die im Auto bei offenem Fenster gegen den Motor angesungen hatte, laut und voller hervorbrechender Lebenskraft. Aber Alice sang nicht, ihr Mund war geschlossen und das Summen eine zufällig mäandernde Musik, ein an- und abschwellender Strom aus langgezogenen Tönen, die das stille Haus füllten.

Lawrence Krugshank hatte Alice vor etwas mehr als elf Jahren verlassen und lebte mit seiner neuen Frau in Baltimore. Nachdem Eamon McDermott den kleinen Wilbur aus Chestnut Hill geholt hatte, war Alice in eine tiefe Depression gefallen. Tagelang lag sie im Bett, aß nichts und weinte, und nicht einmal der Besuch von Ruby Fletcher, die noch immer nicht adoptiert worden und deshalb Alices Lieblingsmädchen war, vermochte sie aus ihrem Dämmerzustand zu holen. Fünf Wochen blieb sie im abgedunkelten Zimmer, lag zusammengekrümmt da und starrte vor sich hin, fiel in kurzen, tiefen Schlaf und weinte wieder, trank Tee und Suppe, die Lawrence ihr trotz matter Gegenwehr einflößte. In der sechsten Woche stand sie auf, blieb aber in der kleinen Wohnung und konnte durch nichts dazu bewegt werden, sie zu verlassen. Sie sprach kein Wort, verbrachte Stunden in der Badewanne und, eingehüllt in Tücher, auf einem Stuhl in der Küche.

Lawrence, von Sorge um seine Frau getrieben, ließ den Hausarzt kommen, der Vitaminpräparate verschrieb und sich ansonsten ratlos zeigte. Ein befreundeter Psychologe schlug vor, Alice für eine Weile in einem Sanatorium unterzubringen, wo sie zwei Monate blieb, lange Spaziergänge unternahm und wenigstens wieder zu sprechen begann. Die mitfühlende, zärtliche, an Gott und der Welt interessierte Frau, die Lawrence kannte, wurde Alice nicht mehr. Ihre Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, hatte sie ein Stück aus dem hellen Leben geschoben, jetzt war sie ein weiteres Stück in die Dunkelheit geglitten. Sie hörte auf, im Büro des Waisenhauses zu arbeiten und sich mit den Kindern zu beschäftigen. Stattdessen begann sie zu malen, ungegenständliche Bilder in dunklen Farben, grundlose Ozeane, düstere Landschaften. Vom Vorschlag ihres Mannes, ein Kind zu adoptieren, wollte sie nichts wissen. Als Lawrence eines Tages mit einem Kind in den Armen nach Hause kam, einem Jungen in dem Alter, in dem Wilbur gewesen war, fing sie an zu weinen und rannte hinaus in den kalten Regen.

Die ganze Nacht blieb sie weg und kam am nächsten Morgen zurück, erneut verstummt und mit einem Fieber, das sie mehrere Wochen ins Bett zwang. Ihr großer, feingliedriger Körper wurde dünn und dann mager, ihre helle Marmorhaut nahm eine fahlgelbe Farbe an, und der verbliebene Glanz verschwand endgültig aus ihren Augen. Irgendwann schnitt sie sich aus einer Laune heraus die langen roten Locken ab und ließ sie im Waschbecken liegen, wo Lawrence sie fand. Seit Wilbur weggeholt worden war, schliefen sie nicht mehr miteinander, sie redeten kaum noch, und wenn, dann bestürmte Lawrence sie mit hilflosen Fragen und verzweifelt optimistischen Zukunftsplänen, schwieg dann aber bald wie seine Frau und versank mit ihr in nächtelanger Apathie und schweren, verstörenden Träumen.

Zwei Jahre lang versuchte Lawrence, seine Frau zu erreichen und zurückzuholen, dann war sein Vorrat an Verständnis, Rücksichtnahme und Verzicht aufgebraucht. Er war dreiundvierzig, und wenn er jemals Kinder wollte, musste er sich bald entscheiden. Nach einem mittlerweile alltäglichen, aber besonders heftig geführten Streit trennte er sich von Alice und zog nach Baltimore, wo er aufgewachsen war. Ein halbes Jahr später wurde die Ehe geschieden, und Lawrence heiratete eine alte Schulfreundin. Wie um Alice zu verhöhnen, wurde die Frau zwei Monate später schwanger.

Alice Simmons, wie sie jetzt wieder hieß, blieb noch eine Weile in Reading. Sie mietete sich ein möbliertes Zimmer bei einer Frau, die nachts, wenn Alice wach im Bett lag, Akkordeon spielte. Irgendwann hörte sie auf, Leinwände mit dunklen Farben zu füllen, zerschnitt die Bilder mit der Schere und warf sie in den Abfall. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, packte sie ihre paar Sachen und fuhr zu ihrem Bruder. Harold Simmons, acht Jahre älter als seine Schwester, war Kurator und verbrachte die meiste Zeit seines beruflichen Lebens mit Reisen, um irgendwo auf der Welt Ausstellungen vorzubereiten und einzurichten. Sein Haus auf Long Island, ein verschachtelter, mit dunklen Holzschindeln verkleideter Bau aus den siebziger Jahren, stand während neun von zwölf Monaten leer und wartete förmlich auf eine erschöpfte, heimatlose Seele wie Alice, um sie zu beherbergen.

Während Harolds Abwesenheit kam zweimal pro Woche ein Gärtner, der nach dem Rechten sah, den Rasen mähte, die Hecken stutzte und den Ford Explorer in der Garage zehn Minuten laufen ließ, damit sich die Batterie auflud. Als Alice einzog, drehte er für sie die Heizung höher, schloss die Gasflasche in der Küche an und zeigte ihr, wo sich der Sicherungskasten befand. Der Mann, nur wenig älter als Alice, hätte sich gerne auch für andere Zwecke zur Verfügung gestellt, aber das Objekt seiner unausgesprochenen Begierde war nicht in der Stimmung, eine eilige, nach Rasierwasser und Rasenmäheröl riechende Affäre mit absehbarem Ende einzugehen.

Nachdem sie alleine war, ging Alice zum Strand. Es war Mitte März, die Abende wurden wärmer, und als die Sonne unterging, setzte sich Alice mit einer Wolldecke um die Schultern in den Sand und sah den Leuten nach, die mit ihren Hunden vorbeigingen. Eine alte Frau mit nackten Füßen winkte ihr zu, und Alice winkte zurück und fühlte zum ersten Mal seit Langem so etwas wie innere Ruhe, eine verwischte Erinnerung an Geborgenheit. Am Abend telefonierte sie noch einmal mit Harold, der ihr versicherte, sie könne so lange im Haus bleiben, wie sie wolle.

Im Jahr darauf kaufte Harold eine Wohnung in London. Weil sein Herz an dem Haus in Sayville hing, behielt er es, was mehr oder weniger bedeutete, dass er es seiner Schwester schenkte. Zwei-, dreimal im Jahr kam er für eine Woche vorbei, hängte ein paar Bilder ab und wickelte Skulpturen in Luftpolsterfolie und packte alles in Holzkisten, die er nach England schicken ließ. Er lud Alice in die besten Lokale der Gegend ein, gab den Versuch auf, ihr das Segeln beizubringen, zeigte ihr stattdessen, wie man Hummer aß, Gemüse einmachte und einen verstopften Siphon reinigte, und verschwand wieder.

Alice verließ Long Island im ersten Jahr nur ein einziges Mal, um für Harold etwas in Manhattan zu erledigen. Sie fühlte sich in dem Haus wohl, machte bei jedem Wetter einen Spaziergang am Strand und vergaß Lawrence schon bald. Um die leeren Stellen an den Wänden zu füllen, fing sie wieder an zu malen. Doch diesmal gerieten die Bilder nicht zu Wegmarken der Verzweiflung, sondern fingen Licht ein und den offenen Himmel, das Meer und Möwen und Wolken, die keine andere Farbe als Weiß hatten. Sie rollte schwere, flauschige Teppiche zusammen und schleppte sie in den Schuppen neben der Garage. Über die schwarzen Ledermöbel legte sie helle Tücher aus Indien, die ein Laden im Ort verkaufte. In der Küche strich sie die dunkelbraunen Schränke weiß und die Wände safrangelb. Truman, der Gärtner und Mann für anfallende Reparaturen, half ihr, die schweren Vorhänge abzunehmen, und sägte unter verhaltenem Protest einen Ast ab, dessen Blätter ein Wohnzimmerfenster verdunkelt hatten. Die unbeholfenen Versuche, bei Alice ein Interesse für seine Person oder zumindest seinen gebräunten Körper zu wecken, scheiterten erneut, und als Alice eimerweise Sand vom Strand hochschleppte, um damit den geteerten Weg zwischen dem Garten und der Garage zu bedecken, erzählte Truman seinen Freunden, Harold Simmons’ Schwester sei möglicherweise verrückt, mit Sicherheit aber lesbisch.

