Last Man Standing, 1996

Wilburs Reise in die Geschichte seiner Eltern wurde mit Hausarrest auf unbestimmte Zeit bestraft. Artikel über seine Teilnahme am Musikwettbewerb und sein Verschwinden schafften es bis in die irischen Zeitungen, und Pauline schien der Welt beweisen zu wollen, dass sie und Henry ihre Rolle als Erziehungsberechtigte ernst nahmen und durchaus in der Lage waren, dem Jungen seine Grenzen aufzuzeigen. Um sicherzustellen, dass er die Stunden zwischen Schulschluss und Zubettgehen nicht sinnlos vertrödelte, trug sie Wilbur die Abschrift eines zweihundert Seiten dicken Buches mit dem Titel Bibelzitate für den Hausgebrauch auf. Er durfte Colm nicht mehr im Altersheim besuchen, und obwohl sie sich des therapeutischen Wertes der Cellolektionen bewusst war, verbot sie ihm auch den Kontakt zu Matthew.

Nach zwei Wochen plädierte Henry für eine Lockerung der Haftbedingungen, aber seine Frau wollte nichts davon hören. Sie rechtfertigte ihre Unnachgiebigkeit mit der Behauptung, während Wilburs Unauffindbarkeit Todesängste ausgestanden zu haben. Damit meinte sie, dass sie in jenen Tagen der Ungewissheit sowohl um das Leben ihres Ziehsohnes gefürchtet hatte als auch um das eigene, das, so behauptete sie, bei jedem Klingeln des Telefons mit dem Aussetzen ihres vor Sorge geschwächten Herzens hätte enden können. Pauline brachte Wilbur jeden Morgen zur Schulbushaltestelle und holte ihn von dort wieder ab, sie wollte täglich drei Seiten Abschrift sehen, und als ein Brief aus Nora kam, in dem Sune Nordahl sich nach Wilburs Befinden erkundigte, las sie ihn beim Abendessen vor, verkündete jedoch, rosig glühend vor Selbstgefälligkeit und fürsorglicher Strenge, ihn bis zur Beendigung des Arrests zu behalten.

Wilbur ertrug die Bestrafung ohne Klage. Nach dem Scheitern seiner Suche betrachtete er das ganze Leben als Abfolge von Bestrafungen. Er ging zur Schule, wo er gedankenverloren Bestnoten schrieb und das Stigma des Wunderkindes gleichgültig ertrug. An den schulfreien Nachmittagen, den Abenden und Wochenenden saß er am Pult in seinem Zimmer und schrieb, nachdem er die Hausaufgaben erledigt hatte, Sätze wie:»So freu dich, Jüngling, in deiner Jugend, und lass dein Herz guter Dinge sein. Tue, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt, und wisse, dass dich Gott um dies alles wird vor Gericht führen «und:»Wer sein Leben liebt, der wird es verlieren, und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird es erhalten zum ewigen Leben. «Nachts lag er schlaflos da und fragte sich, ob er dazu verdammt sei, nie sterben zu dürfen, weil er sein Leben hasste. Orla hatte ihr Leben geliebt und war tot. Bestimmt hatte seine Mutter ihr Leben geliebt. Sie hatte sich auf ihn gefreut, das wusste er von Sune. Musste er lernen, sein Leben zu lieben, um es zu verlieren?

Manchmal holte er das Foto aus dem Versteck und betrachtete es, bis es in seine Träume hinüberglitt. Wenn er nachts aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, las er die beiden Briefe, die sein Vater aus New York an Sune geschrieben hatte. Er roch an den dünnen, knisternden Luftpostumschlägen, betrachtete die Briefmarken, bis sie vor seinen Augen verschwammen, strich mit den Fingerspitzen über das Papier und folgte jedem Bogen und jedem Schnörkel der Buchstaben. Er setzte sich im Mondlicht an den Tisch und imitierte die Schrift seines Vaters. Er folgte mit schwarzer Tinte den Sätzen, die dem fernen, dem einzigen Freund gegenüber Zuversicht vortäuschten und zwischen denen, in der fleckigen, zerknitterten Leere des Papiers, blanke Verzweiflung stand. Während er schrieb, wurde er für eine kurze, schlaftrunkene Zeit zu seinem Vater und glaubte, in der Nachahmung der Schlingen und Haken etwas von dessen Schmerz zu spüren, dem Schmerz über die verlorene Frau und darüber, aus den Bahnen des Lebens gefallen zu sein.

«Ich weiß, du würdest mir viele Gründe nennen, weshalb es sich gegen den Untergang zu kämpfen lohnt, ich kenne sie, und mich daran zu erinnern bricht mir das Herz. Aber es ist zu spät, mir fehlt es an allem, auch an der Kraft, für jemanden wieder ein ganzer Mensch zu werden. «Diese beiden Sätze schrieb Wilbur immer wieder, verworrene Linien auf brennbarem Material. Seite um Seite füllte er damit, Nacht um Nacht, das Zittern der Hand seines Vaters übernehmend. War er einmal einer der Gründe gewesen, für den es sich zu kämpfen gelohnt hätte, war er dieser Jemand, für den sein Vater wieder ein Mensch geworden wäre, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte?

Ja, der war er. Dieser Jemand musste er sein.

Als Pauline ihm sagte, Colm sei gestorben, rannte Wilbur aus dem Haus. Das war in der vierten Woche seiner Verbannung, in der Hälfte des Buches, in einer zeitlosen Zeit. Es regnete, der Tag war zu Ende und mit ihm die Arbeit des Lichts und das wenige Treiben auf den Straßen. Ed Mulqueen sah ihm aus dem gelb erleuchteten Viereck seines Schaufensters nach, Miss McNamara machte ihm erschrocken Platz, ein Auto, vor dem er über die leere Kreuzung hetzte, hupte, aber er hörte es nicht. Was er am Leib trug, war durchnässt, einen Hausschuh hatte er verloren, den zweiten weggeworfen. In Strümpfen platzte er in den Empfangsraum des Altersheims, hinterließ Pfützen auf der Treppe und stürzte in das Zimmer, das schon leer war, ausgeräumt für den nächsten. Er rief Colms Namen, schrie ihn, über den Flur rennend, die Treppe hinunter, ziellos, stürzend und sich aufrappelnd und aufgehalten schließlich von einem Pfleger, der breit und weiß war wie eine Wand und ihn festhielt. Eine der Pflegerinnen kam dazu, Julia Nesbitt. Sie kannte Wilbur und wusste, warum er hier war und nicht aufhören konnte, diesen Namen zu rufen, und warum er vor dem Pfleger auf den Boden sank und sich einrollte. Und sie ahnte, warum der Junge, der früher so oft gekommen war und den sie seit über einem Monat nicht gesehen hatte, keuchend und zitternd auf den Fliesen lag und nicht weinen konnte.

