The Verdict, 1982

Die Wellen schienen gegen die Mauern zu schlagen, aber es war nur der Wind, der in Böen Regen ans Haus warf. Wilbur lag in seinem Bett und sah ins Dunkel, wo Balken knarrten, wenn das Dach sich anzuheben schien unter dem Druck einer besonders mächtigen Luftwoge. Ein dickes Kissen begrub das Kind unter sich, dessen Kopf hervorschaute wie aus einer Schneewehe. Es war Nacht, und er hätte gerne die leuchtende Blume gesehen, die auf dem Lampenschirm neben der Tür blühte, aber sie lag nicht in seinem Blickfeld.

Als unweit des Hauses die von einem heftigen Windstoß aufgerissene Scheunentür gegen den Rahmen krachte, fing Wilbur an zu weinen. Wenn es draußen so laut toste, dass sein dünnes Stimmchen darin unterging, wartete er und schrie in der kurzen Pause, die der Sturm zum Atemholen brauchte. Nahm der Lärm erneut für einen Moment ab, schrie er nochmals, und meistens hörte er in der darauffolgenden Lücke die dunkle Stimme, die ihm Angst machte, und die helle, die er liebte. Dann weinte er wieder, aber nur, um augenblicklich damit aufzuhören, sobald sie die Tür öffnete, ihn unter der Decke hervorzog und in die Arme nahm. Nach einem letzten Schluchzer war er still und lauschte ihrer Stimme. Er schmiegte den Kopf an ihre Brust und gab sich mit geschlossenen Augen dem Schaukeln ihres Oberkörpers hin und dem Singsang, der flüsternd das wütende Toben des Sturms ausblendete.

Im Spätsommer des letzten Jahres hatte Eamon McDermott in Begleitung eines Anwalts seinen Enkelsohn aus Chestnut Hill geholt. Nach einem langen Papierkrieg mit den amerikanischen und irischen Behörden zu müde, um sich als Sieger zu fühlen, war er vor dem Heim aus einem Taxi gestiegen und auf Lawrence Krugshank zugegangen, abwartend, ob der Mann ihm die Hand entgegenstrecken würde. Krugshank musste für diesen Gruß alle Kraft, die ihm noch geblieben war, aufbringen, schüttelte Eamons Hand und die des Anwalts und führte die Männer durch einen leeren Flur zu dem Büro, wo die letzten Formalitäten erledigt wurden. Warren C. Rush und eine Mitarbeiterin des Sozialamtes warteten auf die beiden. Eamon sprach während der ganzen Prozedur kein Wort. Er nickte, wenn sein Anwalt ihm etwas erklärte, setzte seine Unterschrift dorthin, wo es verlangt wurde, und wollte dann so rasch wie möglich den Jungen holen.

Alice Krugshank brachte es nicht fertig, den Mann zu sehen, der ihnen ihr Kind wegnahm. Sie saß auf dem Bett im Schlafzimmer ihrer Wohnung, die in einer der ehemaligen Offiziersunterkünfte etwas abseits des Hauptgebäudes lag, knetete einen Wollfäustling, den sie für Wilbur gestrickt hatte, und starrte auf den Fleck an der Wand, an der eben eine halbvolle Kaffeetasse zerschellt war. Als sie den Motor des Taxis hörte, kippte sie seitlich auf das Bett, zog die Knie an und weinte.

So fand ihr Mann sie, als er zwei Stunden später den Raum betrat und Wilbur auf dem Weg zum Flughafen war.

Als Eamon in Sligo aus dem Zug stieg, der ihn und eine Handvoll Leute, vor allem amerikanische Touristen auf der Suche nach ihren Wurzeln, von Dublin in den Nordwesten gebracht hatte, fühlte er sich noch immer nicht als Sieger. Auch nicht, als er seine Frau sah, die die lange Fahrt mit dem Bus auf sich genommen hatte, um ihren Enkel willkommen zu heißen. Wilbur hatte im Taxi vor dem Heim angefangen zu weinen und, mit wenigen Unterbrechungen, in denen er rot verfärbt und schweißnass wegdämmerte, bis zu seiner Ankunft in Dublin nicht wieder aufgehört. Kaum auf irischem Boden gelandet, verstummte er jedoch, was Eamon als Zeichen deutete, dass der Junge spürte, wohin er gehörte.

Im Bus konnte Eamon den mit blauem Nylonstoff eingefassten Tragekorb, den Lawrence Krugshank ihm aufgedrängt hatte und in dem Wilbur lag, seiner Frau auf den Schoß stellen. Froh, die Reise endlich hinter sich zu haben, hielt er sich an seinem Koffer fest, in dem, eingewickelt in einen Pullover, die Urne mit Maureens Asche lag. Orla schälte den Jungen aus den Tüchern und Decken, prüfte den Zustand der Windeln, die eine Stewardess der Aer Lingus über Neufundland gewechselt hatte, herzte ihren neuen Schatz und ließ nicht von ihm ab, bis der Bus auf dem Dorfplatz von Kindrum hielt.

Was Wilbur von seiner neuen Welt sah, war umstellt von Mauern. Regnete es nicht und war es nicht zu kalt, wurde er auf eine Wolldecke in die Mitte der asphaltierten Fläche gesetzt, die man durch die Küchentür erreichte. Die Mauern waren unverputzt und hätten die Wände eines Anbaus sein können, dessen Errichtung man vertagt oder verworfen hatte. Zwei Holzstühle, ein Ascheimer und ein schwarzes Fahrrad standen in ihrem Schatten, in einer Ecke lagerte gestochener Torf unter einer Plane, Heizmaterial für den Winter. Auf dieser Decke hatte Wilbur gelernt, auf allen vieren zu kriechen und wie man auf zwei wackligen Beinen steht.

Auf dieser Decke saß er jetzt, hielt mit beiden Händen einen geschnitzten Holzesel fest, sah auf die Mauer, hinter der das Meer lag, und wartete auf sie. Er hörte, wie die Wellen an die Küste rollten, ein sanftes Rauschen, dazwischen riefen Möwen, die manchmal, vom Wind hergetragen, hoch über seinem Kopf auftauchten. In den ersten Wochen hatte Wilbur nach ihnen gegriffen, doch irgendwann die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingesehen und aufgehört. Stattdessen rieb er den Kopf des Holzesels auf dem Asphalt, bis Nüstern und Maul abgeschliffen waren.

Wenn sie endlich kam, warf er den Esel in die Luft, worauf sie jedes Mal jubelnd in die Hände klatschte. Dann hob sie ihn hoch und trug ihn in die Küche, wo sie ihn auf den Schoß nahm, ihm zu essen gab und scheinbar wahllos drauflos erzählte, Geschichten aus Büchern, Zeitungsmeldungen, Witze, Horoskope, Wetteraussichten, Nachbarstratsch, Hochzeiten, Geburten, nie Todesfälle. Sie redete ohne Punkt und Komma, die Worte kamen aus ihr heraus, als müsste sie den Jungen in möglichst kurzer Zeit mit möglichst vielen davon versorgen, als seien sie Bestandteil seiner Ernährung.

Orla McDermott war eine Frau, der man auch nach zweiundsechzig Jahren noch hätte ansehen können, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Aber hier draußen, mehr als zwanzig Kilometer von Kindrum und einen Steinwurf vom Meer entfernt, gab es niemanden, der sich für den warmen Glanz in ihren schwarzen Augen oder die sinnliche Form ihrer Lippen interessiert hätte. Niemandem fielen ihre schmalen Hände auf, in deren Fingerspitzen Zärtlichkeit schlief, niemandem die hohen Wangenknochen, über die sich sonnenbraune, von unzähligen haarfeinen Fältchen geriffelte Haut spannte.

Früher blieben die Männer in Galway auf der Straße stehen, wenn sie an ihnen vorbeiging, mit federndem Schritt und einem Lächeln im Gesicht, das spöttisch war für die dreist Glotzenden und ermunternd für die verschämt Schmachtenden. Ihre Familie, deren Wurzeln mütterlicherseits in Spanien lagen, besaß zwei Fischkutter, die Alicante und die Galway Grace. Drei Männer, einen Onkel und zwei Cousins von Orla, hatte das Meer genommen im Tausch gegen einen Teil seines Schatzes, der die Schiffsbäuche mit zappelndem Silber füllte. Reich wurden die O’Learys mit dem Fischfang nicht, aber es reichte, um die älteste Tochter auf eine gute Schule in England zu schicken.