Wäre ihr Konto nicht so gut wie leer gewesen, hätte Alice ein paar Dachfenster einbauen lassen, um mehr Licht in den oberen Räumen zu haben. Ihr Drang nach Helligkeit ging so weit, dass sie an bedeckten und regnerischen Tagen im kleinen Gewächshaus im Garten saß und malte oder las. Nachts ließ sie sämtliche Lampen brennen, auch in den Räumen, die sie nie betrat. Die endlosen Stunden zwischen Sonnenuntergang und Morgendämmerung hasste sie, gegen die Müdigkeit kämpfte sie an, bis sie irgendwo niedersank. Der Schlaf war ihr Feind, in ihren Träumen wurden Tore geöffnet, durch die Angst und Schwäche strömten. Eine Zeitlang schluckte sie Tabletten, die sie wach hielten, bis sie zusammenbrach, dann versuchte sie es mit kurzen, zeitlich kontrollierten Ruhephasen, bei der ihr Schlafmittel halfen.

Als ihre finanzielle Lage kritisch wurde, arbeitete Alice vier Tage in der Woche im Süßwarenladen von Sayville. Der Laden lag neben einer Galerie, die im Sommer Bilder mit Strand- und Hafenszenen an die Touristen verkaufte. Die Besitzerin wollte Alices Arbeiten sehen, stellte zwei davon aus und verkaufte sie. In der Mitte des Sommers kündigte Alice bei Sayville Sweets, um nur noch zu malen. Mit dem Geld, das Lawrence ihr monatlich schickte, und dem neuen Verdienst kam sie gut zurecht, zumal Harold sämtliche Kosten übernahm, die den Unterhalt des Hauses betrafen. Als der Sommer zu Ende ging und die Touristen weniger wurden und schließlich ganz ausblieben, schloss die Galerie bis zur nächsten Saison und die Besitzerin zog in ihr Haus nach Key West. Für kurze Zeit arbeitete Alice als Aushilfe in einer Buchhandlung, und im Winter stand sie nachts im Laden einer Tankstelle hinter der Kasse.

Alice schlief am Morgen ein paar Stunden und malte am Nachmittag Bilder für das nächste Jahr. Sie hatte den Holzfußboden im Wohnzimmer mit alten Laken ausgelegt und benutzte den Raum als Atelier. Weil ihr während der Wintermonate das Licht zu schwach war, kaufte sie gebrauchte Theaterscheinwerfer, die für sie Sonnenlicht simulierten. War der Himmel bedeckt, machte sie nur noch kurze Spaziergänge am Strand, an Regentagen blieb sie im Haus und legte sich in die warmen Strahlen der Scheinwerfer. Ihre Wut über das schlechte Wetter und die Kälte dämpfte sie mit Tabletten. Manchmal verfluchte sie ihren Bruder, weil er dieses Haus gekauft hatte, diesen finsteren, verwinkelten Klotz, statt einen sonnendurchfluteten Würfel aus Glas in New Mexico. Sie rief die Galeristin an und hoffte, nach Key West eingeladen zu werden, aber daraus wurde ebenso wenig wie aus einem Besuch in Puerto Rico, wo Harold eine Ausstellung über die Pioniere des Kubismus vorbereitete.

Weil die Tabletten allmählich ihre Wirkung verloren und Alice es leid war, ständig die Apotheke zu wechseln, um nicht aufzufallen, begann sie zu trinken, erst nur Wein, dann Wodka. Der Alkohol ließ sie die grauen Tage besser überstehen, Regen wurde ihr gleichgültig, wenn sie getrunken hatte. Beim Malen hörte sie jetzt laute Musik. Harolds Sammlung umfasste Hunderte von Schallplatten und Bändern mit Klassik und Jazz. Eingepackt in Haydn und Mingus, die aus den kühlschrankgroßen Boxen dröhnten, malte Alice den Strand und das Meer und den Himmel aus dem Gedächtnis. Den richtigen Himmel sah sie oft tagelang nur noch, wenn sie im Dunkeln zur Arbeit fuhr. Nina Simone und Maria Callas machten sie traurig, dann legte sie sich auf den Boden und sah gegen die Decke, die weiß und leer war. Manchmal wurde sie müde und schlief ein, obwohl die Nadel in der Auslaufrille klang wie das Kratzen eines großen gefangenen Tieres. Wenn um halb neun der Wecker klingelte, musste sie alle Kraft zusammennehmen, um sich anzuziehen und loszufahren, frierend und mit einem dumpfen Hass auf jeden, dem sie in dieser Nacht begegnen würde.

Um sich zu beweisen, dass sie kein Alkoholproblem hatte, trank Alice zwischendurch nichts außer Orangensaft und Tee, vier, fünf Tage, eine Woche lang. Gegen ihre Unruhe nahm sie Tabletten und war stolz, sie nur mit Leitungswasser hinunterzuspülen. Oft lag sie im Wohnzimmer und zählte flüsternd die Namen der Mädchen aus Chestnut Hill auf, an die sie sich erinnerte. Ruby mit den Haselnussaugen und dem Stoffhasen, Maggie, die Angst vor der Dunkelheit hatte und sich nicht umarmen ließ, Rita-Mae, nach deren Weggang es kein Mädchen mehr gab, das Witze erzählen konnte, Alison, stumm und die beste Tänzerin der Welt, Florence und Emily, nur im Paket erhältlich, Carol, die ihren kleinen Bruder vermisste, Muriel, die Bücher verschlang und Berge von Essen, Jill und ihr Traum vom Nach-Hause-Gehen, Esther, schön und so schüchtern, dass sie stotterte, Lea aus dem Land eines verlorenen Krieges, Olivia, die ihre Mutter zeichnete, ohne sie je gesehen zu haben, Elaine, Drama Queen, adoptiert von einem Senator und einer ehemaligen Miss Iowa, Anna, unzugänglich, traurig, Katherine, die mit achtzehn nicht fortwollte, Sarah, mit ihren Kinderlähmungsbeinchen schwer vermittelbar, Joanne, für die Chestnut Hill die fünfte Station war, Debora, vielleicht schon Kindergärtnerin, Nancy und ihre Zerstörungswut, Brenda, die wissen wollte, ob sie hässlich sei, Heather, unnahbar auf der Reise zum Beginn ihres Lebens, Mildred, die sich Schutzhüllen und Fangnetze strickte, Iris, singend, summend, kaum je sprechend, Charlotte mit der Kraft, in allem das Gute zu sehen, Lucille, die kein Mädchen sein wollte, Sophie, schneller als der Wind, Bernice, unsterblich in Lawrence verliebt, dann in den neuen Koch, Nora-Jane, die auf Kommando rülpsen konnte, Maud, die die Briefe ihres Vaters ungelesen zerriss, Pearl mit ihrer Radiostimme, Kimberley, mit sieben adoptiert, Amanda, die ohne Kimberley nicht mehr leben wollte, Rosemary, Gartentierärztin, Megan, mit elf zu oft umhergeschoben, um weiterhin ein Kind zu sein, Bridget, die einmal auf einem Baum im Urwald leben würde, Linda, die nach ihrer Ankunft alle Spiegel zerschlagen wollte, Celia mit ihrer Puppe Harry, der sie die Finger abschnitt, Paula, die Blumen aus Draht bastelte, Sally, Prinzessin, kein Waisenkind und in Chestnut Hill nur aufgrund einer Verwechslung, Patricia, voller Zorn und Pläne, Claire, immer in Weiß, Holly, die weglief, um das Krankenhaus zu sehen, in dem sie zur Welt gekommen war, Wilma, die Inserate verfasste, in denen sie sich als tadellose Tochter anpries, Daphne, glücklich nur in der dampfenden Küche, Teresa, zurückgeblieben in einem fremden Land, Susan, die mit dem Wagen des Postboten losfuhr und bis nach Mount Penn kam, Laura, die im Hof ihren Koffer verbrannte, Diane, die im ersten Sommer nicht ins Freie ging, Helen, die weinte, wenn sie einen Hund sah, Dorothy, die eine eigene Sprache erfand, Martha, die Abschiedsbriefe schrieb und trotzdem blieb.

Alice war nüchtern, als sie Truman anrief und ihn bat, das Schuppendach abzudichten. Sie legte sich mit ihm auf den Stapel aus Teppichen, die feucht waren vom Regen, der durch die lockeren Ziegel drang. Truman, überrascht und verschreckt, kam keuchend in ihrer Hand, lag dann schwer auf ihr, fuhr mit Händen und Lippen über ihren bekleideten Körper und stammelte Unsinn. Sie schob ihn weg und stand auf, und er beteuerte und versprach und verlangte, aber sie wischte die Hände an einem Teppich ab und sagte, er solle sich um das Dach kümmern. Er packte sie am Arm, und sie musste ihn nur ansehen, damit er sie losließ. Als er sagte, es tue ihm leid, hörte sie ihm schon nicht mehr zu und ging durch den feinen Regen ins Haus. Truman fuhr weg, ohne das Dach repariert zu haben, und ließ sich nicht mehr blicken.