Ein Arzt, der auf Visite bei den Pflegefällen war, gab Wilbur ein Beruhigungsmittel. Der Junge wurde im Büro der Leiterin auf eine Wolldecke gelegt, wo er im Halbschlaf leise wirres Zeug stammelte. Pauline und Henry holten ihn ab, noch bevor jemand sie anrief. Pauline hielt Wilburs linken Pantoffel in der Hand, der am Straßenrand im Lichtkegel des Scheinwerfers aufgetaucht war, und konnte sich nichts erklären. Henry trug den Jungen ins Auto, mehrmals versprechend, die Decke gleich am nächsten Tag zurückzubringen. Zu Hause gab es heißen Tee mit Honig und zwei zerstoßenen Schlaftabletten, und Wilbur wachte bis zum Morgen kein einziges Mal auf.

Im Traum ritt er hinter Orla und Colm durch eine Stadt, deren Straßen aus Muscheln waren. Er wollte mit Orla reden, aber weder sie noch Colm hörte ihn. Sein Pferd blieb stehen, und Orla und Colm verschwanden im Licht, das durch ein Tor fiel. Wilbur rief den beiden nach, immer wieder.

Der halbe Ort kam zu Colms Begräbnis. Er hatte keine Verwandten gehabt, jedenfalls keine, die man hätte verständigen können. Eine Handvoll Männer in seinem Alter gab vor, seine Freunde gewesen zu sein, aber weder Wilbur noch Julia Nesbitt hatte jemals einen von ihnen im Altersheim gesehen. Leute, die Colm gemocht hatten, gab es reichlich, und sie alle standen an seinem Grab. Der Postbote, der Bäcker, der Futterhändler, die Heimleiterin, zwei der Pflegerinnen, Seamus Dougherty, der Tierarzt, Una O’Connell, die ihm alle zwei Jahre eine Hose verkauft hatte, John McGrath, der sich mit der Reparatur vorsintflutlicher Traktoren auskannte, Liam Doyle, in dessen Laden sich alle möglichen Dinge fanden, auch Bücher. Einige weinten, als der Pfarrer den Menschen Colm Finnerty heraufbeschwor.

Wilbur sah zu, wie der Sarg an zwei Seilen in die Grube gelassen wurde. Er weinte nicht. Sein Körper fühlte sich unendlich schwer an, zwei Klauen drückten seine Brust zusammen, in seinem Kopf brannte es. Pauline hielt sich im Hintergrund. Leichenblass stand sie im Rücken angetrunkener Bauern, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Henry hätte seine Hand auf Wilburs Schulter legen können, aber er tat es nicht. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wolken verweilten und zogen weiter.

Der Hausarrest wurde aufgehoben, vielleicht auch einfach vergessen. Zu Hause redete Wilbur nicht mehr, in der Schule schwieg er, wann immer es ging. Er durfte wieder zu Matthew, aber es war nicht mehr wie vorher. Wenn Wilbur versuchte, auf dem Cello zu spielen, gelang es ihm nicht, die Töne waren falsch. Er hatte in Göteborg nicht gewonnen, das Stipendium erhielt der Junge aus Waterford. Die Entscheidung war knapp gewesen, und an der Feier waren Wilbur von verschiedenen Seiten Stipendien und Plätze an Musikschulen angeboten worden. Ein französischer Fernsehsender plante eine Dokumentation über junge Musiker und wollte nach Irland kommen, um ein Porträt von Wilbur zu drehen, aber er hatte abgelehnt. An jenem Abend in Göteborg wusste er nicht, wo er in einer Woche, einem Monat sein würde. Da wurde er noch von der Hoffnung getrieben, seinen Vater zu finden, und alles andere, auch seine Freundschaft mit Colm und Matthew, musste dahinter zurücktreten. Jetzt war er wieder da, der kurzzeitig abhanden gekommene Ziehsohn, der Schüler, der Gefährte auf dem letzten Weg, der Gescheiterte. Er hatte das Gefühl, etwas erklären, wiedergutmachen zu müssen, wusste aber nicht, wie. Im Exil seines Zimmers hatte er wirre Briefe an Matthew geschrieben, Seiten voller Entschuldigungen und hilfloser Rechtfertigungen, die er nie abschickte.

Am Tag nach Colms Beerdigung, als er Matthew Fitzgerald zum ersten Mal seit seiner Reise nach Schweden wiedersah, saßen sie in Matthews Wohnzimmer und tranken Tee. Wilbur, der sich seinem Freund und Lehrer gegenüber als Verräter fühlte, erzählte stockend von seinen Beweggründen, während die Katze ihn argwöhnisch beobachtete. Matthew hörte ruhig zu und zeigte dann weder Missbilligung noch Enttäuschung oder gar Zorn. Er hatte mit vierundzwanzig Jahren Mutter und Vater verloren und verstand sehr gut, warum Wilbur der Spur aus den Briefen gefolgt war. Er fühlte sich nicht ausgenutzt oder getäuscht, weil er Wilbur das Cellospiel beigebracht hatte. Wilbur hatte das Instrument lange vor der Entdeckung der Briefe beherrscht, seine Liebe zur Musik konnte unmöglich vorgetäuscht, keinesfalls Teil eines Plans gewesen sein. Nach Wilburs Beichte benutzte Matthew sogar Begriffe wie Schicksal und Bestimmung, und Wilbur nickte verlegen dazu, wohl wissend, dass der während seines dreitägigen Verschwindens vor Kummer gealterte Mann keine Erklärungen suchte, sondern Trost. Vielleicht, meinte Matthew, habe Wilburs außergewöhnliche Begabung ihren Zweck erfüllt, indem sie ihm zu einem Flug nach Schweden verholfen hatte. Vielleicht sei die kurze Zeit, in der Wilbur vom Anfänger zum Virtuosen katapultierte, nur die Vorbereitungsphase für diese Suche gewesen. Vielleicht habe Wilburs unermessliches Talent einzig dazu gedient, der Erfüllung einer Vorsehung den Weg zu bereiten, um dann möglicherweise vergessen zu werden, zu verkümmern, in der Stille zu versinken, aus der sie geweckt worden war.