Hätte ihr Vater, der sich nach Tagen auf See stundenlang mit Seife abschrubbte, um den Fischgeruch loszuwerden, geahnt, dass Orla nicht vorhatte, ihr in den drei Exiljahren erworbenes Wissen jemals für etwas anderes anzuwenden, als ihrer Mutter beim Lösen von Kreuzworträtseln zu helfen, hätte er sie gleich in seinen Laden gesteckt, hinter dessen Verkaufstheke sie glücklich war. Er betrachtete es als Verschwendung von Talent, als verpasste Gelegenheit, ja als Sünde, dass seine intelligente Tochter Makrelen und Kabeljau verkaufte, statt in London oder Paris zu studieren. Wenn Orla mit Touristen französisch sprach oder einem Kunden erklärte, dass der Name Thunfisch auf das griechische Wort thýnnos zurückgehe, schüttelte er den Kopf, konnte sich dabei aber ein stilles Lächeln nicht verkneifen, froh darüber, dass seine geliebte Tochter nicht mehr bei den Engländern war. Würde er eben abwarten und sehen, ob Deirdre, die Jüngere, ihre Nase lieber in Bücher oder Berge toter Fische steckte.

Orla erzählte Wilbur gerade von den beiden Schafen, die vom Deck einer Fähre gefallen waren und sich in Meerjungfrauen verwandelt hatten, als Eamon die Küche betrat. Er murmelte einen Gruß, goss Tee aus einem Thermoskrug in seine schwarze Tasse, lehnte sich gegen das Spülbecken und trank schlürfend und laut atmend. Wilbur hasste dieses Geräusch. Er hasste es, weil es schrecklich klang und weil es bedeutete, dass Orla verstummte. War der dunkle, nach Torf und feuchtem Stoff riechende Mann anwesend, versiegte der Fluss aus Tönen, dem er so hingebungsvoll gelauscht hatte und der ihn mehr wärmte als Kleidung und Decken. Warum gab es diesen Riesen überhaupt, der sich zwischen ihn und die Sonne stellte? Wer war dieser Berg, der beim Trinken Geräusche von sich gab, als würde in seinem Mund Papier zerrissen? Was wollte er hier, außer Schlürfen, Schweigen und Schnauben?

Eamon McDermott war siebzehn Jahre und dreiundzwanzig Tage alt, als sein Leben sich für immer änderte. Er lag im Bett unter dem Dach seines Elternhauses und stellte sich vor, wie es wäre, in New York zu leben und beim Bau der Häuser zu helfen, die so hoch waren, dass man sie Wolkenkratzer nannte. Vom Postboten wusste er, dass in der Neuen Welt Männer gesucht wurden, die kräftig und schwindelfrei waren, fähig, zwischen Himmel und Erde auf schmalen Stahlträgern zu balancieren. Seit Wochen lernte Eamon, seine Furcht vor Höhe abzulegen, indem er auf Bäume kletterte und von Klippen in den Abgrund blickte. Erst vor ein paar Tagen hatte ihn ein Nachbar vom Dach seiner Scheune gescheucht, dessen First er mit seitlich ausgestreckten Armen entlanggegangen war.

Eamon wollte nicht Schafe züchten wie sein Vater und sein Großvater. Er wollte nichts mit den dummen, stinkenden Tieren zu tun haben, wollte ihnen nicht im Nebel nachtrotten, nicht mit ihnen über Hügel stapfen oder mit ihnen unter Büschen hocken, vergeblich auf das Ende des Regens wartend. Er hasste die Gerichte, die mit ihrem Fleisch gekocht wurden, hasste die Pullover, deren fettige Wolle ihm die Luft zum Atmen nahm, und er hasste ihr Blöken, das einfältig und klagend war wie das Jammern der alten Weiber vor der Kirche. Er wollte nicht bis ans Ende seiner Tage unter diesen Kreaturen ausharren und irgendwann, genährt von ihrem Fett und eingehüllt in ihr Haar, zu ihresgleichen werden. Nach New York wollte er, über den Atlantik in ein neues Leben, am liebsten mit dem nächsten Schiff.

Daran dachte Eamon, als das dumpfe Bollern vom Strand her zu ihm heraufdrang. Erst hörte er es einmal, dann wieder, schließlich im gleichmäßigen Takt der ankommenden Wellen. Es klang wie Holz, das gegen Stein schlug, ein hohler Ton, ein leeres Fass vielleicht oder ein losgerissener Kahn. Eamon stand auf und ging ans Fenster. Als er zum Meer hinuntersah, schob der Wind eine einzelne Wolke vom Mond weg, der die Bucht beleuchtete wie eine Bühne. Das Boot lag mit dem Bug im groben Kies, die Brandung stieß das Heck mit sanfter Regelmäßigkeit gegen einen Fels. Eamon öffnete das Fenster, streckte den Kopf in die Kälte. Das Mondlicht brachte die Luft zum Glühen, bedeckte jeden Gegenstand. Von der Gestalt, die scheinbar bewusstlos über die Ruderbank gestreckt dalag, konnte Eamon nur die Beine erkennen, schwarze Hosen und weiße Schuhe. Er schloss das Fenster, zog sich an, steckte das Taschenmesser ein und schlich aus dem Haus.

In Stiefeln, groben Hosen und einer Strickweste aus der Wolle seiner Feinde über dem Hemd ging Eamon die fünfzig Meter hinunter zum Strand. Bevor er an das Boot herantrat, bekreuzigte er sich. Der Mann, in dessen Gesicht er blickte, war nicht alt und nicht jung, trug außer der schwarzen Hose einen blauen Pullover und darüber eine Jacke aus grünem Stoff, die schmutzig war und versengt. Als Eamon sich über ihn beugte, bemerkte er den Geruch nach Rauch und Öl, der von ihm ausging. Er hob den Mann, der erstaunlich leicht war, aus dem Boot, trug ihn dorthin, wo der Kiesstrand in zähes Gras und schließlich eine löchrige, mit Steinen und Felsbrocken durchsetzte Wiese überging, und legte ihn hin.

Die Kiste bemerkte er erst, als er das Boot aus dem Wasser zog und so weit nach oben schleifte, dass die Brandung es nicht mehr erreichte. Dann kniete er sich neben den Bewusstlosen, berührte zögernd dessen rußgeschwärztes Gesicht, legte ihm das Ohr an die Brust und spürte, dass sie sich kaum merklich hob und senkte. Erleichtert darüber, dass der Mann am Leben war, rannte Eamon zum Haus, um Hilfe zu holen.

Als er im Flur vor der Schlafkammer seiner Eltern stand, die Hand erhoben, um anzuklopfen, hielt er mitten in der Bewegung inne. Eine Weile verharrte er in der Dunkelheit, hörte das Schnarchen seines Vaters und das Klopfen des eigenen Herzens, ließ die Hand schließlich sinken, drehte sich um und ging hinaus.

Der Mann lag da, wie Eamon ihn hingebettet hatte. Ab und zu bewegten sich seine Lippen, seine Finger und Augenlider zuckten. Er hatte kurzes blondes Haar, und an einem Arm, unter zerrissener Kleidung, war helle Haut zu sehen. Er hätte aus einem der Orte hier stammen können, auch wenn er dazu nicht genug nach Schafmist roch. Eamon deckte ihn mit der grauen Decke zu, die er im Boot fand, und machte sich dann daran, die Kiste über die Bordwand zu hieven.

Die mit Eisenbeschlägen versehene Holztruhe erwies sich als so schwer, dass Eamon das ganze Boot zur Seite kippen musste, damit sie auf die Steine rutschte, wo sie mit dem Boden nach oben liegen blieb. Das Rumpeln und kurze Krachen ließen Eamons Puls rasen. Für einen Augenblick kauerte er mit angehaltenem Atem neben dem Boot und sah zum Haus hoch, darauf wartend, dass der Schein der Öllampe aufflammte und sein Vater ins Freie trat. Doch im Haus blieb es dunkel, und auch der Matrose wachte nicht auf. Das monotone Schwappen der Wellen beruhigte Eamon, und nachdem er ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte er sich mit dem Taschenmesser am Vorhängeschloss zu schaffen.

Weil eher die Klinge abgebrochen als das Schloss aufgesprungen wäre, begann Eamon, im Holz des Kistenbodens zu stochern. Manchmal, wenn der Matrose wie im Traum den Kopf bewegte oder mit den Füßen wackelte, setzte Eamon das Messer ab, rieb sich die kalten, schmerzenden Finger oder fuhr mit einem Stein über die Klinge, zwanzigmal auf der einen, zwanzigmal auf der anderen Seite. Er hätte in der Scheune den Schleifstein holen können, der zum Schärfen der Sense benutzt wurde, aber er wollte den Mann mit der Truhe nicht allein lassen. Ginge er für ein paar Minuten weg, so redete er sich ein, wären bei seiner Rückkehr Mann, Boot und Kiste weg. Dass das unmöglich war, wusste er, und trotzdem blieb er sitzen und schabte Stunde um Stunde mehr Holz aus dem Kistenboden.