In einer sternenlosen Februarnacht überfielen zwei siebzehnjährige Burschen die Tankstelle. Sie erbeuteten einhundertacht Dollar und flüchteten in einem Wagen, den sie kurz zuvor in Whitestone gestohlen hatten. Der eine hatte Alice mit einer Pistole bedroht und sich Schokolade in die Taschen gestopft, während der andere das Geld aus der Kasse nahm. Alice hatte geweint, obwohl der Junge mit der Waffe ihr immer wieder sagte, sie brauche keine Angst zu haben. Die Polizei verfolgte den weißen Chevrolet, der bei Oakdale von der Straße abkam und sich überschlug. Der Junge mit der Pistole wurde aus dem Auto geschleudert und starb, der Fahrer kam mit ein paar Kratzern davon. Alice hatte einen Nervenzusammenbruch, und Texaco gewährte ihr einen Monat bezahlten Urlaub. Danach ging sie nicht mehr zurück und fuhr zum Tanken einen längeren Weg, nur um das Gebäude nicht mehr sehen zu müssen.

Im Sommer wurde sie alle ihre Bilder los, aber sie hatte keine Lust, noch mehr davon zu malen. Sie trank und wurde nicht mehr richtig betrunken, und selbst an sonnigen Tagen blieb sie im Haus, lag auf dem Boden und sah an die weiße, leere Decke, während Chet Baker sie zu Tränen rührte. So wurde sie von ihrem Bruder gefunden, dessen angekündigten Besuch sie vergessen hatte. Harold, der Rauchen und Trinken verabscheute, packte sie in seinen Mietwagen und fuhr sie nach Manhattan, wo er sie in die Obhut einer privaten Suchtklinik gab. Er blieb vierzehn Tage, neun mehr als geplant, besuchte am Morgen die Museen und Galerien der Stadt und am Nachmittag seine Schwester, die viel weinte und versprach, ihr teures Zimmer mit Aussicht auf den Hudson bald zu verlassen und ein normales Leben zu führen. Harold beruhigte ihr schlechtes Gewissen, redete mit den Ärzten und flog dann nach Tokio, weil die Vorbereitungen für eine Pollock-Ausstellung keinen Aufschub mehr duldeten.

Alice redete mit anderen Frauen über ihre Trunksucht, sprach mit Ärzten und Psychologen über ihre Ehe und Lawrence und dessen Frau und Zwillinge, die sie nie gesehen hatte und nie sehen wollte, und gab Harold telefonisch jeden zweiten Abend darüber Auskunft, wie viel besser sie sich fühlte und wie schwach das Verlangen, Alkohol zu trinken, geworden war.

Als sie nach vierunddreißig Tagen das Gefühl des umsorgten Eingesperrtseins, die deprimierenden, im Kreis verlaufenden Gespräche, die adretten Uniformen und einheitlichen Kurzhaarfrisuren der Betreuerinnen, die pastellfarbenen Möbel, die künstlich gesüßten Kräutergetränke, die Lymphdrüsenmassagen und die monotonen Rundgänge auf der mit einem drei Meter hohen Zaun umgebenen Dachterrasse nicht mehr ertrug, überzeugte sie ihren Arzt und Harold davon, gesund genug für die Freiheit zu sein, und fuhr zurück nach Sayville.

Sie wollte wieder malen, wusste aber nicht, was. Den Strand hatte sie so oft gemalt und ihre eigenen Bilder so endlos kopiert, dass sie nicht mehr in den Himmel blicken konnte, ohne Pinselstriche und Farbmischungen darin zu sehen. Als sie damals den jungen Sozialarbeiter Lawrence Krugshank kennengelernt hatte, war sie im dritten Jahr an der Universität, wo sie Kunstgeschichte und Pädagogik studierte. Sie wollte Lehrerin werden oder Kulturjournalistin, vielleicht Kuratorin wie ihr Bruder, der damals gerade seine erste Ausstellung in Atlanta leitete. Sie kannte die Biografien von Rembrandt und Caravaggio, von van Gogh und Monet, sie hatte alle Bilder von Gustav Klimt gesehen und die meisten von allen anderen bedeutenden Malern, sie hatte Aufsätze zu ihren Werken geschrieben und bereitete sich darauf vor, dieses Wissen in irgendeiner Form anzuwenden. Doch dann heiratete sie Lawrence und fand sich schon bald in einem Büro in Chestnut Hill wieder, wo sie zu Beginn zwischen Buchhaltung und Bettelbriefen an einer Biografie über Robert James Mellerton schrieb, einen von der Kunstwelt vergessenen Maler aus Wyoming, der auf Seiten der Union mit seiner Staffelei in den Bürgerkrieg gezogen und 1863 bei der Schlacht von Gettysburg getötet worden war.

Über Maler, Stilrichtungen und Epochen wusste Alice einiges, in der Theorie kannte sie jede Maltechnik, und von ihrem Lieblingskünstler Renoir wusste sie, wovon er nachts geträumt und wie viele Frauen er geliebt hatte. Von unterschiedlichen Grundier- und Maltechniken und den Nuancen im Gebrauch der Leinwände, Farben und Pinsel wusste sie kaum etwas, und ihr Talent als Zeichnerin war bescheiden. Die düsteren Bilder waren aus einer Depression heraus entstanden, die Strandbilder aus einer Laune und der Notwendigkeit, leere Wände zu füllen. Jetzt fehlte ihr sowohl der innere Zwang als auch der äußere Reiz.

Sie setzte sich in den Garten und malte Blumen, kam sich aber schon bald albern vor, weil ihre Rosenbilder aussahen wie schlechte Entwürfe für Tischdecken. Danach versuchte sie es mit Treibgut vom Strand und Muscheln, doch dafür war ihre Technik ebenfalls nicht ausgereift genug, dann malte sie Steine, was als Prozess und Ergebnis langweilig war. Schließlich zerstach sie mit dem Pinselgriff eine leere Leinwand, weil ihr die Motive ausgingen. Tagelang saß sie im Wohnzimmer und blätterte in den Kunstbüchern, die Harold nicht mit nach London genommen hatte. Aber statt inspiriert zu werden, wurde ihr durch das Betrachten der Meisterwerke klar, dass sie eine Stümperin war, bestenfalls eine mäßig talentierte Hobbymalerin, deren Werke von Touristen gekauft wurden, von Leuten in kurzen Hosen, die ihrer Ferienlaune Ausdruck verliehen, indem sie ein nichtssagendes Gemälde kauften, um es zu Hause neben einen Katzenkalender über einen mit Nippes befrachteten Kaminsims zu hängen. Diese Erkenntnis befreite sie zuerst, doch dann traf sie Alice mit solcher Wucht, dass sie ihr nicht standhielt und zusammenbrach.

Wenn sie am Telefon mit ihrem Bruder sprach, klang sie völlig normal. Umgeben von den im ersten Sommer gekauften, grundierten und leeren Leinwänden, erzählte sie ihm von neuen Bildern und einer möglichen Ausstellung im nahen Bellport. Harold, der gerade zwischen London und Dublin pendelte, hatte keinen Grund, seiner Schwester nicht zu glauben, freute sich für sie und versprach, bald zu kommen. Nach den Gesprächen, deren Zeitpunkt und Länge sie selbst bestimmte, stürzte Alice ab, taumelte zurück in einen diffusen Raum ohne Geräusche, eine wattierte Kammer, in der sie hinfallen konnte, ohne Schmerzen zu empfinden.

Wenn sie trank, war die Zeit eine gekrümmte Linie, die zu ihr zurücklief, eine Schleife aus Wiederholungen, glatt und poliert wie blitzendes Metall. Ihre Tage zerfielen in lose Teile, verschwommene Bilder, deren Ränder ineinanderflossen und Schlaf von Hunger trennten, Notdurft von Waschen, Bewusstlosigkeit von Einkaufen. Wochen wurden zu fleckigen, unregelmäßigen Mustern und Monate zu deren Kopien, überbelichtet und verschmiert von wässrigen Farben. Das Leben, wie Alice es wahrnahm, war ein Film, der in einem Nebenzimmer lief.