Wilbur wusste die Antwort nicht, und Matthew rang ihm keine Versprechen, keine Vermutungen ab. Er sah, wie der Junge sich unter der Bürde der Ereignisse krümmte, wie er die fehlgeschlagene Fahndung nach dem Vater und Colms Tod zu verkraften versuchte, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er ihm nicht helfen konnte.

Die Tage flossen zäh dahin, und dann passierte alles so plötzlich, dass Wilbur sich an keine Einzelheiten erinnerte. Eine Woche war seit Colms Tod vergangen, und noch immer sprach er weder mit Pauline noch mit Henry. Pauline glaubte es mit einer Phase zu tun zu haben, deren Ende absehbar war. Sie kannte sich mit verstockten, rebellischen Teenagern aus, Gott war ihr Zeuge. Sie kochte noch mehr als früher, bestand aber nicht mehr darauf, dass Wilbur seinen Teller leerte, sie kaufte ihm Kassetten mit klassischer Musik, und manchmal, nachmittags, wenn Henry nicht da war, legte sie sich auf ihr Bett und weinte.

Mitten in der Woche ging sie zur Kirche, aber nicht einmal dort konnte sie sich zu der Frage überwinden, was sie möglicherweise falsch gemacht hatte. Sie zündete Kerzen an, eine für Wilburs Seelenheil, zwei für das eigene. Sollte sie etwa beichten, dass sie einen sechzehnjährigen Jungen gemaßregelt hatte, einen Heimlichtuer, Ausreißer und Lügner? Der Pfarrer würde sie auslachen. Wilbur hatte die Strafe verdient.»Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen und nicht in Deinem Grimm, auf dass Du mich nicht aufreibest. «Jeremia, Kapitel 10, Vers 24. Sie hatte Wilbur mit Maßen gezüchtigt, und sie hatte es aus Pflicht ihm gegenüber getan, zu seinem Wohl und nicht im Zorn. Die Zeit allein in seinem Zimmer sollte dem Jungen die Möglichkeit geben, nachzudenken und mit sich und seiner Geschichte, seiner Herkunft ins Reine zu kommen. Sein Schweigen würde er bald beenden und ein neuer Mensch sein, gestärkt und geläutert, davon war Pauline überzeugt.

Henry war einfach nur ratlos. Er war Kummer mit Kindern, den eigenen und angenommenen, gewohnt. Er wusste, wie man einen Jungen nach einem verlorenen Fußballspiel aufmunterte oder was ein Mädchen hören wollte, das sich hässlich fühlte. Aber er hatte keine Ahnung, was er Wilbur sagen sollte. In all den Jahren hatte er den Jungen nie wirklich erreicht, obwohl er sich mehrmals bemüht hatte. Einen Kontakt zu dem jungen Burschen herzustellen, der noch immer aussah wie ein Kind, erschien ihm unmöglich, vor allem nach der Sache in Schweden. Die Bestrafung, die seine Frau über den Ziehsohn verhängt hatte, war ihm zu Beginn als angemessen erschienen, aber nach Colms Tod und Wilburs endgültigem Verstummen bereute er, nicht vehementer für eine vorzeitige Aufhebung des Hausarrests eingetreten zu sein.

In letzter Zeit saß Henry oft in seinem Büro in der Bank und sah auf eine leere Stelle an der gegenüberliegenden Wand. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es war, jung zu sein, warum er Kreditanträge behandelte, statt in Afrika nach Fossilien zu suchen, wann es ihm das letzte Mal gelungen war, sich gegen seine Frau durchzusetzen. Im Geist ging er Jahre zurück, Jahre des Gleichmuts, der Duldsamkeit. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zwei unbedeutende, lächerliche Triumphe über Pauline ins Gedächtnis zu rufen. Der erste war, als er Wilbur erlaubte, ihn bei der Ausräumung von Colms Haus zu begleiten, der zweite, als sie zu Eamon McDermott ins Heim unterwegs waren und er statt rechts, wie es Pauline wollte, links abbog. Dass er sich trotzdem verfahren hatte, spielte dabei keine Rolle.

So saß Henry bis zum Abend in seinem Stuhl und schämte und bemitleidete sich, bis das Telefon schrillte und seiner halbherzigen Selbstbefragung ein Ende bereitete.

Als er sich seinem Haus näherte, stieg ihm von Weitem der Rauch in die Nase. Er musste auf der Straße anhalten, weil zwei Polizeifahrzeuge in der Einfahrt standen. Der junge Patrick O’Leary klärte ihn über die Lage auf. Die Feuerwehr habe den Brand gelöscht und die Ambulanz Wilbur weggebracht. Es sei Schaum eingesetzt worden, kein Wasser, der Sachschaden deshalb gering. Henry fand Pauline in der Küche, wo sie zitternd einem Polizisten Auskunft gab. Sie fiel ihrem Mann in die Arme und ließ einen zweiten Weinanfall zu. Der Polizist, Ari Tikkanens Schwiegervater, erzählte ihm, Wilbur habe die Vorhänge seines Zimmers angezündet, die Feuerwehrmänner hätten ihn bewusstlos auf seinem Bett gefunden. Henry setzte sich. Paulines Hände umklammerten seinen rechten Unterarm. Der Polizist schilderte den Verlauf des Schwelbrandes, der in den Vorhängen, dem Bettvorleger und einer mit Kleidungsstücken gefüllten Kommode zu wenig Nahrung gefunden hatte, um sich richtig auszubreiten.

Henry hörte nicht zu. Er wusste plötzlich, warum er seine Söhne und Töchter und sogar die vom Schicksal so ungerecht behandelten Pflegekinder immer heimlich beneidet hatte. Weil sie an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben die Wahl gehabt hatten, ihre paar Sachen zu packen und dieses Haus zu verlassen. Weil trotz aller Widrigkeiten und falsch gestellter Weichen eine Zukunft vor ihnen lag, auf die diese Frau, die jetzt um Fassung rang und schluchzend Wörter wie Brandstiftung und Mordversuch hervorstieß, keinen Einfluss mehr hatte. Sogar Wilbur beneidete er, wie verzweifelt dessen Lage auch sein mochte.