Seine Finger waren taub vor Kälte und Anstrengung, als endlich ein Loch entstanden war, in das er die flache Hand stecken konnte. Was er ertastete, fühlte sich weich an, wie etwas Kostbares, für seine rauhen Fingerkuppen Verbotenes, der Stoff vom Gewand einer Königin, die Haut eines Mädchens. Griff Eamon danach und schloss die Faust, konnte er die Hand nicht mehr zurückziehen, und so stocherte er mit einem Ast in der Öffnung, bis er den Stoff anheben und mit zwei Fingern hervorziehen konnte. Er hatte noch nie Samt gesehen, nicht einmal davon gehört. Der leuchtend rote Stoff gehörte zu einem Beutel, der zu dick war, als dass er durch das Loch gepasst hätte. Ungeduldig und müde und in der ständigen Angst, der Matrose könne zu sich kommen oder der Vater vor dem Haus auftauchen, schnitt Eamon den Beutel auf.

Das einzige Buch, das er jemals in den Händen gehalten hatte, war die Bibel seiner Eltern. Er konnte nicht lesen, war nie weiter als bis Donegal Town gekommen, er wusste nicht, dass die Erde sich um die Sonne drehte und warum Automobile fuhren. Er lebte wie der Knecht seiner Eltern, die ihm dieselbe innige, derbe Zuneigung entgegenbrachten wie ihren Schafen und dem Hund, der sie zusammentrieb. Er hatte keinen Bruder mehr und keine Freunde, und wäre nicht der Postbote gewesen, der ihm alle paar Wochen ein Geheimnis verriet, hätte er nie geahnt, dass die Welt am Horizont nicht aufhörte und dass es Länder gab und Kontinente, die größer waren als das Königreich seines Vaters.

Er hatte noch nie Gold gesehen, aber als er eines der schweren, mattgelb glänzenden Nuggets in der Hand hielt, durchströmte ihn die brennende Gewissheit, dass er alles, was er hasste oder wofür er nach so langer Zeit nicht mehr genug Liebe aufbrachte, bald hinter sich lassen würde.

Am Horizont stieg Morgenlicht auf. Der Mond war verschwunden. Die Wolken, die jetzt über dem Meer standen, hatten graue, zerfranste Säume. Wind kam auf, strich über das zähe Gras und bewegte die kahlen Äste der wenigen Bäume. Auch in den Matrosen schien jetzt Leben zu fahren. Wie tastend bewegte er die Hände, und in seiner Brust rumorte etwas, das gelegentlich als Röcheln aus seiner Kehle drang. Eamon hatte acht Beutel voll Goldstücke, fünf glitzernde Steine, von denen er nicht wusste, dass es Diamanten waren, einige Gold- und Silbermünzen und zwei Umschläge mit bedrucktem Papier, das er für Geldscheine hielt, aus der Kiste geholt. Alles lag auf dem Stück Tuch, in das die Münzen eingewickelt gewesen waren. Die langen krummen Hörner, die Eamon nicht als Stoßzähne von Elefanten erkannte, den schweren Revolver und die Schachteln mit Patronen, das Fernrohr aus Messing und dunklem Holz und das verzierte Messer mit den zwei Klingen, tausendmal schöner und edler als das eigene, legte er in die Truhe zurück, nachdem er die Dinge eine Weile bestaunt hatte.

Er verknotete das Tuch und trug den Beutel in das Versteck, in dem seine anderen, jetzt wertlos gewordenen Schätze lagen. Dann schleppte er die Kiste vom Strand weg über eine flach ansteigende Hügelkuppe und schob sie in das Loch eines längst verlassenen, hinter Gras und Stechginsterbüschen verborgenen Dachsbaus, in dem er sich als kleiner Junge vor seinem Vater und den Schafen versteckt hatte.

Als Eamon endlich ins Haus ging, war es beinahe hell. In der Küche machte er Feuer, setzte Wasser auf und nahm die Tassen aus dem Regal an der rohen Steinwand. Er wusste, wo der Pocheen war, der selbstgebrannte Whiskey, tat Zucker in eine Tasse und füllte sie halb mit dem Schnaps und halb mit heißem schwarzem Tee. Damit und mit einem Kanten Brot ging er zur Bucht, setzte sich ins Gras und wartete, bis entweder der Matrose oder sein Vater wach wurde. Das leise Blöken der Schafe, die die Nacht im Schutz der Felsen und Büsche am Fuß des Hügelzuges verbracht hatten, wehte zu ihm herüber. Er hielt die dampfende Tasse mit beiden Händen umfasst, und wäre er nicht so müde und voller Angst gewesen, hätte er gelächelt.

Eamon blies vor jedem Schluck in die Tasse. Er schlürfte den Tee auch dann in sich hinein, wenn dieser fast kalt war, und kniff dabei die Augen zusammen, als befürchtete er, sich Lippen und Zunge zu verbrühen. Orla sah ihm dabei schon seit Jahrzehnten nicht mehr zu. Dass sie ihn hörte, genügte ihr.

«Du verwöhnst ihn. «Die Stimme kühlte Wilburs warmen Bauch aus.

«Ja«, sagte Orla. Sie schob Wilbur einen weiteren Löffel Bananenbrei in den Mund, den es zum Nachtisch gab. Bananen waren in ihrer Kindheit nicht einmal in Dublin zu haben gewesen. Noch immer musste sie mit dem Bus bis Letterkenny fahren, um welche zu kaufen, aber jetzt lagen sie in den Supermärkten wie selbstverständlich neben Kiwis und Mangos und anderen Früchten, die aus Ländern kamen, deren Namen sie vor den Regalen leise hersagte. Tansania. Ecuador. Costa Rica. Sie hätte die Namen Wilbur gerne ins Ohr geflüstert, in diese kleine rosa Muschel, durch die das Sonnenlicht drang und blaue Äderchen aufleuchten ließ.

«Das ist nicht gut. «Eamons Schlürfen klang wie das Wasser, das nach dem Baden kreiselnd im Abfluss verschwand.

«Ist es wohl«, sagte Orla ruhig, und nur Wilbur spürte die in ihren Worten verborgene Kälte.

«Er wird weich«, sagte Eamon. Er stand noch immer hinter seiner Frau ans Spülbecken gelehnt da und hielt die leere Tasse mit beiden Händen fest. Wilburs Haare, jedes einzelne in Licht gefasst, waren das einzige, was er von dem Kind sah. Manchmal dachte er daran, diese Haare zu berühren, tat es aber nie. Er glaubte sich zu erinnern, wie sehr er es gemocht hatte, wenn seine Mutter mit der Hand über seinen Kopf gestrichen war, doch beim Anblick der eigenen Hände wurde ihm klar, dass sie nichts mit denen der Mutter gemein hatten. Wärme war in ihnen nur noch, wenn sie eine Tasse umklammerten.

«Er wird ein Mensch. «Orla sprach diese vier Worte weich aus und sanft und trotzdem bestimmt. Dann erhob sie sich und ging aus der Küche und durch das Wohnzimmer auf den Weg vor dem Haus. Dort setzte sie sich Wilbur auf die Schultern und ging über die Wiese und hinunter zum Strand, wo sie sich in einem Kreis langsam um die eigene Achse drehte, ein Leuchtturm am hellichten Tag.

Das Schiff war in weniger als einer Stunde gesunken. Die Mannschaft hatte versucht, das im Frachtraum ausgebrochene Feuer zu löschen, aber als das halbe Deck und die Rettungsboote in Flammen standen, als die Kommandobrücke prasselnd zusammenstürzte und mit ihr der Kapitän und der Erste Offizier verbrannten, ließen die Männer alle Hoffnung fahren und sprangen über Bord. Unter einem gleichgültigen Mond im eiskalten Wasser treibend, sahen sie zu, wie das Schiff auseinandergerissen wurde, als die Heizkessel explodierten und schwarze Wolken in den Himmel schickten, und wie es schließlich unterging. Erst träge und dann plötzlich rasend schnell versank der lodernde Koloss, überzog das schwarze Meer mit Blasen und ließ für kurze Zeit die Linie des Horizonts erzittern.

Die darauffolgende Stille hörte keiner der dreiundzwanzig Männer mehr, die, einer nach dem anderen, ihrem Schiff in die eisige Dunkelheit gefolgt waren. Hätte einer von ihnen überlebt, an ein Stück Treibholz geklammert oder auf dem Rücken eines Wals sitzend, und hätte er die Küste im Nordwesten Irlands erreicht wie am Ende eines schrecklichen Märchens, so hätte er vielleicht das Rettungsboot gesehen und den Ma trosen darin, der einmal zu ihnen gehört hatte, zumindest auf dem Papier.