Als Harold am Telefon seinen Besuch ankündigte, bat Alice ihn, nicht zu kommen. Sie erfand eine Reise nach South Carolina und eine neue Freundin, ebenfalls Malerin. Stattdessen fuhr sie nach Brooklyn und wies sich selbst in eine Suchtklinik ein. Als Grund gab sie an, nicht sterben zu wollen, was nur zur Hälfte der Wahrheit entsprach. Zwölf Tage blieb sie dort, weil sie den Anfang alleine nicht geschafft hätte, dann mietete sie sich ein winziges Zimmer, ging morgens und mittags auf lange Wanderungen durch die Nachbarschaft und abends zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie war einundvierzig Jahre alt und wog neunundfünfzig Kilo. Weil sie noch immer einen Meter sechsundachtzig groß und rothaarig war, sahen einige Leute auf der Straße sie an, manche erschrocken, manche nur erstaunt. Kinder starrten zu ihr hoch und senkten verlegen den Blick, wenn ihrem bleichen Gesicht ein Lächeln gelang.

In ihrem Badezimmer hing ein Spiegel, dessen silberne Schicht an der Rückseite abblätterte, zerfranste Löcher im Glas hinterlassend, durch die der Verputz schien. Wenn Alice sich darin betrachtete, war sie fassungslos. Oft stand sie minutenlang im schlechten Licht da und verscheuchte den Gedanken, das Gesicht ihrer Mutter wie eine dünne, leicht verrutschte Folie über ihrem eigenen zu erkennen. Margaret Simmons war neunundsechzig. Ein jahrelanger Streit mit der Tochter hatte vor vier Jahren damit geendet, dass sie an Alzheimer erkrankte und sich an nichts mehr erinnerte, auch nicht daran, Kinder zu haben. Harold, der gute Sohn, besuchte sie zweimal im Jahr im Pflegeheim in Jersey City, wo sie untergebracht war, saß eine Weile mit ihr in der Cafeteria, erzählte von Museen in Kapstadt und Edinburgh, von Matisse und Chagall, von neuen Fertiggerichten, Börsenkursen und Reiseweckern und ging wieder.

Joseph Simmons, der Vater von Harold und Alice, wurde in Vietnam getötet, als Alice fünfzehn war. Sie habe seine Züge geerbt, hörte Alice als Kind immer, aber jetzt sah sie nichts mehr davon, nicht die geschwungenen Lippen und nicht die Augen, die dunkelgrün und voller Leben gewesen waren. Was sie jetzt sah, war ein weißes, eingefallenes Gesicht, das sie weinen ließ.

Die Treffen der Anonymen Alkoholiker fanden in einem Haus statt, in dem sich früher ein Hutladen, ein Friseur und, in den beiden oberen Stockwerken, die Büros einer Gewerkschaft befunden hatten. Jetzt war im Erdgeschoss ein chinesischer Schnellimbiss einquartiert, und in der dritten Etage wurden Kleider gelagert. Dazwischen lag erstaunlicherweise eine privat geführte Kindertagesstätte, die ihren kleinen Speisesaal gegen einen symbolischen Betrag an die lokale Umweltschutzgruppe, den Frauenverein und die Anonymen Alkoholiker vermietete. Es gab ein Treffen am Mittwochabend und am Sonntagnachmittag, und Alice ging zu beiden. Anders als in Manhattan, saßen hier keine in Schönheit verkümmerten Frauen reicher, vielbeschäftigter Männer, keine an den gnadenlosen Regeln der Wall Street zerbrochenen und zu Trinkerinnen gewordenen Karrierefrauen und keine verbrauchten Schauspielerinnen, die ihren Berühmtheitsgrad so überschätzten, dass sie beim Spaziergang auf der Dachterrasse eine Sonnenbrille trugen und ihr Gesicht verdeckten, wenn ein Hubschrauber über sie hinwegflog.

In dem Raum im Haus an der Foster Avenue trafen sich Frauen und Männer, die eine Stunde zuvor noch Kaffee serviert, gelangweilte Kinder unterrichtet, Vergaser zusammengebaut und Versicherungen verkauft hatten, Menschen, die unscheinbare Leben lebten und nicht mehr zusehen wollten, wie ihnen alles, was ihnen wichtig war, entglitt. Es kamen Trinker, die am Ende waren und sich nichts mehr erhofften und nur noch dasitzen und wissen wollten, dass es jemanden zum Zuhören gäbe, wenn sie reden würden, dass sie dazugehörten und Menschen mit einem Namen und einer Geschichte waren. Gregory hießen sie und Hank und Rosalyn und Karen, sie waren junge Burschen ohne Arbeit und alte Frauen, denen die Männer und die Hälfte ihres Lebens weggestorben waren.

Sie hatten winzige Wohnungen und Lebensmittelläden und Schreibwarengeschäfte, und sie schämten sich für ihre Träume, die sich nie erfüllen würden. Sie waren zynisch geworden vor Pech und auf schreckliche Art gelassen gegenüber dem Unglück, das sie bewohnte und unter ihrer Haut lag wie Fett. Sie erzählten weinend und stammelnd und wütend und ungläubig kichernd schlimme Geschichten von Krankheit und Tod und vom Verlassenwerden, von Feuern und verirrten Kugeln in Einkaufszentren, von ertrunkenen Kindern und verlorenen Spielen, von Schulden und Gewalt und Betrug und einem Schmerz, der sie in den Bauch trat und umwarf und nicht nachließ, außer wenn sie tranken.

Alice war es peinlich, von sich zu erzählen. Dass ihr als junge Frau die Gebärmutter entfernt worden war, hätte möglicherweise genügt, um in den inneren Kreis der Versehrten aufgenommen zu werden, aber der Umgang mit diesem Verlust war ihre Sache, und sie wollte mit niemandem darüber reden. Die Geschichte von dem Mann, der sie verlassen hatte und dafür mit einer Hochglanzfrau und Zwillingen belohnt worden war, entbehrte zwar nicht einer gewissen Tragikomik, erschien ihr jedoch zu trivial, als dass sie damit ihre Anwesenheit hätte rechtfertigen wollen. Davon zu berichten, als Malerin gescheitert zu sein, kam ihr in der beklemmenden Gesellschaft dieser vom Leben wahrhaftig Geschundenen so absurd vor, dass sie lieber log, statt ihnen die Verzweiflung vor einer leeren Leinwand zu schildern.

Das Schicksal, das sie für sich erfand, war weder zu banal noch zu dramatisch, und niemand in dem Raum, dessen Wände fröhliche Kinderzeichnungen zierten, schien an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln.

Harold ließ sich nicht weiter hinters Licht führen und besuchte Alice in Brooklyn. Er verbarg seine Bestürzung über ihren Zustand so gut es ging und bot ihr auch jetzt Unterstützung an, seelische und finanzielle. Er sorgte dafür, dass das Haus auf Long Island an Urlauber vermietet wurde, und kaufte seiner Schwester ein paar Möbel und Küchengeräte. An einem Tag brachte er einen Entsafter, am nächsten einen Dampfkochtopf, und als die Küche davon überquoll, schenkte er ihr einen Fernseher und eine Musikanlage. Gerührt und überfordert ließ Alice diese brüderlichen Liebesbeweise eine Zeitlang über sich ergehen, aber als Harold mit einem Rudergerät und Eiweißpulver auftauchte, bat sie ihn so diplomatisch wie möglich, damit aufzuhören.

Es ging ihr jede Woche besser. Sie mochte Brooklyn und ihr Quartier, das sie mittlerweile so gut kannte wie damals die Gänge in Chestnut Hill. An die Zeit dort, an die Arbeit und die Kinder und an Lawrence dachte sie kaum noch, und wenn doch, dann mit leiser Wehmut statt bohrender Sehnsucht und dem Gefühl von unauslöschbarem Schmerz und Verlust. Sie hatte gelernt, einen Teil ihres Lebens als gescheitert zu betrachten und nicht weiter damit zu hadern. Aus ihrer Alkoholabhängigkeit nicht mehr herauszukommen, hätte ein weiteres Scheitern bedeutet, und das wollte sie nicht zulassen. Das Trinken hatte sie zum Opfer gemacht, hatte sie zu Boden geworfen und kriechen und lallen und Dinge an einer weißen, leeren Decke sehen lassen, die es nicht gab. Das Trinken hatte die Welt ausgeblendet und ihre Gefühle, und sie forderte beides zurück.

Das Trinken hatte sie auch in die Nähe von Menschen gebracht, deren Gesichter sie früher nicht einmal als verwischte Schatten wahrgenommen hätte, deren Stimmen kaum ein fernes Geräusch für sie gewesen wären. Durch das Trinken hatte sie einen Kreis von Menschen betreten, die sie nicht kannte, die sie übersehen, vor denen sie sich gefürchtet hatte, Verlorene, leise vor sich hin Murmelnde, scheinbar Funktionierende, unter den Kleidern Zitternde, junge Frauen, die am Fenster eines Waschsalons standen und plötzlich anfingen zu weinen, alte Männer, die ihr nahes Ende als Trost empfanden, als Verheißung. In der Gruppe, deren Zusammensetzung ständig wechselte, saß Alice oft einfach da und hörte sich die Geschichten der Verheerungen und Niedergänge an, und wenn sie danach in die Nacht von Brooklyn trat, fühlte sie sich schwer vom Gewicht des Gehörten, aber auch auf eine befreiende Art offen. Ihre Anteilnahme an den Schicksalen der anderen gab ihr das Gefühl zurück, am Leben zu sein und Teil einer Gemeinschaft, auch wenn diese Gemeinschaft von Krankheit und Verzweiflung zerrüttet war.