Henry saß da und nickte, aber in Gedanken war er bereits weit weg.

Wilbur wachte mitten in der Nacht auf. Er öffnete die Augen, blinzelte ins Dunkel. Sein Kopf tat weh, seine Lungen schmerzten, wenn er atmete. Ein dünner Schlauch ragte aus seiner Nase, ein anderer aus seiner Armbeuge. Rauch war in seinem Körper, er konnte ihn riechen, schmecken. Wilbur erinnerte sich daran, was passiert war. Er setzte sich auf, schlug die Bettdecke zurück und tastete mit den nackten Füßen nach dem Boden. Eine Weile saß er auf der Bettkante und starrte vor sich hin. Durch ein Fenster fiel, von einem Vorhang gedämpft, schwaches Mondlicht in den Raum, unter einer Tür leuchtete ein Streifen gelber Helligkeit. Wilbur hörte Atemgeräusche, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er zwei Betten, von denen das eine belegt schien. Er zog vorsichtig am Schlauch, der aus seiner Nase hing, ließ ihn dann aber, wo er war. In seinem Rücken ertönte ein Ächzen, und als Wilbur sich umdrehte, sah er ein weiteres Bett. Ein schlafender Mann lag darin, dessen hell schimmerndes Gipsbein, von Seilzügen gehalten, schräg zur Decke hin ragte. Wilbur hustete, und als der Anfall heftiger wurde, legte er sich hin und bedeckte das Gesicht mit dem Kissen.

Irgendwann kam die Nachtschwester und sah nach den Patienten. Sie ließ die Tür zum Flur offen, von wo Licht hereinfiel. Wilbur war wach und fragte flüsternd, warum er hier sei. Die Schwester, eine alte Frau mit tiefer Stimme und kalten Händen, sagte etwas von Rauchvergiftung und gab Wilbur eine Tablette und lauwarmen Tee aus einer Schnabeltasse. Wilbur wollte wissen, ob das Haus der Conways noch stand, aber das wusste die Schwester nicht.

Drei Tage später wurde Wilbur aus dem Krankenhaus entlassen und in einem vergleichsweise gemütlichen Nebengebäude einer Nervenklinik im County Galway einquartiert. Nach einer schlaflosen Nacht musste er die Fragen eines Psychologen beantworten, der ein Gutachten erstellte. Wilbur machte sich gar nicht erst die Mühe, den Eindruck eines normalen Jugendlichen zu vermitteln. Er wusste inzwischen, dass das Feuer lediglich sein ehemaliges Zimmer verwüstet und sonst keinen Schaden angerichtet hatte, sah man davon ab, dass Pauline Conways Ruf als untadelige Pflegemutter endgültig ruiniert war. In seinem Bericht beschrieb der Psychologe, ein ehrgeiziger Mann mit einem Hang zu grellbunten Krawatten und Einstecktüchern, Wilbur als seelisch instabilen, in höchstem Maße verunsicherten Jugendlichen, dessen durch den Verlust der Eltern traumatisierte Kindheit Potential für selbstzerstörerische Akte bot, wobei Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Personen seines Umfeldes nicht auszuschließen seien, wie die Brandstiftung deutlich gezeigt habe. Die außergewöhnliche Intelligenz und musikalische Begabung des Jungen seien Ausdruck einer extremen Introvertiertheit mit einer Tendenz zum Manisch-Depressiven, zudem verhindere sein Außenseiterstatus in der Schule sowohl die Entwicklung eines gesunden Charakters als auch die in diesem Alter so wichtige soziale Integration. Er sprach sich für eine Verwahrung mit Arbeitseinsatz und therapeutischer Betreuung aus, wobei er ein Strafmaß von mindestens drei und höchstens sechs Monaten für gerechtfertigt hielt.

Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Sozialarbeiterin, die mit Wilburs Fall betraut war. Nach einem Besuch bei Pauline, die ihren Ziehsohn als verschlossen und unberechenbar bezeichnete, unterstützte sie den Antrag des Psychologen, und Wilbur wurde in die Jugendbesserungsanstalt Four Towers in der Nähe von Sligo eingewiesen.

Four Towers war bis zum Jahr 1963 eine Fabrik gewesen, in der Tweed- und Leinenstoffe hergestellt worden waren. Die meisten der Jungen, die dort einsaßen, waren kleine Lichter, was ihre kriminelle Vergangenheit betraf. Sie verbüßten Strafen für Ladendiebstahl und Sachbeschädigung, Fahren ohne Führerschein, Prügeleien und etwas, das auffälliges Sozialverhalten genannt wurde. Einige hatten ihre Väter, Lehrer und Chefs tätlich angegriffen, andere waren notorische Schulschwänzer und machten aus purer Langeweile ihre Wohngegend unsicher, fuhren auf Zugdächern und setzten Autos gegen Wände. Es gab Tierquäler und Steinewerfer, Maulhelden, Spanner, Randalierer, es gab Ausgestoßene, Missbrauchte, Täter und Opfer und angehende Verbrecher und Verlorene, und alle waren sie halbe Kinder, zu alt für Ohrfeigen und Nachsitzen und zu jung für richtige Gefängnisse.

Als die Fabrik nach Jahren des Verfalls zu ihrer heutigen Funktion umgebaut worden war, hatten die Verantwortlichen weniger das Wohl der zukünftigen unfreiwilligen Bewohner im Auge gehabt als die Zweckdienlichkeit der Anlage und geringe Baukosten. Im dreistöckigen Hauptgebäude waren neben dem Büro des Direktors und den Unterkünften für die Wachmänner die Waschräume, die Küche, der Speisesaal und die Schlafsäle der Zöglinge untergebracht. Es gab weiß getünchte, bilderlose Wände, polierte Holz- und Steinfußböden, Reihen zentimetergenau ausgerichteter Tische und Bänke, hohe Räume mit Betten aus Eisenrohr und lange, düstere Flure, in denen auch an heißen Sommertagen gruftige Kühle herrschte.