Er lag im trockenen Teil des Stalls auf Stroh. Eamons Vater wollte den Fremden nicht im Haus. Aidan McDermott hatte in seinem Leben schon einige Schiffbrüchige gesehen, viele davon Männer, die er kannte, und die meisten von ihnen tot, angeschwemmt an die felsige Küste und aufgebahrt in einem dunklen, kalten Haus. Er war kein Mann der See, stand lieber auf fester Erde als auf schlingernden Planken. Den Fischerbooten sah er, auf einem Hügel stehend, ohne Sehnsucht nach, und die Bereitschaft dieser Männer, sich mit den Elementen zu messen, war für ihn eine dreiste Herausforderung an Gott, eine hochmütige Wette, die der Mensch verlieren musste. Außerdem hasste er Fisch in dem Maße, in dem sein Sohn Schafe hasste. Wenn es am Freitag trotzdem welchen gab, würgte er ihn hinunter, weil er es für seine Christenpflicht hielt.

Dass die arme Seele im Stroh nicht dem Untergang eines Fischerboots entkommen war, sah Aidan gleich. Die Schuhe aus Segeltuch, die schwarzen Leinenhosen, der blaue Pullover aus einer Wolle, die nicht vom Schaf sein konnte, und die schmutzige, aber gute Regenjacke passten nicht zu einem Matrosen, der täglich knietief im schleimigen Auswurf der See watete. Überhaupt ging von dem Mann kein Fischgestank aus, seine versengte Kleidung roch nach Rauch und etwas, das Aidan an Maschinenöl oder Dieseltreibstoff erinnerte. Und dann die Wolldecke, grau mit schwarzem Balken, in dem etwas stand, vermutlich der Name des Unglücksschiffes. Aidan hatte nie einen Fuß auf ein Fischerboot gesetzt, wusste aber, dass keines in Irland Wolldecken dieser Qualität an Bord hatte, geschweige denn mit eingewirktem Namen.

Aidans Frau hatte dem Seemann die Kammer neben der von Eamon herrichten wollen, ein Bett in einer Behausung, deren Boden aus Brettern war statt Lehm und wo es nicht durch Ritzen zog. Zu der man gelangte, ohne über eine schlammige Wiese zu gehen, und die für Menschen gebaut war und nicht für Vieh. Aber ihr Mann hatte es anders bestimmt, und sie widersprach ihm nicht. Nuala McDermott war eine kleine, schweigsame Frau mit wenig Ansprüchen und viel Kraft. Dass sie Forderungen an ihr Leben stellen könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen, sich Dinge zu wünschen, hielt sie für anmaßend. Ein neuer Kochtopf bedeutete Glück, eine Bettdecke, gefüllt mit Gänseflaum, den Himmel. Anders als ihr Mann, empfand sie Fremden gegenüber nicht Argwohn, sondern Neugier. Stand sie auf dem Hügel und blickte den Schiffen nach, versuchte sie sich vorzustellen, was die Menschen am Ende der Reise erwartete. Nicht dass sie neben ihnen an Deck hätte stehen und zusehen wollen, wie sich der Streifen Land, der ihr Zuhause war, langsam auflöste. Dazu fehlte ihr der Mut, war ihre Sehnsucht zu unbestimmt. Sie hing lieber ihren von Hörensagen und Einbildungskraft genährten Träumen nach, erschauernd beim Gedanken an fremde Länder, Menschen, Tiere, malte sich Dinge aus, saß dabei in ihrer Küche und schälte Kartoffeln für die beiden Männer, die ohne sie verloren waren.

Jetzt versuchte sie eben, das Krankenlager im Stall so bequem zu machen, wie es ging. Gegen Aidans verhaltenen Protest hatte sie die Bettdecke aus Paudraigs Zimmer geholt, um den Frierenden zuzudecken. Eine Suppe hatte sie gekocht, Karotten und Kartoffeln lagen am Grund der Schüssel und natürlich Stücke vom Schaf, auf der Oberfläche lagen schimmernde Fettkreise. Aber der Matrose, inzwischen bei Bewusstsein, wollte nicht essen. Er lag auf der Wolldecke im Heu, die schmutzigen Finger, von denen sich Fetzen verbrannter Haut lösten, in die gute Decke gekrallt, und hustete, dass es ihm den Oberkörper krümmte. Rußiger Speichel floss aus seinem Mund, vermischte sich mit Tränen und zog Linien in die Schicht aus Dreck und Asche, die sein Gesicht überzog.

«Er wird sterben«, sagte Aidan, während er seiner Frau zusah, wie sie beinahe zärtlich die Stirn des Mannes wusch, der ausgerechnet in seine Bucht gespült worden war.

«Lass Gott das entscheiden«, sagte Nuala.»Und den Doktor.«

Der Arzt, den Eamon drei Stunden später in den zum Lazarett umfunktionierten Stall brachte, sah sich den Matrosen an, ließ eine Flasche Hustenelixier und eine Salbe gegen die Brandwunden da und machte sich mit einem Pfund gepökeltem Schafsfleisch als Bezahlung auf den Rückweg nach Rathmullan. Man solle für viel frische Luft im Stall sorgen, was wegen der fehlenden Tür leicht zu bewerkstelligen war, den Mann trotzdem warm halten und ihn mit Suppe aufpäppeln.

Die Aufgabe, den Mann zu füttern, fiel Eamon zu, der von nun an ganze Tage und halbe Nächte im Stall damit verbrachte, die kurzen Pausen zu nutzen, in denen sein Patient nicht schlief oder hustete und einen Löffel Suppe schlucken konnte. Eamons Vater hatte auf der Suche nach einem Hinweis auf die Herkunft des Matrosen dessen Taschen durchsucht und dabei einen Kompass, eine Schachtel Streichhölzer, einen Lederbeutel mit Tabak und Papier, ein paar fremdländische Münzen, einen Brief und einen Schlüssel gefunden. Die Dinge lagen jetzt aufgereiht auf einem Balken, und wann immer Eamons Blick auf den Schlüssel fiel, erfasste ihn eine Welle aus Scham über sein Versäumnis, in der Nacht zuvor danach gesucht zu haben.

Seine Eltern hatten gerätselt, zu welchem Schloss der Schlüssel wohl gehörte, und ihr Sohn war rot geworden und hatte absurde Vermutungen gestottert. Schlief der Matrose, unruhig und mit rasselnden Lungen, saß Eamon über den Brief gebeugt da, als würde sich ihm das Rätsel der blassen blauen Schrift mit den vielen Kringeln und Schlaufen offenbaren, wenn er nur lange genug darauf starrte.

Manchmal lag der Matrose mit offenen Augen da, rang nach Luft und presste Worte aus sich heraus, zerstückelte, von grauem Schaum begleitete Sätze, die flehend klangen und verzweifelt. Dann streckte er eine Hand aus und griff in die Luft, wimmerte und ließ den Arm bald sinken, erschöpft und vibrierend unter der Ankündigung eines weiteren Hustenanfalls. In den kurzen Phasen, in denen er röchelnd zurückglitt in die Besinnungslosigkeit, schien er von schlimmen Träumen heimgesucht zu werden.

Nicht die wachen, die Momente des fiebrigen Deliriums waren es, in denen Eamon sich am meisten vor dem halbtoten Mann fürchtete. Wenn Bilder durch den dunklen Schädel des Matrosen zogen und die Augäpfel unter den flimmernden Lidern in Aufruhr brachten, wurde Eamon von Entsetzen ergriffen, verließ den Stall und rannte zum Strand, wo er so viel von der feuchten Luft in die Lungen holte, dass seine Rippen knackten. Mit stechendem Brustkorb zum Horizont blickend, ahnte er nichts von der Tragödie, die sich dahinter abgespielt hatte.

Er sah nicht den Matrosen mit den blonden Haaren, wie er im Frachtraum Öl ausschüttet und mit einem Streichholz in Brand setzt. Wie er den Hund, das Maskottchen der Pride of Durban, der ihm in den Bauch des Schiffs gefolgt ist, aufheben und nach oben tragen will, in Sicherheit. Wie der Hund bellend davonrennt, als sei alles ein Spiel und die Ladung nicht im Begriff, in Flammen aufzugehen. Wie er dem Tier folgt, seinen Namen ruft, durch die Gänge zwischen den riesigen Holzkisten stolpert, vom Rauch schon fast blind im Labyrinth herumirrt und schließlich, von den Flammen schon versengt, das Bellen hinter sich lässt und die Eisenleiter hochklettert, an Deck das Rettungsboot, in dem seit dem Morgen die Kiste liegt, zu Wasser lässt, geschüttelt von Kälte und Grauen über das eigene Tun. Wie er das Schiff verlässt und mit ihm die Kameraden, die gelacht hatten über ihn, als ihn Heimweh plagte, die ihn verspotteten, als er aus Sehnsucht nach seiner Frau weinte. Die einen Brief von ihr aus seinem Versteck gestohlen und herumgezeigt hatten, die Männer, die er hasste und für die er betete, während sie im Mondlicht davonfuhren in den Tod.