Drei Monate nach dem ersten Treffen mit den Anonymen Alkoholikern suchte Alice eine Arbeit. Harold hatte darauf bestanden, dass sie die Mieteinnahmen des Hauses auf Long Island bekam, aber sie wollte ihr eigenes Geld verdienen. Sie fand eine Stelle in einem Reformkostladen, der zwei alten Männern gehörte. Die Bezahlung war mittelmäßig, aber ihre Aufgabe im Lager und Verkauf leicht, und am Abend durfte sie Obst und Gebäck mitnehmen, das für den nächsten Tag nicht mehr geeignet war. Umgeben von Vollkornbrot, biologischem Gemüse und naturbelassenen Säften, blieb Alice gar nichts anderes übrig, als sich gesund zu ernähren. Seit achtunddreißig Tagen trank sie keinen Alkohol mehr, und zum ersten Mal in vier Jahren legte sie an Gewicht zu.

An den Wochenenden besuchte sie manchmal Trevor und Clive, die in der Lower East Side in einem Mietshaus aus den fünfziger Jahren wohnten und auf ihrer Dachterrasse Koi-Karpfen züchteten. Ihre bleiche Haut bekam einen Schimmer von Braun, die Ringe unter ihren Augen verschwanden, und wenn sie sprach, stieg ihre Stimme nicht mehr aus einer lichtlosen, der Welt abgewandten Tiefe auf. Zu den Treffen in der Foster Avenue ging sie noch immer zweimal wöchentlich, und das Zuhören tat ihr weh und erinnerte sie daran, wie nahe am Abgrund sie gestanden hatte, aber es gab ihr auch Kraft und Hoffnung. Zu Carol, einer Frau in ihrem Alter, die erst seit zwei Wochen nicht mehr trank, entwickelte sie so etwas wie eine Freundschaft, die endete, als Carol mit ihrem neuen Freund nach Minneapolis zog und sich nie mehr meldete.

Ein Kunde des Reformkostladens, ein Englischprofessor und Lebensmittelallergiker, gefiel ihr, aber der Mann interessierte sich nur für glutenfreie Speisen und die Schreibfehler in den Annoncen, die an einem schwarzen Brett neben der Kasse hingen. Heimlich schwärmte Alice auch für Trevor, war sich jedoch darüber im Klaren, dass er mit zweiundsiebzig zu alt für sie war. Trotzdem liebte sie es, mit ihm zu flirten und ihn zu verwirren, indem sie ihn bei der Arbeit im engen Laden mit der Hand streifte oder ihn mit einem Augenaufschlag anlächelte, wenn er ihr eine Packung braunen Reis aus einem Regal reichte oder sich für eine Schachtel Haferkekse bedankte, die sie aus dem Lagerraum geholt hatte.

Harold hatte sich bei einem Aufenthalt in Seattle in eine Museumsangestellte verliebt, lud sie im Frühling nach London ein und heiratete sie im Sommer. Louise war vierzehn Jahre jünger als Harold, etwas pummelig und vernarrt in alles Englische. Nach kurzer Zeit sprach sie mit britischem Akzent und kannte die Regeln von Kricket. Weil sie beides unbedingt einem Kind beibringen wollte, wurde sie im Herbst schwanger. Harold, der sein Junggesellendasein bisher mit der Aussage verteidigt hatte, die Museen der Welt seien seine Familie und die Bilder seine Kinder, konnte vor Freude kaum noch arbeiten. Der Junge wurde im Juni des folgenden Jahres geboren, George getauft und zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach New York geflogen, wo die Eltern ihn seiner Tante präsentierten. Harold und Louise heulten vor Glück und Schlafmangel, als sie mit Alice neben dem Bett standen, auf dem das Baby lag, und Alice brach ebenfalls in Tränen aus.

Nachdem sich alle drei umarmt hatten, hörten Harold und seine Frau auf zu weinen, aber Alice konnte nicht. Als sie nach fünf Minuten noch immer schluchzte, wusste Harold, dass etwas nicht stimmte, und weitere fünf Minuten später rief er einen Arzt, der bei Alice einen Nervenzusammenbruch feststellte und ihr eine Beruhigungsspritze gab.

Alice schlief, und in ihrem Traum fuhr sie auf einem Rad durch eine sonnenhelle Landschaft. In einem Korb am Lenker saß ein Kind, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte. Als sie aufwachte, saßen Harold und Louise an ihrem Bett und betrachteten sie voller Sorge. Das Baby schlief in ihrer Mitte in einem Reisekorb. Alice lächelte. Harold nahm ihre Hand und sagte, alles würde gut. Alice nickte, weil sie wusste, was zu tun war, damit wirklich alles gut würde.

Alice hörte auf zu summen, und Wilbur ging in den Garten und legte sich auf einen Liegestuhl. Er hörte die Wellen, die sich am Strand brachen, und von weit her einen Rasenmäher. Es war März, die Tage wurden länger und wärmer. Der bedeckte Himmel hing tief, Möwen flogen darin keine, dafür konnte man im leichten Wind das Meer riechen.

Vor vier Tagen war Wilbur achtzehn geworden. Alice hatte eine Torte und alkoholfreien Champagner besorgt und ein Geschenk, einen Discman und ein paar CDs mit Musik, von der sie glaubte, dass Wilbur sie mögen würde. Harold und Louise hatten aus London angerufen, und Wilbur musste mit ihnen sprechen und sich beglückwünschen lassen, obwohl er beide nur von Fotos kannte. Neben dem Geburtstag gab es noch die Tatsache zu feiern, dass Wilburs Antrag auf einen amerikanischen Pass bewilligt worden war. Alice hatte sich um alles gekümmert, und als es Probleme beim Finden der Geburtsurkunde gab, schaltete Harold einen befreundeten Anwalt ein, der die Dinge rasch regelte.

Wilbur war jetzt volljährig und konnte tun und lassen, was er wollte, wusste mit seiner plötzlichen Freiheit allerdings nicht viel anzufangen. Er hätte nach Irland gehen und sein Erbe antreten können, fand jedoch, das habe keine Eile. Er war noch nicht bereit, den Verkauf von Orlas Haus in die Wege zu leiten, ebenso wenig den von Colms Farm, die er auch geerbt hatte. Auf einem Konto bei der Bank Of Ireland lag ein kleines Vermögen, das hatte ihm der Anwalt gesagt, der zu Orlas Beerdigung gekommen war. Aber von diesem Geld wollte Wilbur nichts. Er hatte den Brief des Matrosen gelesen, dessen Abschrift Conor ihm gegeben hatte. In diesem Brief stand, woher das Gold, das Eamon McDermotts Reichtum begründet hatte, gekommen war, und für Wilbur stand fest, dass er davon keinen Cent haben wollte.

Er fühlte sich wohl in dem Haus, die ruhigen, zeitlosen Tage und der Umstand, dass niemand etwas von ihm verlangte, taten ihm gut. Alice war mit ihm nach Montauk gefahren, und sie hatten Sheltered Island besucht und waren in einem Restaurant gewesen, wo in riesigen Aquarien Meeresfische schwammen. Er war neu eingekleidet worden, hatte drei Paar Schuhe bekommen und eine Sonnenbrille. Harold und Louise hatten ihm einhundert Dollar zum Geburtstag geschenkt, von denen er Briefpapier, Umschläge und einen Füllfederhalter gekauft hatte. Den Rest wechselte er in irische Pfund und schickte sie, zusammen mit einem Brief, an Conor, der noch immer in Four Towers saß. An Matthew und Sune schrieb er ebenfalls. Matthew, inzwischen siebenundsiebzig Jahre alt, lebte wieder in Norwich, unterrichtete aber nicht mehr. Vor fünf Jahren war er für ein paar Tage zurück in die Heimat geflogen, weil seine Frau gestorben war und in Manchester, wo sie mit ihrem dritten Mann gelebt hatte, beerdigt wurde. An der Trauerfeier lernte Matthew Cynthias Schwägerin Norma Kennedy kennen und verliebte sich in die neun Jahre jüngere Frau, die als Fotografin arbeitete.

