Als Wilbur aufwachte, war der größte Teil der Woche, für die er im Voraus bezahlt hatte, vorbei. Er zog die Kleider aus, in denen er geschlafen hatte, und ging ins Badezimmer auf dem Flur, um zu duschen. In frischer Unterwäsche, der alten Hose und dem zerknitterten Hemd setzte er sich in ein Imbisslokal und trank drei Tassen Kaffee. Nüchtern, wach und aufgeputscht vom Koffein, kam ihm seine Lage dermaßen trist und ausweglos vor, dass er gegen die Tränen kämpfte. Als die Kellnerin ihn besorgt ansah, legte er Geld auf den Tisch und verließ das Lokal.
Weil es kalt war und er trotz der dicken Daunenjacke fror, ging er zurück ins Hotel, wo ein paar der Gäste, ausnahmslos alte Männer, die Sessel und Sofas der Lobby besetzt hielten. Vom Portier, der nur tagsüber arbeitete und weit weniger gesprächig als sein Kollege von der Nachtschicht war, lieh er sich ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber, ging auf sein Zimmer und schrieb Alice einen Brief.
Später nahm er einen Bus zur Post, blieb sitzen und fuhr weiter bis in die Nähe des Reformkostladens. Seine Geldreserve schmolz, und er dachte daran, sich etwas von Ernest zu leihen, aber als er vor dem Schaufenster stand, kam er sich so erbärmlich vor, dass er wegging.
Eine Woche später arbeitete Wilbur für eine Transportfirma, deren Lastwagen den Hausrat von umziehenden Familien an den neuen Wohnort irgendwo in Amerika brachten. Weil Wilbur für das Schleppen von Möbeln und Kartons zu wenig kräftig und für das Fahren eines Gabelstaplers nicht qualifiziert war, wurde er einer Gruppe von zwei Männern und drei Frauen zugeteilt, die sich um das Verpacken kleiner und zerbrechlicher Güter kümmerten. Den ganzen Tag wickelte er in fremden Häusern Vasen, Lampen und Porzellanhunde in Luftpolsterfolie, meistens argwöhnisch beobachtet von Bediensteten oder den Hausfrauen, die das Einpacken ihrer Schätze zwar nicht selber besorgen, aber unbedingt überwachen wollten.
An den Wochenenden floh Wilbur aus der Enge seines Hotelzimmers in eine Gegend im Osten Brooklyns, in die sich Alice oder Ernest und Rebecca kaum verirren würden. Er fand ein libanesisches Lokal, wo es den Kellnern egal war, wenn er einen ganzen Nachmittag nur Kaffee trank und heimlich mitgebrachte Brote aß. Es kümmerte sie auch nicht, dass er einen ganzen Tisch mit Notizheften, Büchern aus der Bibliothek und den Seiten der Bruce-Willis-Biografie bedeckte, an der er nach einem längeren Unterbrechung wieder zu arbeiten begonnen hatte. In einem Anflug von Zuversicht, deren Ursprung Verzweiflung war, redete Wilbur sich ein, das fertige Manuskript schon bald bei einem Verlag unterzubringen und Geld dafür zu bekommen. Vor ein paar Tagen hatte er zudem eine alte Gewohnheit wieder aufgenommen und hielt sich in Internetcafés über das Privatleben von Willis auf dem laufenden, das die Betreiber zahlloser Fanwebseiten mit detektivischer Gründlichkeit und skrupelloser Neugier verfolgten. Obwohl er in seinem Buch keinen Klatsch aus zweiter und dritter Hand verwendete und sich auf die Karriere und Filme des Schauspielers konzentrierte, half ihm das Lesen dieser gesammelten Indiskretionen, die Verbindung zum Objekt seiner zwischenzeitlich abgekühlten Leidenschaft nicht zu verlieren.
In einem Ramschladen, der sich starrköpfig Freeman Antiquitäten nannte und dessen schwarzer Besitzer, Winston Freeman, den größten Teil des Tages damit verbrachte, auf einem Klappstuhl vor seinem Geschäft zu sitzen und für Passanten das Wetter vorauszusagen, kaufte Wilbur eine gebrauchte Reiseschreibmaschine, um die mittlerweile vierhundertfünfzig handgeschriebenen Seiten abzutippen. Weil er das im Restaurant nicht tun konnte und ihm sein winziges, schlecht geheiztes Zimmer nach einer Stunde zur finsteren, jeden Gedanken vernichtenden Zelle wurde, fragte er den Portier nach einem Ort im Hotel, wo es sich in Ruhe arbeiten ließe.