Erst nach einer Weile traute Eamon sich zurück zu dem Mann, den er beraubt hatte und der ihn manchmal, für eine schreckliche Sekunde nur, ansah, als wisse er alles. Dann setzte er sich in eine Ecke und dachte darüber nach, was wäre, wenn der Matrose sich erholen und seinen Schatz einfordern würde, wenn er Eamon als Dieb anklagen und seinen greifbar nahen Traum von Amerika zerstören würde. Um sich zu beruhigen, redete Eamon sich ein, der Fremde habe nicht nur sein Schiff, sondern auch das Gedächtnis verloren, möglicherweise den Verstand. Vielleicht wusste er nichts mehr von einer Truhe und wäre beim Anblick des Schlüssels ebenso ratlos wie Eamons Eltern.

Um nicht verrückt zu werden vor Angst und schlechtem Gewissen, beschloss Eamon in der zweiten Nacht, dass das Häufchen Elend, das unter Paudraigs Decke stöhnte und schlotterte, keine Bedrohung darstellte. Selbst wenn der Matrose genesen und sich an alles erinnern würde, bliebe die Kiste verschwunden. Er würde es kaum wagen, das Gold zu erwähnen, und einfach seiner Wege gehen. Irgendwo fände sich ein Schiff, das eine Besatzung brauchte. Dass der Seemann versuchen könnte, sein Gold mit Gewalt zurückzuholen, schien unwahrscheinlich, denn immerhin war es Eamon, der wusste, wo der Revolver und die Munition lagen.

Das dachte er, während er in der Ecke saß und auf seine dreckigen Schuhe starrte, weil er dem Blick des Matrosen kein weiteres Mal begegnen wollte. Und an seinen Bruder dachte er, der als Soldat in einem irischen Bataillon für die englische Königin im Sold stand und der in jener Nacht nicht zugelassen hätte, dass Eamon tat, was er getan hatte.

Orla hatte aufgehört, sich zu drehen, und sah jetzt auf das Meer hinaus. Wilburs Rücken gegen ihre Brust gepresst und ihn mit beiden Armen umfassend und wärmend, stand sie da und summte vor sich hin, mit dem Rauschen der Brandung und nicht gegen sie. Manchmal fragte sie sich, welche Richtung ihr Leben wohl genommen hätte, wenn sie und ihre Schwester damals nicht nach Dublin gefahren wären, um den St. Patrick’s Day einmal woanders zu feiern als in Galway. Wenn sie diesen großen, gutaussehenden Burschen nicht getroffen hätte, über den die Zeitungen in Irland berichteten und der sie wie selbstverständlich am Arm genommen und durch die Menschenmenge auf den Platz geführt hatte, wo getanzt worden war. Wo sie jetzt wohl leben würde und mit wem, hätte sie sich nicht in diesen Mann verliebt, der sie an diesem von Musik und Lachen erfüllten Tag so gefangen nahm, dass sie Deirdre vergaß und sich erst Stunden später an sie erinnerte. Mit seiner Hilfe hatte sie die kleine Schwester auf einer Parkbank wiedergefunden, und sie hatten sich umarmt und geweint und später gelacht, waren singend durch die Nacht geschlendert, zwei Schönheiten aus Galway und der Mann, der in Amerika sein Glück gemacht hatte.

Als der Wind auffrischte und es zu kalt wurde, um draußen zu bleiben, ging Orla zurück ins Haus. Ihr Mann saß im Wohnzimmer vor einem Feuer und las zum zweiten Mal an diesem Tag die Zeitung, diesmal von hinten nach vorne. Obwohl er es bereits am Morgen getan hatte, las er jeden Artikel und jede noch so kleine Meldung erneut, als könnte er etwas übersehen haben oder suche nach versteckten Botschaften, Meldungen, die endlich einen Sinn ergaben. Dabei machte er sich nicht viel aus der Welt, Sport interessierte ihn nicht, und den Wirtschaftsteil verabscheute er aus tiefstem Herzen.

Das Ritual der zweiten Lektüre war während Eamons Jahren in Amerika entstanden, als er, fast schon zwanzig, das Lesen erlernte. Früher hatte Orla darin eine seltsame Angewohnheit gesehen, später nannte sie es Tick, dann Macke. Jetzt war es ihr zu gleichgültig geworden, als dass sie sich gefragt hätte, ob ihr Mann jeden Tag einem Zwang nachgab oder allmählich verrückt wurde.

Der Matrose hatte mit Gesten um Papier und Stift gebeten und geschrieben, ein paar Zeilen nur, hingekritzelt in einer ungelenken Schrift. Drei Tage lang brachte er jeweils am Nachmittag ein paar Sätze auf das grobe Papier, oft nach jedem Wort von einem Hustenanfall unterbrochen und immer nach zwei oder drei Zeilen so erschöpft, dass er, den Bleistiftstummel umklammert, wegsackte in einen Zustand, der weder Schlaf noch Ohnmacht war.

Am dritten Tag, während Eamon, der vor dem Keuchen und Wispern geflohen war, am Wasser stand und Luft in seine Lungen pumpte, hängte der Matrose eine zittrige Schleife ans Ende seines Namens und starb. Eamons Eltern, unentschlossen, was mit dem Toten zu tun war, schickten ihren Sohn noch einmal los, damit der Doktor sich des Falles annahm.

Zwei Tage später, der Leichnam lag mittlerweile in seine graue Wolldecke gewickelt und mit Brettern vor dem Regen geschützt neben dem Stall in der Kälte, kam ein schlechtgelaunter Beamter auf den Hof, stellte Papiere aus, die der Doktor unterschrieb und auf die Aidan McDermott einen schwarzen Daumenabdruck presste, und erteilte die Erlaubnis, den Fremden zu bestatten.

Nach weiteren zwei Tagen fuhr der Fischkutter Spéir aufs Meer hinaus, an Bord drei Mann Besatzung, Eamon und seine Eltern, ein seekranker Pfarrer und der tote Matrose. Der Pfarrer las bleich und schwankend ein paar Sätze aus der Bibel, danach bekreuzigten sich alle und murmelten ein Amen in den Wind. Hungrige Möwen warteten vergeblich darauf, dass etwas für sie abfiel. Statt unbrauchbaren Meeresgetiers rutschte die in weißes Tuch gewickelte Leiche auf einem Brett, das die beiden Söhne des Kapitäns über die Reling hoben, in die aufgewühlte See. Der Leichnam tauchte ins Wasser ein und schnellte wieder hoch, um dann rasch zu versinken. Eamon warf ihm heimlich den Schlüssel hinterher, begleitet von einem stummen Gruß, einer unausgesprochenen Entschuldigung.

Die Schafe bekamen ihren Stall zurück, die Decke wurde auf Paudraigs Bett gelegt, wo sie hingehörte, und das Boot, das den Matrosen nicht gerettet hatte, verkaufte Eamons Vater an einen Fischer. Das Geld reichte für die Bezahlung des Kapitäns und seiner Söhne, für das Leichentuch, das jetzt am Grund des Meeres lag, und eine Kerze in der winzigen Kapelle des Friedhofs von Kindrum. Es blieb sogar noch etwas übrig, mit dem ein neuer Kochtopf gekauft wurde.

Die graue Wolldecke, von deren Art in den folgenden Tagen und Wochen noch mehrere an die umliegenden Küsten geschwemmt wurden, sollte Eamon auf Geheiß des Vaters verbrennen. Doch Eamon wusch die Decke heimlich in einem Bach, ließ sie an einem Ast trocknen und legte sie dann zu der Truhe in den alten Dachsbau. Manchmal, wenn sein schlechtes Gewissen ihn zu erdrücken schien, holte er die Decke hervor und trug sie auf eine Felskuppe über dem Meer. Dort legte er sich hin, sah in den Himmel und strich mit den Handflächen über den groben Stoff, als könne er so nachholen, was er nie getan hatte. Er hatte den sterbenden Matrosen angepackt, herumgeschleppt und abgeladen. Er hatte ihn gefüttert, seinen Blick gemieden, gefürchtet. Wie einen Menschen berührt hatte er ihn nie.