Im ersten seiner beiden Briefe an Wilbur lag ein Schwarzweißbild, das mit Selbstauslöser aufgenommen worden war. Es zeigte Matthew und Norma auf einem umgedrehten Ruderboot sitzend vor einem See, beide sahen ernst und glücklich in die Kamera. Zu ihren Füßen lagen die Ruder und, zusammengerollt auf einer Jacke, eine Katze, die Wilbur bekannt vorkam, im Hintergrund standen Wolken über einer Bergkette. Der Brief trug den Stempel vom 11. Oktober 1996. Matthew erzählte darin von seinen Plänen, das Haus in Portsalon über einen lokalen Makler zu verkaufen und sich seine Habseligkeiten nach England schicken zu lassen. Er fragte, wie es Wilbur gehe, und bat ihn zu antworten. Pauline hatte Wilbur den Brief nie gegeben, auch den zweiten nicht, der fünf Wochen später gekommen war.

Wilbur schickte Matthew siebzehn eng beschriebene Seiten. Sune bekam neun. Eine Telefonnummer konnte er nicht angeben, weil das Haus noch immer vermietet wurde und die Leitung stillgelegt worden war. Beiden Briefen hatte er ein Foto beigelegt, das Alice aufgenommen hatte. Wilbur stand vor dem offenen Maul eines Pottwals, der lebensgroß und aus Kunststoff den Parkplatz eines Seafoodrestaurants zierte.

Ende Mai verließen Alice und Wilbur Long Island und fuhren nach Brooklyn. Das Haus würde bis in den September hinein für sehr viel Geld vermietet sein, außerdem wollte Alice Wilbur New York zeigen. Die Umstellung von sieben auf zwei Zimmer fiel beiden nicht ganz leicht, aber nach ein paar Tagen legten sie ihre Befangenheit ab und gewöhnten sich an das Zusammenleben in der kleinen Wohnung. Wilbur schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer und bekam die Hälfte des Einbauschranks für seine Sachen. Alice arbeitete zwei Wochen lang nur noch am Morgen im Reformkostladen, um nachmittags mit Wilbur Ausflüge nach Manhattan unternehmen zu können. Sie besuchten Ellis Island und Liberty Island, standen in der Krone der Freiheitsstatue und auf dem Empire State Building, streiften durch Chinatown und Little Italy und ließen sich durch den Central Park kutschieren.

Wilbur verschlug es im Schatten der Wolkenkratzer die Sprache, er stand staunend in der Halle der Grand Central Station, und während eines Heimspiels der New York Giants saß er neben Alice und schrie im Chor mit den übrigen Fans, obwohl ihm die Regeln des American Footballs ein Rätsel waren. Auf Coney Island fuhren sie Riesenrad, und Wilbur sah den Steg, von dem seine Mutter damals die Münzen ins Meer geworfen und sich ein Kind gewünscht hatte, ihn.

Trevor und Clive empfingen Wilbur mit offenen Armen, fütterten ihn mit zuckerfreien Keksen und organischem Obst und zahlten ihm zwei Dollar fünfzig die Stunde, wenn er vor dem Laden Handzettel verteilte. An den Wochenenden ging er mit Alice in die Lower East Side und half den beiden alten Männern beim Wechseln des Wassers in den Karpfenbecken und sah mit ihnen Super-8-Filme an, die Trevor in den sechziger und siebziger Jahren gedreht hatte. Trevor Cohen war früher Journalist gewesen und für diverse Zeitungen und Zeitschriften um die Welt gereist. Clive Lombard hatte als junger Mann in Korea gekämpft und danach an verschiedenen Colleges in Maine und New Hampshire Geschichte unterrichtet. Mit sechzig Jahren begegneten sie sich in einer Klinik in Queens, wo beide wegen Magengeschwüren behandelt wurden, und beschlossen, gemeinsam einen Laden für Gesundheitskost zu eröffnen.

Wenn sie nicht ins Kino oder ein Konzert im Central Park gingen, saßen Alice und Wilbur zu Hause im Wohnzimmer und lasen, spielten Scrabble oder sahen fern. Manchmal stießen beim Versuch, gleichzeitig nach der Fernbedienung oder dem Stoffbeutel mit den Buchstabensteinen zu greifen, ihre Fingerspitzen gegeneinander, und sie zuckten verlegen zurück. Solche Momente entstanden auch, wenn Alice nachts in Slip und T-Shirt das Badezimmer betrat, wo Wilbur sich gerade die Zähne putzte, oder wenn Alice ihre Unterwäsche von der Leine über der Badewanne nehmen musste, weil Wilbur verschwitzt von einem Spaziergang zurückkam und duschen wollte.

Alice hatte Wilbur nie die ganze Wahrheit darüber erzählt, warum sie ihn zu sich geholt hatte. Über Chestnut Hill, die in Erwägung gezogene Adoption und die Trennung von Lawrence hatte sie gesprochen, ihre monatelange Depression verschwieg Alice aber ebenso wie ihre Alkoholsucht, die Aufenthalte in den Kliniken und die Treffen in der Foster Avenue.

Sie habe sehen wollen, was aus dem kleinen Jungen, den sie vor vielen Jahren fast schon als ihren Sohn betrachtet hatte, geworden sei, hatte sie Wilbur damals in Sligo gesagt, und Wilbur hatte sich damit zufriedengegeben. Die Alternative zu Alice und Amerika hätte Kinderheim bedeutet, vielleicht Miss Ferguson, bis er achtzehn gewesen wäre. Eine Wahl hatte man ihm sowieso nicht gelassen, wollte ihn loswerden, bevor er wieder irgendwo Feuer legte.

Manchmal hatte Wilbur sich gefragt, was wohl die Leute in der Nachbarschaft von Alice und ihrem neuen Untermieter dachten, sich dann aber im Spiegel gesehen und die Antwort gewusst. Er war einen Meter neunundfünfzig groß und sein kindliches Gesicht ohne Anzeichen eines baldigen Bartwuchses, und wenn er neben Alice stand, hielt man ihn vermutlich für ihren Sohn oder Neffen. Neben ihr wirkte er wie ein Zwerg und nicht wie ein Achtzehnjähriger, in dessen Körper Hormontumulte tobten und der eine Erektion bekam, wenn er unter der Bluse einer Passantin Brustwarzen zu sehen glaubte. Nie versucht zu sein, Alice mit den Augen zu betrachten, mit denen er andere Frauen betrachtete, empfand Wilbur als Entlastung. Zu seinem Glück war Alice riesig und dünn, hatte kaum einen Busen und trug das Haar so kurz, dass Wilbur sich, wenn sie auf dem Sofa neben ihm saß oder im Nachthemd zur Toilette ging, einreden konnte, sie sei ein Mann.

Im Juli kamen Harold und Louise mit dem kleinen George zu Besuch aus London. Harold und Louise begrüßten Wilbur mit überschwenglicher Freude und schenkten ihm, von seiner Wasserphobie nichts ahnend, ein Surfbrett, das sie auf dem Weg vom Flughafen gekauft hatten. Harold mochte Wilbur auf Anhieb, und schon am ersten Abend, den sie in einem indischen Restaurant um die Ecke verbrachten, schlug er vor, Wilbur zum Patenonkel von George zu machen. Louise fand die Idee großartig und meinte, darauf müssten alle mit Champagner anstoßen. Den strengen Blick, den Harold seiner Frau zuwarf, und das darauffolgende betretene Schweigen erklärte sich Wilbur damit, dass Harold ihn trotz Volljährigkeit für zu jung hielt, um Alkohol zu trinken. Er dachte daran, auf scherzhafte Art zu erzählen, wie er vor ein paar Tagen während eines abendlichen Streifzugs durch das Quartier eine halbe Flasche Bier getrunken und sich danach elend gefühlt hatte, ließ es dann aber bleiben.

Harold beendete die unangenehme Stille mit dem Vorschlag, am nächsten Tag nach Long Island zu fahren. Er wolle beim Haus haltmachen, die Mieter, eine Familie aus Detroit, begrüßen und sich davon überzeugen, dass sie mit allem zurechtkam. Er meinte, das sei eine gute Gelegenheit, um an den Strand zu gehen, zu schwimmen und Wilbur bei seinen ersten Versuchen auf dem Surfbrett zuzuschauen. Alice und Louise waren von der Idee begeistert, und auch Wilbur tat, als könne er sich nichts Aufregenderes vorstellen.

Tags darauf, Louise und Alice packten Getränke in eine Kühlbox, schnitt Wilbur sich so heftig in die Hand, dass Alice und Harold mit ihm zum Arzt fahren mussten, der die Wunde mit acht Stichen nähte. Obwohl Wilbur es angesichts der Schwere der Verletzung und der Menge an Blut, die er verloren hatte, für unmöglich hielt, dass ihm jemand Absicht unterstellen könnte, erkundigte er sich, kaum vom Operationstisch aufgestanden, nach einem wasserfesten Überzug für die Hand, die ihm das Baden im Meer erlauben würde. Als der Arzt eindringlich von jeglichem Kontakt mit Wasser abriet, zeigte Wilbur sich enttäuschter als Harold, der ihn damit tröstete, man würde das Surfbrett bei seinem nächsten Besuch ausprobieren.