Randolph Byrd, gelernter Buchhalter und nach gescheiterten Ausflügen in die Gastronomie und Bekleidungsbranche auf dem Posten des stellvertretenden Geschäftsführers und Portiers des Hotels gelandet, erlaubte Wilbur, den Heizungsraum im Keller zu benutzen. Randolphs einzige Bedingung war, dass Wilbur nicht nur seine zukünftige Arbeitsstätte, sondern gleich den ganzen Keller aufräumte, eine Arbeit, die Wilbur fünf Tage kostete und in deren Verlauf er, neben viel Staub und Dreck, ein Dutzend von Holzwürmern zerfressene Bettgestelle, halb so viele Kommoden, vier museumsreife Waschmaschinen, drei Trockner und die Skelette zahlloser Ratten und zweier Tiere, die er für Katzen hielt, entsorgte.
Im unwahrscheinlichen Fall, dass jemand Wilbur suchte, fand man ihn abends und an den Wochenenden im warmen Bauch des Hotelgebäudes, wo er, Schaumstoffstöpsel in den Ohren, an einer zum Schreibtisch umfunktionierten Werkbank saß und sein Opus magnum in die Tasten der Smith Corona hämmerte, eingehüllt in das gedämpfte Wummern und Zischen der Ölheizung und das Gurgeln der Wasserleitungen über seinem Kopf. Manchmal arbeitete er die halbe Nacht durch, wach gehalten von Kaffee und der aus einer unbenennbaren Quelle gespeisten Gewissheit, etwas zu erschaffen, das brillant und einzigartig war und sich zudem verkaufen ließ. Doch neben den Momenten vorweggenommener Triumphe gab es Nächte und ganze Wochenenden, an denen Wilbur sein Werk hasste. Je mehr The Life And Death Of Bruce Willis die Form eines Buches, zumindest aber die leidlich sauber getippte Ordnung und den Aufbau eines vorzeigbaren Typoskripts annahm, desto weniger Sinn sah er in dessen Fertigstellung. Er saß in seiner überheizten, gluckernden Katakombe und las das Kapitel über den Film Twelve Monkeys, das er vor einer Woche in einem flüchtigen Rausch der Eitelkeit noch als genial bezeichnet hatte, und kämpfte gegen den Drang, das Papierbündel in einem bereitstehenden Blecheimer zu verbrennen. Eine Woche später überflog er die Seiten, die sich Willis’ Rolle in Pulp Fiction widmeten, und konnte sie nur vor der blindwütigen Vernichtung retten, indem er sie auf der Werkbank liegen ließ und nach oben stürmte, hinaus auf die Straße und in die eisig kalte Wirklichkeit, die ihn daran erinnerte, dass er für sein Zimmer bezahlen und essen musste und dass er schon zu viel Arbeit in das Buch investiert hatte, um es jetzt in einen Haufen Asche zu verwandeln.
So schleppte er sich durch die Tage und Seiten, sah sich in der einen Woche als begnadeten Autor und in der nächsten als weltfremden Trottel, der seine Zeit verschwendete. Allen Zweifeln und Rückschlägen, Wutausbrüchen und Vernichtungsphantasien zum Trotz war das Buch am letzten Februartag fertig. Wilbur ließ die zweihundertachtzig Seiten, auf die er sein Werk gekürzt hatte, fotokopieren und in drei Exemplaren heften. Schon während der Recherchen und vor dem Schreiben der ersten Zeile hatte er drei auf Filmbücher spezialisierte Verlage ausgesucht, deren Interesse zu wecken er überzeugt war, doch als er die Pakete zur Post brachte, wusste er nicht, ob er seine Leistung bewundern oder sich für die Selbstgefälligkeit schämen sollte, zu der er sich im flammenden Begleitbrief hatte hinreißen lassen.
Eine positive Begleiterscheinung des ungezügelten Schreibens war Wilburs völliger Verzicht auf Alkohol. Er hatte von Schriftstellern gelesen, die betrunken zur Höchstform aufliefen, aber bei ihm funktionierte das nicht. Die Seiten, die er unter dem Einfluss von Wodka und Papayasaft in wahnwitzigem Tempo herunterschrieb, erwiesen sich bei nüchterner Betrachtung als unbrauchbar. Außerdem gefährdete die Trinkerei seinen Job bei der Transportfirma. Ein einziges Mal war er leicht verspätet und verkatert zur Arbeit erschienen und von Octavio, dem mexikanischen Chef der Verpackungstruppe, verwarnt worden. Weil es keine zweiten Verwarnungen gab und Wilbur so lange auf das Geld von Stockton Transportation Limited angewiesen war, bis ihm einer der drei Verlage einen Vorschuss bezahlen würde, hatte er mit dem Trinken aufgehört, war von einem Tag auf den nächsten trocken geworden. Wenn die Last der Gedanken an seinen Vater oder Alice gedroht hatte ihn zu erdrücken, war er statt in einer Bar in seiner blubbernden, klappernden Hölle verschwunden und hatte sich mit stickiger Luft und düster leuchtenden Sätzen benebelt.