Es gab keine festen Essenszeiten. Orla sorgte dafür, dass abends immer ein Topf mit etwas Warmem auf dem Herd stand. Davon konnte Eamon sich holen, wann er wollte. Seit Wilbur da war, setzte Orla sich mit dem Jungen zu den ungewöhnlichsten Zeiten in die Küche, um mit ihm ein Schüsselchen Brei, ein Butterbrot, einen Teller Suppe oder einen Pfannkuchen mit Ahornsirup zu teilen. Wenn der alte O’Reilly mit dem Fish-and-Chips-Wagen seine Runde einmal ausdehnte und vor dem McDermott-Haus auf die Hupe drückte, kaufte Orla ihm jedes Mal eine Tüte ab. Dann roch es in der Küche nach Fritteusenöl und Fisch und dem Essig, mit dem Wilbur seine Fritten getränkt haben wollte. Noch immer drückte der Junge nach jedem Bissen die Augen zu und verzog das Gesicht, aber nicht aus Ekel, sondern aus der gleichen absurden Verzückung heraus, mit der ein Trinker nach einem Schnaps Grimassen schneidet.

Nach dem Essen gingen sie in das Zimmer, das Orla eingerichtet hatte, während ihr Mann in Amerika war, um Wilbur zu holen. Sie hatte den dunkelgrün gestrichenen Wandverputz mit einem gebrochenen Weiß übermalt, hatte einen weichen blauen Teppich verlegen und eine neue Deckenlampe montieren lassen, hatte Vorhänge genäht, auf denen Marienkäfer liefen, eine Kommode, einen Schrank, einen kleinen Tisch und einen Stuhl gekauft, ein paar Bilder mit Motiven aus bekannten Märchen aufgehängt und schließlich das alte Bett ihrer Tochter weiß gestrichen und in die Mitte des Raumes gestellt.

Darin lag Wilbur jetzt, satt und glücklich und den Blick auf das Gesicht der Frau gerichtet, die er liebte. Orla saß neben dem Bett auf dem kleinen roten Stuhl und las ihm aus einem Buch vor. Es ging um Königstöchter und verwunschene Wälder, goldene Ringe und Tiere, die sprechen konnten. Wilbur wusste nicht, wovon die Rede war, und dennoch lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit.

Eamon hatte nichts von dem Stew gegessen, das seine Frau für ihn auf den Herd gestellt hatte. Wie jeden Tag war er nach dem Mittagstee zu Fuß die zweieinhalb Kilometer über sein Land bis zur Kirche gegangen, die wie eine dunkle Festung am Rand der mit farblosem Gras bewachsenen Klippe stand. Eamons Kirche war ein umgedrehter Kahn aus grauem Stein, kieloben in einem Meer aus windbewegten Halmen treibend, ein Bau ohne Fenster und Turm. Ein gekentertes Schiff, riesig und düster über dem Tosen der Brandung aufragend, erbaut von Männern, die wütend und ratlos davongelaufen waren, als er ihnen am Ende sogar eine Tür verweigert hatte. Eamons Kirche war eine Opfergabe an Gott, Sühnewerk einer verlorenen Seele, Grabmal eines Lebenden.

Dort, wo die Treppenstufen aufhörten, lag brackiges Wasser. Eamon ging gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, in der Haltung eines reuigen Sünders durch den Tunnel, dessen Wände und Decke aus grobem, mit Moos überzogenem Stein waren. Im finsteren Bauch des Gewölbes richtete er sich ein wenig auf, blieb in der Stille seines Atems stehen und wartete, stand da und wartete, dass Gott zu ihm sprach.

Eamon hatte sich in den langen Nächten, die still waren bis auf das Rauschen des Meeres und das gelegentliche Blöken von Schafen, einen Plan zurechtgelegt. Den ersten Schritt dieses Plans führte er aus, als er achtzehn Jahre alt wurde. Am Abend seines Geburtstags, an dem es als Geschenk eine Mütze aus Tweed und zum Essen für einmal Rind statt Schaf gab, sagte er seinen Eltern, er fahre mit dem nächsten Schiff nach Amerika. Die Mutter weinte, der Vater schwieg erst und trank noch mehr von dem Festtagswhiskey, der ihn einen guten Bock gekostet hatte. Als seine Zunge leicht wurde, verfluchte er das Land hinter dem Atlantik und die Flausen seines Sohns, als sie ihm schwer im Mund lag, nuschelte er von den Gefahren einer Schiffspassage und der Unsinkbarkeit irischer Hügel. Schließlich war er so betrunken, dass er bettelte, Eamon möge bleiben, nur um ihm wenig später laut brüllend eine gute Reise zu wünschen.

Eamon wartete nicht, bis sein Vater wieder nüchtern war. Er hielt seine Mutter lange im Arm und versprach, in einem Jahr zurückzukommen, holte das vor Tagen geschnürte Bündel aus dem Versteck in der alten, eingestürzten Scheune, die ungenutzt weit weg vom Haus hinter einer Baumgruppe stand, und machte sich auf den Weg nach Belfast. Dort wartete er mehr als fünf Wochen auf ein Schiff, das ihn in die Neue Welt brachte. Die Überfahrt bezahlte er mit ein paar der Goldmünzen, die er in den Schuhen bei sich trug und die ihm bei jedem Schritt versicherten, noch da zu sein.

In New York City wollte Eamon dann doch nicht mehr auf den Wolkenkratzern arbeiten. Alleine der Anblick ließ ihn schwindlig werden, und alles, wozu er sich überwinden konnte, war eine Fahrt im Aufzug und ein kurzer, ehrfürchtiger Blick von der Aussichtsplattform des Singer Building. Nach ein paar Tagen in der Stadt, die ihm mit ihrer Größe und dem Lärm und den vielen Menschen, Pferdefuhrwerken und Automobilen Angst einjagte, machte er sich per Eisenbahn, Postkutsche, Pferdekarren, Maultier und zu Fuß auf den Weg nach Colorado, kaufte ein Zelt, Lebensmittel, eine Schaufel und was man zum Überleben in der Wildnis braucht, suchte sich einen gottverlassenen Ort an einem namenlosen Seitenarm des mächtigen Flusses, hockte im Zelt, erkundete die nahe Umgebung und angelte.

Dreiundzwanzig Tage blieb er, fing Forellen, glaubte Wölfe zu hören und von Weitem Bären zu sehen, zählte nachts die Sterne und sang leise die Lieder, die er kannte. Jeden Tag holte er ein paar Goldstücke aus dem Lederkoffer, den er einem Italiener in Brooklyn abgekauft hatte, legte sie zwischen die Steine in den Fluss, hob sie auf, trocknete sie ab und steckte sie in einen Beutel. Das wiederholte er so oft, bis er tatsächlich glaubte, die Nuggets im klaren kalten Wasser gefunden zu haben.

Am Morgen des dreiundzwanzigsten Tages machte er sich, abgemagert, schmutzig und übersät mit Mückenstichen, auf den Rückweg nach New York. Er mietete sich in einem der besten Hotels eine Suite und engagierte einen arbeitslosen Lehrer aus Edinburgh, der ihm innerhalb von drei Monaten das Lesen und Schreiben beibrachte. Wie man sich kleidete, bei Tisch benahm und mit gebildeten Menschen unterhielt, lehrte ihn ein verarmter englischer Lord, der ihn auch gleich noch trinkfest machte. Nur ins Freudenhaus hatte Eamon sich nicht schleppen lassen, obwohl der Lord dort wieder Stammgast war, seit er in den gut bezahlten Diensten des jungen Burschen stand.

Vier Wochen später war er Passagier der ersten Klasse auf der Fahrt nach Belfast, dinierte mit Bankdirektoren, Plantagenbesitzern und Opernsängerinnen und wurde der Hauptdarsteller seiner erfundenen Geschichte. Der Ire Eamon McDermott, ein halbes Kind noch, der am Colorado River ein Vermögen fand und als gemachter Mann in seine Heimat zurückkehrte.

Die Kirche abtragen, Stein für Stein. Das monströse gekenterte Schiff zu einem Hügel aufschichten, einem Berg. Das war die Aufgabe, die Gott ihm gab, und Eamon machte sich an die Arbeit, alleine und mit bloßen Händen, wie Er es wollte. Den Bau nicht zerstören, ihn zu etwas Neuem formen, das dem Himmel näher war. Mit der Kraft seiner alten Arme, den geschrumpften Muskeln, die nach wenigen Stunden schmerzten. Den Hunger vergessen und die Kälte und den Regen, der als bauschender Schleier über die See kam, aufgeladen mit dem Licht einer verborgenen Sonne.