In zwei Nebenbauten befanden sich die Werkstätten, wo die jugendlichen Straftäter Weidenkörbe flochten, Leiterwagen bauten, Traktoren reparierten und sonstige Fronarbeiten verrichteten, um dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Weil es im Winter in den unbeheizten, zugigen Holzbaracken zu kalt wurde, diente zwischen November und April der riesige Raum im Erdgeschoss als Werkstatt. Dort froren die Jungen etwas weniger und stellten Mause-, Ratten- und Maulwurfsfallen her. Gleich daneben lag die Krankenstation mit vier Betten und einem Behandlungsraum. Als Schwestern auf Abruf standen die Köchin und die Sekretärin des Direktors zur Verfügung, die jedes Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen mussten und bei Notfällen einen Arzt aus Sligo oder die Ambulanz kommen ließen. Verletzte sich einer der Jungen ernsthaft, aber nicht lebensgefährlich, brachte ihn der Direktor in seinem Privatwagen ins Krankenhaus nach Sligo, weshalb auf der Rückbank des Range Rover stets eine Wolldecke und Mullbinden lagen. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte Robert Moriarty getroffen, nachdem ein Junge, dem beim Sägen plötzlich zwei Finger fehlten, die Polster vollgeblutet hatte.

Im Schatten des Hauptgebäudes war ein Stück Rasen, das nicht betreten werden durfte und durch das ein schmaler Kiesweg zu einer Kapelle führte. Darin saßen jeden Sonntagmorgen etwa einhundertzwanzig Jungen auf harten Holzbänken und hingen ihren Gedanken und Träumen nach, während ein Pfarrer aus der Gegend ihre noch nicht gänzlich verlorenen Seelen zu erreichen versuchte oder ihnen versicherte, dass Gott ihre Sünden nicht ungeahndet ließ.

Die vier Türme, die der Institution ihren Namen gaben, waren 1972 errichtet worden, wenige Wochen nachdem es fünf Insassen gelungen war, am helllichten Tag über die Hofmauer zu klettern. Obwohl die Flüchtigen nur Stunden später gefasst wurden, veranlassten die zuständigen Stellen den sofortigen Bau der Wachtürme. Vor diesem Ereignis war die Anstalt nach einem Hügel benannt gewesen, dem Knockalongy, den man bei klarem Wetter in der Ferne erkennen konnte.

Als Wilbur durch das Fenster des Autos blickte, das ihn nach Four Towers brachte, sah er im verwaschenen Licht des frühen Tages einen dunklen Klotz aus Backstein in einem flachen Feld stehen. Die vier Türme waren aus Holz, im Zentrum ihrer Balkenkonstruktion verlief im Zickzack eine Treppe, über die man auf den geschlossenen, mit einem Suchscheinwerfer ausgestatteten Ausguck gelangte. Wolken hingen tief über dem Land, ein Nieselregen trübte die Sicht, sodass Wilbur keine Wachmänner ausmachen konnte. Der Fahrer des Wagens, ein junger Polizist aus Letterkenny, hatte im Radio einen Sender mit Popmusik eingestellt, um den verloren auf der Rückbank sitzenden Jungen aufzumuntern.

Aber Wilbur tauchte nur einmal aus seinem Dämmerzustand auf, als Sinéad O’Connor Nothing Compares To You sang. Er weinte, und der Beamte sah in den Innenspiegel und sagte, er solle die Sache nicht so schwernehmen, Four Towers sei kein richtiges Gefängnis und Wilbur werde bestimmt bald wieder draußen sein. Dann hielten sie am Haupttor an, und der Polizist stieg aus, um zu klingeln und Wilburs Überweisungspapiere einem Mann in Uniform auszuhändigen, der durch eine kleine Tür neben dem Tor getreten war. Wilbur weinte nicht mehr. Er saß mit geschlossenen Augen da, hielt in der einen Hand den reitenden Indianer fest und in der anderen Colms Nashorn und wartete ab, was geschehen würde.

Als erstes musste Wilbur sich beim Direktor melden. Ein Wärter brachte ihn zum Büro, wo Miss Rodnick, die Sekretärin, eine Weile seine Akte studierte, bevor sie ihn zu ihrem Chef ließ. Robert Moriarty war ein stiller, nachdenklicher Mann Mitte fünfzig, der Opern liebte und Tauben züchtete. Er hatte dunkelbraunes, dichtes und für seine Position etwas zu wirres Haar und ging an einem Stock, seit er sich als Kind bei einem Sturz vom Dach die Hüfte gebrochen hatte. Seine Stimme war tief, er sprach langsam und machte an den unerwartetsten Stellen lange Pausen, während denen er an etwas ganz anderes zu denken schien.

Die Einrichtung des Büros war spartanisch, woran auch das Ölgemälde nichts änderte, das an der Wand hinter dem Schreibtisch hing und eine Wiese mit Pferden zeigte, über denen Sonnenstrahlen durch einen Gewitterhimmel drangen. Four Towers wurde durch Steuergelder und Spenden finanziert, und Moriarty fiel es nicht im Traum ein, auch nur einen Teil dieses Geldes für eine neue, modernere Büroausstattung auszugeben. Einen Perserteppich, eine mit Intarsien verzierte Kirschholzkommode, die eine Bar enthielt, und zwei weitere Ölgemälde hatte er gleich nach seinem Amtsantritt durch einen Antiquitätenhändler in Dublin verkaufen lassen und den Erlös zur Anschaffung neuer Kochherde benutzt. Anders als sein Vorgänger, betrachtete Moriarty Bescheidenheit als eine der hehrsten Tugenden, und wie als Symbol dafür stand auf seinem Tisch eine Kaffeetasse, die vor Jahren zerbrochen und von ihm eigenhändig zusammengeleimt worden war.

«Sandberg. Kein irischer Name«, sagte Moriarty, während er etwas auf ein Blatt Papier schrieb.

Erst als Moriarty ihn ansah, wurde Wilbur bewusst, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.»Schwedisch, Sir«, sagte Wilbur.»Mein Vater ist… war…«

«Hier drin steht«, Moriarty tätschelte Wilburs Akte,»dass wir uns auf unbestimmte Zeit um dich kümmern sollen. Was sagst du dazu?«

Wilbur senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Moriarty erhob sich, nahm den Stock, der am Schreibtisch lehnte, und ging zum Fenster, um in den Regen hinauszusehen. Wilburs Hände lagen auf den Knien. Obwohl er die Indianerfigur und das Nashorn in den Hosentaschen spürte, fühlte er sich einsam und mutlos. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen und war plötzlich unendlich müde. Was sollte er antworten? Dass es ihn nicht kümmerte, wie lange man ihn hier einsperren würde? Dass er froh war, dem Haus der Conways entkommen zu sein, obwohl er nicht wusste, ob ihn hier Schlimmeres erwartete? Dass Bestrafung ihm gleichgültig war, weil sein Leben ihm nichts bedeutete?