Am Nachmittag gingen sie alle in den Central Park und veranstalteten ein Picknick unter einem Baum, der dreihundert Meter Luftlinie zum nächsten Gewässer entfernt stand.

Nach einer Woche flogen Harold, Louise und George zurück nach London. Alice beneidete sie um ihre Flucht vor der drückenden Hitze New Yorks ins kühle England. Sie arbeitete jetzt jeden Tag im Reformkostladen, auch samstags. Clive hatte ein Rückenleiden und musste ins Krankenhaus, ein künstliches Hüftgelenk schien unumgänglich. Trevor geriet in Panik, weniger wegen der fehlenden Arbeitskraft, als vielmehr weil er eine Ahnung davon bekam, wie alt er und sein Geschäftspartner waren.

Wenn Wilbur nicht beim Einräumen der Regale half, das Lager aufräumte, die Schaufensterscheibe reinigte oder einen Stapel von Clives handgeschriebenen und fotokopierten Handzetteln verteilte, saß er in einem klimatisierten Kino. Nachdem er an drei Nachmittagen hintereinander die Die-Hard-Trilogie gesehen hatte, ging er in die Bibliothek und las alles, was es an Lektüre über Bruce Willis und seine Filme gab. Zwei Wochen später setzte er sich mit einem Berg Notizen vor dem offenen Fenster an den Küchentisch und schrieb den ersten Satz einer Biografie mit dem Titel The Life And Death Of Bruce Willis.

Gegen Abend, wenn die Hitze erträglicher wurde, durchstreifte er zu Fuß die Straßen, oft zwanzig Blocks und mehr. Manchmal setzte er sich in einen Bus, stieg irgendwo aus und erkundete fremde Quartiere. Wenn ein alter Mann auf einem Klappstuhl vor einem Haus oder einer Mauer im Schatten eines Baumes saß, zeigte Wilbur ihm das Foto seines Vaters und fragte, ob er den Abgebildeten schon einmal gesehen habe. Die Männer nahmen Wilbur in Augenschein, verwarfen den Gedanken, er sei von der Polizei, und betrachteten das Bild mal flüchtig, mal eine kleine Ewigkeit. Einige fragten, wer das sei, andere wollten wissen, ob es sich um einen gesuchten Verbrecher handle, aber keiner kannte Lennard Sandberg.

In einem der beiden Briefe, die Lennard nach Schweden geschickt hatte, erwähnte er einen Freund in Brooklyn, nannte aber weder Namen noch Adresse. Bei jedem Streifzug hielt Wilbur nach der roten Tür mit der weißen 73 Ausschau, obwohl ihm klar war, dass sie irgendwo in New York sein konnte und vielleicht längst übermalt, ausgewechselt oder samt dem dazugehörenden Gebäude verschwunden war.

Als er von einer seiner vergeblichen Suchaktionen zurückkam, lag ein Brief von Conor im Briefkasten. Wilbur setzte sich im kühlen, dämmrigen Treppenhaus auf die untersten Stufen und riss den Umschlag auf. Conor schrieb, es gehe ihm gut, obwohl unter dem neuen Direktor ein rauherer Wind in Four Towers wehe. Er bedankte sich für das Geld, das man ihm jedoch nicht ausgehändigt habe, sondern für ihn verwahre, bis er entlassen werde. Er gebe sich Mühe, nicht aufzufallen, und hoffe, bald rauszukommen und Wilbur in New York besuchen zu können.

In der Wohnung ging Wilbur unter die Dusche, während Alice kochte. Nach dem Essen spülte er das Geschirr, und Alice sammelte die schmutzigen Kleider zusammen, um sie in die Waschküche zu bringen. Dabei fiel das zerknitterte, abgegriffene Foto von Lennard Sandberg aus der Tasche von Wilburs Hose. Alice hob es auf und betrachtete es lange.

«Ist das dein Vater?«fragte sie schließlich.

Wilbur zuckte zusammen und drehte sich um. Alice sah noch immer das Bild an. Wilbur hatte mit ihr nie über seine Suche gesprochen. Er wusste, dass sie ihm angeboten hätte zu helfen, aber er wollte nicht, dass sie ihre Zeit damit verschwendete, nach jemandem zu forschen, der vermutlich längst tot war. Er zog es vor, die unvermeidliche Enttäuschung mit niemandem teilen zu müssen.

«Ja«, sagte er.

Alice setzte sich an den Tisch.»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte sie leise.

Wilbur wartete, aber Alice sagte nichts mehr, sah nur das Foto an. Er setzte sich hin, wie benommen. Durch die offenen Fenster drangen Verkehrslärm, die Rufe von Nachbarn, das Musikgewirr zahlloser Fernsehapparate und Radios. Mit der Sonne war das grelle Licht verschwunden, aber die verzehrende, von keinem Windhauch bedrohte Hitze blieb. Alice setzte sich Wilbur gegenüber an den Tisch, dann erzählte sie ihm von ihren Zusammenbrüchen und den Aufenthalten in den Kliniken. Und sie erzählte ihm von dem Mann, der ab und zu bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker aufgetaucht war.

Am nächsten Tag trafen sie Robert Brent, den damaligen Leiter der Gruppe, und zeigten ihm das Foto. Brent erinnerte sich an den schweigsamen Mann, wusste aber auch nicht mehr über ihn als das, was dieser am ersten Abend von sich preisgegeben hatte, nämlich dass er Lenny heiße und seit Jahren trinke. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lenny Wilburs Vater war, schien Alice und Wilbur groß genug, um eine Suchaktion zu starten, die über die Grenzen der von Wilbur zu Fuß und mit dem Bus durchstreiften Quartiere hinausging.

Als erstes rief Alice bei der Polizei an, danach bei sämtlichen Krankenhäusern in Brooklyn, Queens und der Bronx, und schließlich bei mehreren Ämtern. Lennard Sandberg war weder irgendwann verhaftet noch in eine Klinik eingeliefert worden, zumindest nicht im Verwaltungsbezirk von New York City, und ein Totenschein auf diesen Namen war ebenfalls nie ausgestellt worden. Die Sozialversicherungsbehörde hatte einen Lennard Arne Sandberg registriert, aber an der angegebenen Adresse in Gravesend, einem Stadtteil im Süden Brooklyns, erkannte nur einer der von Alice und Wilbur angetroffenen Mieter seinen ehemaligen Nachbarn. Der alte, mit mehreren Katzen in einer finsteren Zweizimmerwohnung hausende Mann erinnerte sich an den dünnen Schweden, der sehr still und eigenartig gewesen und vor anderthalb Jahren einfach verschwunden sei. Wohin Lennard gegangen war, wusste er nicht.

Alice und Wilbur hängten fotokopierte Plakate auf und verteilten Handzettel, von denen Lennards schmales Gesicht lächelte, als sei ihm die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, peinlich. Wilbur fuhr jeden Tag mit Bussen und der U-Bahn, er ließ Handzettel in Imbissbuden und Parks liegen und klemmte sie unter Scheibenwischer, er heftete Plakate an Wände und Bäume, zeigte wildfremden Menschen das Bild seines Vaters und hoffte in jeder Straße die rote Tür mit der Zahl 73 zu entdecken. Mit Harolds Hilfe gaben sie für achthundert Dollar ein Inserat in der New York Times auf. Es erschien an einem Freitag und verlor sich zwischen der Vermisstenanzeige für einen Perserkater und der Werbung einer Kreditfirma. Als es erschien, hatte Wilbur ein seltsames Gefühl und fragte sich zum ersten Mal seit Wochen, was er mit seinem Vater anfangen würde, wenn er ihn fände.

Den Gedanken, ihn zu erschießen, hatte er verworfen, alleine schon deshalb, weil ihm die Beschaffung einer Waffe unmöglich erschien. Wenn er den ganzen Tag unterwegs gewesen war, begleitet vom erschöpften Lächeln seines Vaters, wurde sein Hass nur noch vom Ehrgeiz übertroffen, den Gesuchten endlich zu finden, ihn zur Strecke zu bringen und Rechenschaft zu verlangen. Diese Gefühle verbarg er gegenüber Alice, die ihre Zeit und Energie in dem Glauben einsetzte, an der wunderbaren Zusammenführung von Vater und Sohn beteiligt zu sein, und eine verklärte Vorstellung davon hatte, wie sich die beiden in die Arme fallen und vor Glück weinen würden.