Niemand sah Eamon bei seiner Arbeit zu. Hätte ein Hirte oder Fischer aus der Gegend diesen Mann beobachtet, er hätte den Kopf geschüttelt und sich abgewandt. Nun war Eamon endgültig verrückt geworden. Eamon McDermott, der vor über vierzig Jahren aus dem gepriesenen Land zurückgekehrt war, die Taschen voller Geld, der nicht mehr redete wie die Leute hier, der neben dem Steinhaus seiner Eltern ein neues bauen ließ, das erste mit elektrischem Licht, der eine Fremde aus Connemara brachte, der kein Schaf auf seinen Weiden duldete, der seltsam war und ein Glückspilz und eine verwirrte Seele. Eamon, Sohn des Aidan und der Nuala McDermott, der eine Kirche errichten ließ, ein Ungetüm aus grauem Schiefer, fensterlos, lichtlos, gottlos. Ein umgedrehtes Schiff, das keiner betrat außer ihm. Und das er jetzt zerlegte, unter dem Regen gebückt, stoisch, mit hartem Gesicht und verlorenem Verstand.

Als Wilbur eingeschlafen war, blieb Orla neben dem Bett sitzen und sah den Jungen an. Er hatte die Augen ihrer Tochter, die Lippen. Oft blieb sie sitzen, bis es dunkel war, bis sie ihren Mann hörte, der in der Küche etwas aß und dann ins Schlafzimmer ging, bis es ruhig war im Haus und sie nichts mehr hörte außer Wind und Wellen. Dann ging sie leise zur Tür, ließ die Blume im Lampenschirm aufleuchten und verließ, einen letzten Blick auf den schlafenden Jungen werfend, den Raum.

Am liebsten hätte sie ein Bett in Wilburs Zimmer gestellt und neben ihm geschlafen statt neben Eamon. Die Luft schien in den Jungen hineinzuströmen, Eamon schnappte röchelnd nach ihr wie ein Fisch an Land, wie ein Hund nach einer Fliege. Wilbur verzog im Schlaf den Mund, griff mit den Händen ins Leere, schloss die Fäustchen um etwas, das seine Träume durchzog, Eamon wälzte sich herum, ächzend, ein Felsbrocken am Grund eines gewaltigen Flusses. Wilbur roch nach Leben, Eamon verströmte einen Geruch nach Erde, Schweiß und Tod.

Orla versuchte sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal mit diesem Mann, der in Unterwäsche und Socken neben ihr lag, geschlafen hatte, aber es war ihr nicht einmal möglich, den Monat oder das Jahr zu nennen, in dem sie ihn zuletzt geküsst oder umarmt hatte. Sie lag da und betrachtete ihn, hörte dem feuchten Rasseln zu, das ihm stoßweise entfuhr, und war erleichtert, dass sie wenigstens noch wusste, warum sie sich damals in ihn verliebt hatte.

Eamon hatte den beiden Schwestern im Hotel, wo er wohnte, ein Zimmer bezahlt, denn in der Nacht des St. Patrick’s Day war es spät geworden. Am nächsten Tag holten sie Orlas und Deirdres Gepäck aus dem Bed & Breakfast und aßen mit ihrem Gönner in einem piekfeinen Restaurant zu Mittag. Aus den von den Schwestern geplanten drei Tagen Dublin wurde eine Woche. Den Eltern in Galway richteten sie aus, sie teilten ihr Geld so gut ein, dass es länger reiche als erwartet. Die Wahrheit war, dass sie im Geld schwammen, in Eamons Geld. Der junge Mann aus dem Küstenkaff im Nordwesten war eine lokale Berühmtheit, und Orla und Deirdre gefiel es, sich in seinem Glanz zu sonnen.

In der Irish Times war wenige Wochen zuvor ein Artikel erschienen, der ihn als Abenteurer bezeichnete, als Glücksritter, der in der Wildnis Amerikas mit Grizzlys gekämpft und das dem Fluss abgerungene Gold gegen Banditen verteidigt hatte. Die Hälfte des Artikels bestand aus den Lügengeschichten des Reporters, die andere aus denen Eamons. Das ein zige, was stimmte, waren sein Name, seine Herkunft und die Tatsache, dass er sehr reich war. Die bessere Gesellschaft Dublins lud ihn zwar nicht zu ihren Partys und Bällen ein, doch noch Monate nach seiner Rückkehr aus Amerika war er bei jedem Auftritt die Quelle von Ge rüchten und das Ziel von Bewunderung und Neid. Vor allem die Da menwelt schwärmte von dem Burschen mit dem zwischen Schüchternheit und Angeberei flirrenden Blick und dem verschwenderischen Herzen und setzte ihn ganz oben auf ihre Liste der begehrtesten Junggesellen.

Aber Eamon machte sich weder aus den rauschenden Festen noch den dazugehörenden Frauen etwas. Oft blieb er tagelang in seiner Hotelsuite, hörte Musik aus dem Grammophon und trank französischen Rotwein, auf dessen Geschmack ihn der englische Lord gebracht hatte. Das schlechte Gewissen und der Kummer, die seit dem Tod des Matrosen seine steten Begleiter waren, konnte er nicht ertränken, das war ihm nach vielen Versuchen klargeworden. Immerhin half der Alkohol, ihn in eine Dämmerwelt zu verfrachten, in der seine Sünden weniger schwer wogen und das in Stein gemeißelte DU SOLLST NICHT STEHLEN etwas an Kontur verlor und irgendwann in einem Meer aus Bedeutungslosigkeit verschwamm.

Manchmal bewirkte der Wein aber auch das genaue Gegenteil, holte die versunkenen Bilder des Sterbenden aus dem Dunkel und ließ sie vor Eamon aufblitzen, flammende Mahnungen eines Gottes, der nichts ungesühnt lassen würde. Dann warf Eamon sich, falls er nicht schon lag, auf den Teppich und heulte und schrie so lange, bis der Hoteldirektor persönlich kam, die Tür mit dem Universalschlüssel aufsperrte und den schluchzenden Gast beruhigte, indem er eine Wolldecke über ihn breitete, während der Empfangschef die Neugierigen auf dem Flur abwimmelte. Die Dunkelheit unter der Decke ließ Eamon langsamer atmen. Das Gefühl auf seiner Hand, die getätschelt wurde, und die von der monotonen Stimme des Direktors heruntergeleierten Sätze, die Börsenmeldungen sein mochten, Kinderreime und Gebete, machten ihn weich, ergeben.

Leise winselnd und benommen vom Alkohol, legte er schließlich den Kopf auf den Teppich und schlief ein, im Traum weiterhin mit sinnlosen Worten versorgt, obwohl der Direktor das Zimmer längst verlassen hatte. In diesen Träumen liefen die Bilder rückwärts durch Eamons Kopf, vom glitzernden Fluss zur mondhellen Bucht. Immer wieder trat er als Siebzehnjähriger aus dem Haus und ging zum Strand hinunter. Noch einmal sah er das Boot und darin den Matrosen, und noch einmal trug er den Bewusstlosen an Land. Doch im Traum bestahl er ihn nicht, ließ die Truhe im Boot und rief seine Eltern. Der Doktor kam rechtzeitig und rettete den Seemann, der allen so dankbar war, dass er seinen Schatz mit ihnen teilte. Im Traum, der guten Version der Geschichte, wurde seine Mutter nicht krank, während er mit dem fremden Gold in Amerika war, um sich eine Legende zu seinem Reichtum anzueignen. In diesem Traum starb sie nicht an einer harmlosen Infektion, die man mit Geld in einem Krankenhaus hätte behandeln können. In diesem Traum war er ein Kind, dumm und wunschlos und ohne Schuld.

Orla lag wach und lauschte dem leisen Wimmern ihres schlafenden Mannes, dessen Rücken im Dunkel neben ihr aufragte als weiße Mauer. Eamon träumte, das wusste sie, und dass es schlechte Träume waren, ahnte sie, obwohl er ihr nie etwas erzählt hatte. Die Worte, die er murmelte, verstand sie nicht, obwohl es immer dieselben waren, seit Jahren. Gab es diese Worte überhaupt, war es eine Sprache? Gälisch vielleicht, das sie als Kind nicht gemocht und als Studentin in England vergessen hatte? Oder stieß er nur Töne aus, hastig genuschelte Laute, die einem wiederkehrenden Muster folgten?