«Was mich betrifft, so…«Moriarty verstummte und sah einer aschgrauen Wolke nach, die bedächtig erst über einen, dann den zweiten Turm strich und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand.»… will ich dich auf keinen Fall länger als sechs Monate hier haben. «Er drehte sich zu Wilbur um und sah ihm in die Augen.»Verstanden, junger Mann?«

Wilbur erwiderte Moriartys Blick für den Bruchteil einer Sekunde.»Ja, Sir«, sagte er. Miss Rodnick hatte ihm in ihrem Büro geraten, die Hände aus den Taschen zu nehmen und den Direktor immer mit Sir anzusprechen.

«In dieser Zeit…«Jetzt stand Moriarty vor der Bücherwand und starrte eine Weile auf die vollen Regale, als suche er nach einem bestimmten Titel. Im Nebenzimmer schrillte zweimal das Telefon, dann war gedämpft Miss Rodnicks Stimme zu hören. Moriarty wandte sich Wilbur zu.»… erwarte ich von dir Hingabe. «Er ging an sein Pult zurück und setzte sich, behielt den Stock jedoch in der Hand.»Hingabe an das Ziel, deine Flausen aus dem Kopf zu vertreiben. Hier drin steht…«, wieder tätschelte er mit der Handfläche die Akte,»du seist ein intelligenter Bursche. Leute mit Grips zünden keine Häuser an. «Er klopfte mit dem Gummiteil des Stockes auf den Parkettboden.»Und du hast doch Grips, oder?«

«Ich weiß nicht, Sir«, sagte Wilbur, und dann, kleinlaut:»Ja.«

«Na also!«rief Moriarty.»Drei Monate, höchstens. Dann werfe ich dich raus. Verstanden?«

«Ja, Sir«, sagte Wilbur.

«Und jetzt meldest du dich bei Mr. Foley. Der zeigt dir, wo du schläfst.«

Wilbur wartete, dass der Direktor noch etwas sagte, aber Moriarty nahm einen Brief von einem Stapel und begann zu lesen, als sei Wilbur schon nicht mehr da. Wilburs Blick fiel auf ein gerahmtes Zitat von Cicero, das zwischen den beiden Fenstern an der Wand hing. Oft ist nichts dem Menschen feindlicher als er sich selbst. Als das Telefon klingelte, hob Moriarty ab, sah Wilbur leicht erstaunt an und winkte ihn mit einer Handbewegung aus dem Raum.

Joseph Foley war ein schweigsamer Riese, der in seiner dunkelblauen Uniform aussah wie ein Polizist aus einem Comic. Obwohl er sich täglich rasierte, schwärzten Bartstoppeln die Hälfte seines Gesichts, dessen andere Hälfte von einer knolligen, großporigen Nase beherrscht wurde. Im Schatten seines Mützenschirms lagen graublaue wässrige Augen, mit denen er den vor ihm stehenden Wilbur musterte. Obwohl er seit einer halben Stunde auf einem Stuhl vor dem Zimmer saß, das als Büro, Teestube und Umkleideraum diente, atmete er heftig, als sei das Verspeisen eines belegten Brotes eine anstrengende Arbeit. Krümel lagen in seinem Schoß, und Butter ließ seine wulstigen Lippen glänzen.

«Sandberg, Sandberg…«murmelte Foley und kaute nachdenklich.»Bist du der Kerl, der an einem Tag fünf Banken im County Wicklow ausgeraubt hat?«

Wilbur schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte er.»Sir«, fügte er hinzu, weil er nicht wusste, ob die Regel auch für das Wachpersonal galt.

«Hm, nicht…«Foley kniff die Augen zusammen und schob sich den Rest des Schinkenbrotes in den Mund, ein Stück, das Wilbur als Mittagessen gereicht hätte. Jetzt atmete er geräuschvoll durch die Nase, was ihn noch mehr anstrengte und rot anlaufen ließ. Als er endlich geschluckt hatte und wieder zu Atem kam, schob er die Uniformmütze nach hinten und sah Wilbur noch genauer an.

Wilbur stand stocksteif da und wagte nicht einmal, den Koffer auf den Boden zu stellen. Zwei Tage nach dem Brand war Henry ins Krankenhaus gekommen und hatte ihm ein paar Kleidungsstücke und persönliche Dinge gebracht. Während Pauline Vorhangstoffe aussuchte, um, wie sie sagte, nach den schrecklichen Ereignissen rasch wieder Tritt zu fassen, überlegte Henry, was Wilbur außer frischer Wäsche wohl brauchen würde. Er durchsuchte Wilburs ehemaliges Zimmer, fand aber nur ein paar Notenblätter, eine Karte von Schweden und das Buch Schätze der Kiesgrube, das er dem Jungen geschenkt hatte. Statt in die neue, von Wilbur nie benutzte Sporttasche tat Henry die Sachen in einen der beiden Koffer, die Wilbur nach Orlas Tod von Colm bekommen hatte und die nur deshalb nicht auf dem Müll gelandet waren, weil Henry sie vor seiner Frau in der Garage versteckt hatte.

Wilbur hatte sich die Indianerfigur und das Nashorn in die Hosentaschen gesteckt, bevor er die Vorhänge anzündete. Den Rest der Dinge hatte er in einer Blechdose im Rasen der Conways vergraben, weil sie nicht verbrennen sollten. Henry ahnte, dass Wilbur irgendwo einen nur für ihn selber wertvollen Schatz haben musste, Andenken an eine Kindheit, die gerade zu Ende gegangen war. Aber er fragte ihn nicht danach. Wilbur hatte geweint, als Henry sich an sein Bett setzte. Er schämte sich für das, was er getan hatte, und entschuldigte sich bei Henry. Henry verzieh ihm und gab ihm den Koffer, in den er auch einen Umschlag mit etwas Geld und Sunes Brief gelegt hatte.