Eine paar Leute meldeten sich telefonisch bei ihnen und behaupteten, Lennard Sandberg gesehen zu haben. Alice und Wilbur gingen jedem Hinweis nach, fuhren nach Queens und in die Bronx und einmal bis nach Newark, um die Anrufer zu treffen. Ein als Hobbydetektiv tätiger Vietnamveteran brachte sie zu einem Mann, der entfernt wie Lennard aussah, aber zwanzig Jahre älter war und seine verbleibenden Tage in einem städtischen Altersheim und geistiger Umnachtung hinter sich brachte. Mehrmals wurden sie zu einer Gruppe von Obdachlosen geführt, unter denen sich Lennard angeblich befand. Eine alte Frau behauptete, ihr eigener Sohn, der bei ihr im Keller wohnte und Tiere ausstopfte, sei der Gesuchte. Eine Krankenschwester glaubte sich an ein Unfallopfer zu erinnern, ein Hausmeister an einen ehemaligen Mieter, ein Drogeriebesitzer an einen Kunden. Viele fragten am Telefon nach einer Belohnung und legten auf, wenn Alice ihnen im Erfolgsfall hundert Dollar anbot. Angeber riefen an und Spinner, verwirrte Seelen und Säufer, Leute, die reden wollten und selber verzweifelt jemanden suchten, Menschen, die es gut meinten und Psychopathen, hilfsbereite Bürger, pensionierte Polizisten, gelangweilte Hausfrauen und Tage diebe, die auf eine Tasse Kaffee und ein paar Dollar aus waren.

Aber keiner von ihnen wusste, wo Lennard Sandberg war. Die Anrufe und hinterlassenen Nachrichten wurden weniger, ganze Wochen vergingen, ohne dass sich neue vermeintliche Zeugen meldeten. Die Treffen verkamen zu grotesken Schauspielen, zu peinlichen Wiederaufführungen vergangener Misserfolge. Wilbur kam es vor, als stolpere er über die ewig gleichen Bühnen, als höre er dieselben schüchtern gestammelten und wichtigtuerisch deklamierten Texte immer wieder, als sei sogar seine Reaktion auf die unausbleibliche Enttäuschung inzwischen einstudiert und flach, Teil einer miesen, abgeschmackten Inszenierung.

Alice wurde müde und zunehmend mutlos, aber aufzugeben kam für sie nicht infrage. Sie hatte diese Suchaktion angeregt und vor, sie erst an dem Tag zu beenden, an dem Lennard Sandberg gefunden war. Wenn abends oder nachts das Telefon klingelte, musste sie sich dazu zwingen, den Hörer abzuheben und mit diesen fremden Menschen zu sprechen und für den nächsten Abend ein Treffen an irgendeiner Straßenecke, in einer Kneipe oder Wohnung zu vereinbaren, als handle es sich um eine Verabredung zweier Krimineller oder verklemmter Zeitungsinserenten. Wurde sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt, blieb sie erst liegen und dachte daran, das Telefon diesmal klingeln zu lassen, sprang dann aber doch aus dem Bett und hörte sich eine neue Geschichte voller Versprechungen, Ungereimtheiten und schicksalhafter Fügungen an, notierte sich einen Namen und eine Adresse und versprach zu kommen. Sie schlief immer schlechter und widerstand der Versuchung, etwas zu trinken. Ihre Träume wurden kurz und farblos, und Lennard Sandberg kam in ihnen nicht mehr vor.

Bald fuhr Wilbur nur noch jeden zweiten Tag in irgendeinen Stadtteil, um Zettel zu verteilen, Plakate aufzuhängen und schläfrigen Männern das Foto unter die Nase zu halten. Er war die Hitze und die mürrischen Passanten leid, er mochte nicht mehr Ladenbesitzer um Erlaubnis bitten, ein Plakat anzubringen, er ertrug es nicht mehr, die Frage zu beantworten, warum er den Mann auf dem Foto suchte, weil er es selber nicht mehr wusste. Im Oktober, dem alles Herbstliche fehlte, half er Alice im Reformkostladen, saß auf dem Gehsteig unter einem Sonnenschirm und bediente eine Maschine, in deren Bauch ein träges Rührwerk organisches Zitroneneis bewegte.

Trevor und Clive befanden sich auf einer Kreuzfahrt für pflegebedürftige Senioren in der Karibik, ihrer letzten Reise, wie sie in einem Zustand kindlicher Vorfreude und leiser Panik orakelt hatten. Nachdem Clive ein neues Hüftgelenk eingesetzt worden war, erholte er sich nur sehr langsam, und kaum war er wieder halbwegs auf den Beinen, entdeckten die Ärzte bei Trevor Altersdiabetes. Obwohl weder Clives zögerliche Genesung noch Trevors überraschender Befund in irgendeiner Weise besorgniserregend waren, meinten die beiden den Hauch des Todes zu spüren. Bevor sie nach Miami flogen, wo das Lazarettschiff, wie sie es scherzhaft nannten, auf sie wartete, übertrugen sie Alice feierlich die Verantwortung für den Laden und händigten ihr neben den Schlüsseln einen Umschlag aus, den sie öffnen sollte, falls beide nicht lebend zurückkehren sollten.

Doch statt Todesnachrichten trafen Postkarten aus Antigua, Barbados und Saint Lucia ein, die Alice an die Wand neben der Kasse pinnte. Sie führte im Laden einige Änderungen ein, nahm Naturheilmittel und Fleisch aus artgerechter Haltung ins Sortiment auf und gewann dadurch neue Kundschaft. Sie brachte Ordnung in die Regale und befreite den Lagerraum von Kisten mit leeren Einmachgläsern, vergilbten Prospekten und längst abgelaufenen Produkten. Trevors und Clives Tradition, den Laden am Mittwoch geschlossen zu halten, hob sie auf und verlängerte die abendliche Öffnungszeit um eine Stunde. Trotz dieser Belastungen opferte sie ihre Sonntage, um Wilbur bei dem, was sie für seine Lebensaufgabe hielt, zu helfen. Innerlich hatte sie schon lange resigniert, erschöpft und von der Illusion befreit, jemals Zeugin des Wunders der Zusammenführung zu werden.

Im November betraten zwei braungebrannte ältere Männer den Laden, die unter ihren Mänteln bunte Hawaiihemden trugen und von Schnorchelkursen, durchtanzten Nächten und, kaum waren sie mit Wilbur alleine, von meerjungfraugleichen Pflegerinnen und guterhaltenen, ohne Begleitung reisenden Seniorinnen schwärmten. Die Lungen voller Seeluft und betörendem Parfüm, stellten sich Trevor und Clive hinter den Ladentisch, pfiffen Salsamelodien und schickten Alice zur Erholung für eine Woche nach Hause. Sie wollten wissen, wie die Suche nach Wilburs Vater verlaufen war, und schlugen vor, eine Belohnung auszusetzen, eine Art Finderlohn. Aber Wilbur lehnte dankend ab, obwohl ihm die Vorstellung gefiel, seinen Vater auf den Plakaten wie einen Verbrecher oder entlaufenen Hund darzustellen.

Im letzten Monat des Jahres flog Alice nach London, um zwei Wochen bei Harold, Louise und George zu verbringen. Nach tagelangem Ringen und der Heraufbeschwörung faszinierender Fahrten in roten Bussen und Besuchen atemberaubender Ausstellungen hatte sie es aufgegeben, Wilbur zum Mitkommen zu bewegen. Als Grund, New York nicht zu verlassen, gab Wilbur an, die Suche nach seinem Vater fortsetzen zu wollen. In Wahrheit hatte er schon vor Wochen die letzten Handzettel auf einer Bank im Juniper Valley Park in Queens liegenlassen und nicht vor, noch mehr Zeit mit der Jagd nach einem Phantom zu vergeuden.

Die beiden Wochen ohne Alice verbrachte er in der Wohnung, wo er schlief und las und fernsah und es schaffte, sich mit Reformkost ungesund zu ernähren, und in der Bibliothek, wo er an seiner Bruce-Willis-Biografie arbeitete. Zweimal pro Woche half er einen halben Tag im Laden, packte frische Waren aus, klebte Preisschilder darauf und räumte sie in die Regale. An Heiligabend luden ihn Trevor und Clive zum Essen bei sich zu Hause ein und schenkten ihm einen Schal, eine CD von Billie Holiday und eine Erstausgabe von Wer die Nachtigall stört, Trevors Lieblingsbuch. Drei Tage später sah Wilbur sich zu Hause einen Film mit Winona Ryder an und dachte über die beschämende Tatsache nach, dass er noch Jungfrau war. Sein spätnachts gefällter Entschluss, sich zu betrinken und zu einer Prostituierten zu gehen, endete in Demütigung und Reue.

Nach weiteren drei Tagen kam Alice aus London zurück. An Silvester aßen sie in einem chinesischen Restaurant in der Nähe der Wohnung und fuhren danach mit der U-Bahn nach Manhattan, wo sie um Mitternacht zusahen, wie am Times Square die Kristallkugel herabsank. Sie umarmten einander, Alice weinte völlig überdreht, dann tränkten die explodierenden Farben des Feuerwerks den Himmel, erleuchteten für Sekunden die Zukunft und sanken erlöschend zwischen die Häuser.

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