Er roch nach der Erde, in der er begraben werden wollte. Schwere, dunkle Erde, in der er versunken war als Knabe, die bedeckt war mit dem Kot der verhassten Schafe. Weicher, dampfender Boden, den er verlassen hatte und den er mit jeder Faser vermisste, als ein Ozean ihn davon trennte. Neben seiner Mutter wollte er liegen, fünf Schritte von seinem Vater entfernt, der seine Frau um zwei Jahre überlebt hatte, eine Seltenheit in einem Land, wo die Männer lange vor den Frauen starben. Zwei Jahre, während denen Aidan McDermott in Wohlstand dahinvegetierte, das Leben umgekrempelt von einem Sohn, der am Vater eine geheime Schuld abtrug, ihn in eine Wohnung in Dublin steckte, versorgt von Dienstboten, umgeben von Toastern, Badewannen und so viel Sauberkeit, dass der Alte auf den Boden schiss, um noch einmal Dreck zu riechen, auch wenn er nicht von Schafen kam.

Aidan McDermott, von dem es ein Foto gab, ein teures Studiobild, auf dem ein zerknitterter Mann in einem schaufensterneuen Anzug artig lächelt, war auf den Fliesen des Badezimmers gestorben, mitten in der Nacht, als das Personal schlief und sein Sohn im Traum ein anderer, besserer Mensch war.

Orla stand auf und ging ins Bad. Sie machte das Licht nicht an, trank ein Glas Wasser und sah ihr Gesicht im Spiegel wie in der Oberfläche eines dunklen Sees. Eine Wolke stand hinter ihr, ein weißes zerknülltes Handtuch in einem Regal. Der Boden unter ihren nackten Füßen war kühl, auch das Waschbecken, auf das sie sich mit einer Hand stützte. Eamons Atemzüge drangen herüber, unregelmäßig und stockend. Sie nahm seinen Rasierpinsel, fuhr sich damit über den Handrücken, über die Wange. Er hatte sich geschnitten am Tag ihrer Hochzeit, so aufgeregt war er gewesen. Orla musste lächeln, noch immer und trotz allem, wenn sie daran dachte, wie nervös und tolpatschig Eamon gewesen war und wie ernst und beinahe ängstlich er in die Kamera geblickt hatte, als sie alle vor der Kirche in Letterkenny standen. Wie erleichtert er war, als das offizielle Programm vorbei war und die ganze Gesellschaft den Ballsaal eines Hotels in Beschlag nahm.

Paudraig, Eamons großer Bruder, der aus einem Land in Afrika angereist war, wo er mit seiner Truppe die Ansprüche Englands verteidigte, nahm seine Aufgabe als Trauzeuge ernst und hielt nach dem Essen eine Rede. Als er sagte, wie sehr er und Eamon sich wünschten, ihre Eltern wären hier, um mit ihnen zu feiern, fing Eamon an zu weinen. Er schluchzte in seine Serviette und hörte auch nicht auf, als Paudraig seine Ansprache mit einer taktvollen Bemerkung beendete und zögernd Beifall geklatscht wurde. Orla hatte Eamon an der Hand genommen, der Kapelle ein Zeichen gegeben und war mit ihm auf die Tanzfläche gegangen, wo sie ihren Mann, der sie um einen Kopf überragte, zu den Klängen eines Walzers in den Armen hielt, bis er sich beruhigt hatte.

Summte sie den Walzer? Sie stellte den Rasierpinsel zurück. Atemzüge. Liebe. Die Spanne eines ganzen Lebens. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie blickte in den See, fast bis zum Grund. Paudraig war kleiner als Eamon, aber muskulös und braungebrannt. Eine Narbe zog sich quer über seine Wange, eine geschwungene Furche vom Mundwinkel bis zum oberen Ohransatz. Orla war als einzige indiskret genug gewesen, ihn zu fragen, wie er sich diese Verletzung zugezogen hatte, und er erzählte von schwirrenden Gewehrkugeln und Glück und dem ewigen Lächeln, das seither in seiner rechten Gesichtshälfte stand. Er redete an diesem Fest, das nicht recht in Schwung kommen wollte, mehr als Eamon in den ganzen Monaten vor der Hochzeit. Seine Stimme war sanft und leise, und er schien selber voller Verwunderung zu sein über das seltsame Leben, von dem er berichtete. Er stand mit Orla an einem Fenster, durch das der Blick auf wehende Laken an einer Leine ging, trank Tee statt Schnaps und trug Geschichten vor vom Krieg und von Elefanten, vom Irrsinn des Tötens und vom Lachen der Hyänen. Er tanzte mit ihr, obwohl die Musik nicht mehr spielte. Paudraig McDermott starb am Biss einer Schlange, fern von zu Hause, das es nicht gab, unverheiratet, lächelnd.

Das Wasser kam aus der Erde, sie schüttete es weg, stellte das Glas auf das Regal. Eamon wisperte seine Litanei aus Wörtern, die keinen Sinn ergaben. Bereute sie den Tag? Das Wort? Trug sie den Ring überhaupt noch? Ja, da war er, ein Teil ihres Fingers, eingesunken ins Fleisch, ein Kreis aus Gold, der sich schloss, ein anderes Wort für Ewigkeit. Aber die Zeit hatte längst aufgehört, unendlich zu sein und voller Versprechen. Die ersten Jahre in Cork, die Schwangerschaft, die glücklichen Tage waren viel zu früh Erinnerung geworden, Maureen im sonnendurchfluteten Garten, am Ast der mächtigen Buche schaukelnd, für immer da und schon fort.

Sie hätte mitgehen sollen, als Maureen Irland verließ, um in Amerika zu leben. Stattdessen war sie bei Eamon geblieben, der Unsinn herunterbetete in der Dunkelheit, sich drehte, der Fels, nach Erde riechend. Eamon, der das Haus in Cork verkaufte, um in den Norden zu gehen. Der Land erworben hatte, alles, was rund um das Grundstück seiner toten Eltern zu haben war. Der einen Zaun bauen ließ, gegen die Schafe. Später ein Haus, das erste weit herum, das elektrisches Licht hatte. Ein Badezimmer mit Wanne. Das Badezimmer, in dem Orla jetzt stand und ihr Gesicht im Spiegel sah.

Wenn die Jahre in Cork einen Sinn ergaben, was war dann mit den Jahren danach? Den Jahren hier oben, in denen sie Eamon zusah, wie er ihrem Leben abhanden kam, wie er zweimal am Tag die gleiche Zeitung las, am Morgen von vorne nach hinten, am Nachmittag von hinten nach vorne. Wie er die Kirche bauen ließ, diesen umgedrehten Dampfer, der aus der Erde zu wachsen oder in ihr zu verschwinden schien. Wie er Tee trank, vor der Sonne stand, atmete. Wie er den Blick senkte, wenn er ein paar Worte an sie richtete, wie er tagelang schwieg. Orla drehte das Wasser auf und ließ es über die Hände laufen, warm. Sie hörte Maureens Stimme, die knisterte, als käme sie aus dem Radio, als wäre sie nicht echt, eine Erfindung. Warum hatte ihre Tochter ihr nicht gesagt, dass sie geheiratet hatte, dass sie schwanger war? Orla wäre nach Philadelphia geflogen, auch ohne Eamon. Sie wäre bei Maureen gewesen, in deren Bauch ein Kind wuchs. Vielleicht wäre alles anders geworden, Maureen wäre nicht gestorben, es wäre kein Brief aus Amerika gekommen, in dem stand, sie sei kremiert worden und ihre Asche zur Abholung bereit. Wo war Lennard Arne Sandberg, warum hatte er seine tote Frau und seinen neugeborenen Sohn verlassen und war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben?

Orla drehte das Wasser ab und setzte sich aufs Bett. Eine Weile sah sie ihren Mann an, dann nahm sie seine Hand und tätschelte sie sanft. Seine Handballen und Fingerkuppen waren aufgerissen und rauh, an manchen Stellen spürte sie Brandwasser unter Blasen. Er flüsterte ein Wort, und als ob sie ihn gebeten hätte, es zu wiederholen, flüsterte er es noch einmal, und es klang wie Himmel. Dann drehte er sich im Schlaf um und zog seine riesige Hand aus der kleinen von Orla, holte Luft in das unbehauste Gewölbe seines Körpers und wurde still. Eine Wolke gab den Mond frei, Licht rann durch die Vorhänge und ließ die Urne auf dem Regal schimmern. Was übrigblieb von einem Menschen. MAUREEN stand in zittriger Schrift auf einem Stück Pappe, das Eamon mit Schnur um das runde Gefäß gewickelt hatte. Maureen, Morean, Mo, Sternchen, zu Staub geworden, das Herz Asche, grauer Puder, ein Nichts zwischen den Fingern.

Eine Weile blieb Orla noch sitzen, dann stand sie auf, nahm ihr Kissen und ihre Decke und ging über den Flur in Wilburs Zimmer. Sie sah sich satt an diesem Wesen, von dem Wärme aufstieg, legte sich auf den blauen Teppich, das Meer, das sie trug, und schlief endlich ein.

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