Der Koffer war nicht schwer, trotzdem hoffte Wilbur, der Wachmann würde ihn endlich zum Schlafraum führen. Foley holte eine Flasche Sprudel unter dem Stuhl hervor, schraubte sie gemächlich auf und trank sie in einem Zug leer. Dann sah er Wilbur mit großen Augen an und blähte die Backen, als er dezent rülpste.

«Jetzt hab ich’s!«rief er dann und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.»Sandberg! Der Herr der Blüten! Du hast Falschgeld für zehn Millionen in Umlauf gebracht!«

«Nein, Sir«, sagte Wilbur. Wofür hielt ihn der Kerl? Hatte man diesem Ochsen seine Akte nicht gezeigt? Konnte dieser Fleischberg überhaupt lesen?» Ich… ich hab etwas angezündet.«

Foleys eckige Kinnlade fiel herunter, seine Augen weiteten sich.»Der Feuerteufel vom Lough Gill…«sagte er tonlos, beinahe flüsternd.»Zwanzig Schulen in Schutt und Asche gelegt, die Autos von siebzig Lehrern abgefackelt…«Er schluckte leer, starrte Wilbur an und drückte sich gegen die Wand.

Wilbur stellte den Koffer ab und machte mit beiden Händen abwehrende Bewegungen.»Nein, nein, ich hab die Vorhänge in meinem Zimmer angezündet. Keine Schulen. Ich wollte…«Wilbur verstummte. Sollte er diesem begriffsstutzigen Koloss etwa erzählen, dass er versucht hatte, sich umzubringen?

Alan O’Carroll, der zweite von fünf Wachmännern, die an diesem Tag Dienst hatten, kam mit einem Eimer in der Hand den Gang entlang. Er war halb so alt wie Foley, vierundzwanzig, und halb so breit. Er ging lässig, beinahe beschwingt, wobei sein freier Arm schlenkerte. Als er näher kam, bemerkte Wilbur, dass sich eine rote, wulstige Narbe über O’Carrolls Wange zog.

«Hör nicht auf ihn, Junge«, sagte er zu Wilbur und betrat den Raum, dessen Tür offen stand.»Joe verarscht jeden Frischling. «Er stellte den Eimer, der mit Kohlebriketts gefüllt war, neben den Ofen aus schwarzem Gusseisen und rieb sich das Kreuz. Foley grinste und sah jetzt endgültig wie eine Karikatur aus. O’Carroll lehnte sich an den Türrahmen und lockerte den Knoten seiner schwarzen Krawatte, gerade genug, um nicht gegen die Vorschriften zu verstoßen.

Wilbur sagte nichts. Das alles war ihm peinlich. Er hasste diesen Ort und jeden, der seine erbärmliche Geschichte kannte. Er dachte an Bruce Willis, der sich den Weg aus diesem Gefängnis freischießen würde. Wenn der Trottel mit dem Gehstock dachte, er könne Wilbur in drei Monaten zu einem neuen Menschen formen, dann täuschte er sich gewaltig. Wilbur hatte Pauline Conways Einzelhaft überstanden und würde auch Four Towers überstehen.

«Wir wissen, dass du bloß ’n harmloser Spinner bist, der sein Zimmer angekokelt hat«, sagte O’Carroll. Er nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Seine rotblonden Haare waren an der Stirn schütter und entweder verschwitzt oder mit Brillantine zurückgekämmt.

Wilbur senkte den Kopf. Er hasste sich, weil er die Idee, den Kanister aus der Garage zu holen und das Benzin im Zimmer zu verschütten, nicht in die Tat umgesetzt hatte. Nicht einmal Feuer legen konnte er. Das nächste Mal würde er die Sache besser planen.

«Ich hoffe, du hast keine Streichhölzer mitgebracht«, sagte O’Carroll und sah Wilbur ernst an. Als Wilbur den Kopf schüttelte, lachte O’Carroll.»Na dann bin ich ja beruhigt. «Er setzte die Mütze wieder auf und schlenderte den Gang hinunter.»Man sieht sich!«rief er, ohne sich umzudrehen, und bog um eine Ecke.

«Also, dann wollen wir mal«, sagte Foley. Er erhob sich ächzend, warf die leere Sprudelflasche in den Abfalleimer neben dem Ofen und nahm einen Schlüsselbund aus der Uniformjacke. Mit einem der Schlüssel sperrte er die Tür zu und setzte sich dann langsam in Bewegung.

Wilbur ergriff den Koffer und folgte dem Mann. Als sein Blick aus einem der Fenster fiel, sah er eine Taube, die durch den Nebel flog und auf dem Dach eines Turms landete.

Im Schlafraum standen siebenundzwanzig Betten. Fünf Lampen mit emaillierten Schirmen hingen von der Decke. Durch drei Fenster in der Außenwand fiel Tageslicht auf die Bodenplanken, die beinahe schwarz waren und glänzten. Unter jedem Bett stand ein Nachttopf mit Deckel. An der schmalen Stirnwand, die wie die übrigen weiß verputzt war, hing ein mannsgroßes Kruzifix. Foley hatte unterwegs ein Kissen, zwei Laken und zwei Wolldecken besorgt und warf alles auf eins der beiden Betten, die der Tür am nächsten standen. Wilbur musste seine Schlafstatt selber machen, und Foley sah ihm dabei zu. Es dauerte eine Weile, bis Wilburs Bett aussah wie die anderen und Foley zufrieden war. Am Fußende von jedem Bett stand eine Holztruhe, auf deren Deckel eine Nummer gemalt war, in Wilburs Fall eine 73. In diese Truhe legte Wilbur die Sachen aus seinem Koffer. Dann ging er hinter Foley her zu den Waschräumen, wo er sich die Duschen und Toiletten zeigen und die Regeln erläutern ließ.

Nach dem Rundgang, zu dem ein Blick in den Speisesaal und den Hof gehörte, nahm Wilbur im Materialraum im Erdgeschoss zwei Paar graue Socken, zwei weiße Unterhosen und Unterhemden, eine moosgrüne Arbeits- und eine schwarze Sonntagshose, einen grauen Wollpullover, ein moosgrünes und ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte, ein Handtuch, einen Waschlappen, ein Stück Seife, eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta entgegen. Die Toilettenartikel waren in einem Leinenbeutel, der ebenfalls die Nummer 73 trug. Foley sah sich Wilburs schwarze Lederschuhe an, das letzte Weihnachtsgeschenk von Pauline und Henry, und befand sie für gut genug. Er drückte ihm eine kleine Holzkiste in die Hand, in der sich Schuhwichse, zwei Bürsten und ein gefalteter Stofflappen befanden. Der Stofflappen war von einem bleichen Grün und zweifellos ein Stück aus einer ehemaligen Arbeitshose. Die schwarze Schuhwichse in der flachen Metalldose verströmte einen kräftigen Geruch, eine Mischung aus Tabak und Motorenöl.

«Direktor Moriarty sieht dir immer zuerst auf die Schuhe und dann in die Augen«, sagte Foley.»Er sagt, wer schmutzige Schuhe hat, kann kein sauberes Leben führen. Jedenfalls so was in der Art.«

Wilbur erinnerte sich nicht, worauf Moriarty nach dem Betreten des Büros zuerst gesehen hatte. Er rang sich ein Lächeln ab und nickte. Eine Weile standen sie schweigend da, als würde Moriartys Weisheit im Raum nachhallen. Dann gingen sie endlich weiter. Foley zeigte und erklärte Wilbur alles geduldig und trug sogar den Kleiderstapel in den Schlafraum, als der Junge unter der Last zu taumeln begann. Ging Wilbur hinter dem Riesen her, war dessen Rücken ein dunkelblaues Meer, das sanft wogte und aus dem die keuchenden und rasselnden Geräusche von Ungeheuern drangen.

Bis es Zeit zum Mittagessen war, musste Wilbur in der Küche helfen. Foley hatte ihn der Köchin Geraldine Dunne vorgestellt und den vier Burschen, die ihr halfen, geraten, den Neuen nicht zu schikanieren. Wilbur war sich vorgekommen wie am ersten Tag an der Schule in Letterkenny, wo ihn die Kinder, die ihn nicht kannten, angestarrt hatten. Zum Glück schickte ihn Geraldine, eine für ihren Beruf ungewöhnlich schlanke Frau um die sechzig, zum Tischedecken in den Speisesaal. Dort legte Wilbur Messer, Gabeln und Löffel neben Teller, von denen zu seinem Erstaunen viele mit verblassten Aufdrucken versehen waren. THE HARBOUR INN stand auf einigen, auf anderen FERNHILL MANOR und THE COURT YARD HOTEL. Wilbur vermutete, dass die Teller entweder auf Auktionen günstig zusammengekauft worden oder Geschenke von Hotels waren. Auch bei den Gläsern sah kaum eines wie das andere aus. Er stellte niedrige dicke neben hohe mit eingeschliffenem Muster und ehemalige Marmeladengläser neben zerkratzte Plastikbecher. Nur das Besteck war gleich, billige ausgestanzte Ware, die man ohne Kraftaufwand verbiegen konnte.

Nach dem Decken der Tische musste Wilbur mit einem Jungen, den Geraldine ihm als Jason vorgestellt hatte und der ihm widerwillig die Hand gegeben hatte, Dosen mit Pfirsichhälften aus dem Vorratsraum hinter der Küche holen.

«Was haste denn ausgefressen?«fragte Jason. Er war um mehr als einen Kopf größer als Wilbur, hatte millimeterkurzes schwarzes Haar und schwarze Augen, und er blinzelte viel und heftig. Wilbur deutete das Blinzeln als nervösen Tick und fragte sich, ob man so etwas hier drin entwickelte.

«Brandstiftung«, sagte Wilbur möglichst beiläufig, während er die schweren Dosen, die Jason von einem Regal nahm, auf einen Rollwagen stapelte. Er hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass es ratsam war, im Gefängnis den Eindruck eines Kerls zu vermitteln, mit dem nicht zu spaßen war.

Jason sagte nichts, auch nicht, warum er hier war. Und Wilbur fragte nicht. Sie brachten die Dosen in die Küche und öffneten sie. Die drei anderen Burschen, alle älter und größer als Wilbur, putzten Gemüse, schnitten Kartoffeln in Scheiben und rührten, wenn die mit Teigkneten beschäftigte Geraldine es ihnen sagte, in den Töpfen. Einer von ihnen, ein kräftiger Rothaariger, sah Wilbur immer wieder mit spöttischem Blick an und schnitt Grimassen. Wilbur setzte sich auf einen umgedrehten Eimer, schälte Kartoffeln und hielt den Kopf gesenkt.

Geraldine summte während der Arbeit, aber ihre Stimme reichte nicht einmal entfernt an die von Orla heran. Als sie Mistletoe and Wine trällerte, schnitt Wilbur sich in den Finger. Der Rothaarige grinste. Geraldine wusch Wilburs Wunde unter kaltem Wasser aus, verband sie und meinte, Wilbur solle die Finger von Messern lassen und stattdessen das Rühren in den Kochtöpfen übernehmen.

Irgendwann drang der Lärm von Schritten durch die Flure, und wenig später setzten sich einhundertzweiundzwanzig Jungen an die Tische. O’Carroll und John Kearney, ein stiller und gutmütiger Wärter, der kurz vor der Pensionierung stand, beaufsichtigten die Zöglinge, die sich in Gruppen zum Essenfassen anstellten. Wie Geraldine ihn geheißen hatte, stand Wilbur neben dem Rothaarigen, der Suppe schöpfte, und legte eine Scheibe Brot auf jedes Tablett, das ihm hingehalten wurde. Die Hand mit dem verletzten Finger hielt er so, dass man den blutigen Verband nicht sehen konnte. Er zwang sich, jedem der Jungen ins Gesicht zu sehen, aber nur wenige erwiderten sein kurzes Nicken. Die meisten musterten ihn gleichgültig, einige abschätzig oder sogar feindselig. Nur einer strahlte ihn nach einem Moment ungläubigen Staunens an. Wilbur brauchte noch länger, um sein Gegenüber zu erkennen. Dann weiteten sich seine Augen, und seiner Kehle entfuhr ein heiserer Laut. Sämtliche Köpfe drehten sich in seine Richtung, an den Tischen wurde getuschelt und gelacht. O’Carroll verbat sich die Unruhe, und die Jungen verstummten.

Conor legte einen Finger auf die grinsenden Lippen, nahm dem erstarrten Wilbur das Brot aus der Hand und ging weiter.

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