Jetzt, wo das Buch fertig war und es keinen Grund mehr gab, Stunden und Tage im Heizungsraum zu verbringen, außer vielleicht dem, sich aufzuwärmen, wunderte Wilbur sich nachträglich, wie leicht ihm der Verzicht auf Alkohol gefallen war. Eine Zeitlang versuchte er, ein neues Buch zu schreiben, eine Art Lexikon der kaputten Filmhelden, las Bücher über James Cagney und Humphrey Bogart und Clint Eastwood, gab das Projekt aber nach wenigen Tagen wieder auf. Er verschickte Briefe an die New York Times und mehrere Szeneblätter, in denen er sich als Filmkritiker anbot. Den Anfragen legte er fotokopierte Auszüge aus dem Kapitel über Twelve Monkeys bei und ließ das baldige Erscheinen seines Buches nicht unerwähnt. Die Village Voice und The Onion waren die einzigen, die antworteten. Beide bedankten sich bei Wilbur und brachten ihm mehr oder weniger diplomatisch bei, dass seine Qualifikationen für eine Tätigkeit als freier Mitarbeiter nicht ausreichten. Der Redakteur der Onion war sogar mitfühlend oder sarkastisch genug, Wilbur die Besprechung seines Buches in Aussicht zu stellen, sobald es erscheine.
Diese Absagen und die Tatsache, dass er kein zweites Buch würde schreiben können, waren der Grund, weshalb Wilbur der Aufenthalt im Heizungsraum und der Anblick der Schreibmaschine unerträglich wurden. Er brachte die Schreibmaschine zurück in den Trödelladen und tauschte sie gegen eine Wollmütze, ein Paar Lederhandschuhe und einen Stapel Taschenbücher.
Am ersten Sonntag im März wachte Wilbur ungewöhnlich früh auf. Es war kalt im Zimmer, aber durch die Vorhänge drang Sonnenlicht, in dem ein Universum aus Staubpartikeln glitzerte, sachte bewegt vom Luftzug, der durch das undichte Fenster wehte. Wilbur zog sich an, ging ins Bad und dann hinunter in die Lobby, wo auf einem der Sofas Elwood in seinem besten Anzug saß.
«Guten Morgen!«rief Elwood. Rasiert, gekämmt und im Sonntagsstaat erinnerte er kaum noch an den schlampigen alten Kerl, der tagelang im selben schmuddeligen Trainingsanzug und Badelatschen herumgammelte.
«Morgen«, sagte Wilbur. Er sah sich um, aber außer Elwood war niemand da. Dann erinnerte er sich daran, dass Leonidas am Samstag nur bis Mitternacht arbeitete und Randolph heute erst um zehn auftauchen würde.
«Aus dem Bett gefallen?«fragte Elwood so ernst, dass die scherzhafte Frage besorgt klang.
Wilbur lachte höflich. Das war tatsächlich das erste Mal, dass er um diese Zeit schon wach war. Üblicherweise schlief er am Wochenende bis zehn oder elf. Weil Madame Robespierre sonntags nicht arbeitete, frühstückte er in der Nähe des Hotels und brach dann zu einer langen Wanderung durch die Quartiere auf, eine Gewohnheit, die er nach Beendigung des Buches wieder aufgenommen hatte.
«Ich geh spazieren«, sagte er, setzte die Mütze auf und nahm die Handschuhe aus den Taschen der Daunenjacke.
«Was?«Elwood reckte den Hals, legte eine gekrümmte Hand ans Ohr und zog eine Grimasse, ein Denkmal der Schwerhörigkeit.
«Spazieren«, sagte Wilbur lauter, machte ein paar Schritte auf der Stelle und schlenkerte mit den Armen.
«Ein prächtiger Tag dafür«, sagte Elwood und nickte eifrig. Er roch nach Rasierwasser und Seife, seine Schuhe waren poliert, und neben ihm lag ein schwarzer Filzhut, der heute die Baseballkappe der Dodgers ersetzte.
«Und Sie?«fragte Wilbur, halb aus Höflichkeit, halb aus Neugier.»Warum so früh auf?«Er war näher an Elwood herangetreten und sprach laut und deutlich.
«Oh, ich werde abgeholt«, sagte Elwood.
Wie zur Bestätigung klopfte jemand von draußen an die Scheibe. Elwood stemmte sich aus dem Sofa, setzte den Hut auf und ging durch die von Wilbur offen gehaltene Lücke im schweren Vorhang, der die kalte Luft von der Lobby fernhielt. Wilbur machte die Tür auf, die ohne Schlüssel nur von innen zu öffnen war, und trat hinter Elwood ins Freie. Als Elwood auf dem Treppenabsatz stolperte, hielt Wilbur ihn am Arm fest.
«Hoppla. Geht’s?«
«Ja«, sagte Elwood beschämt über seine Gebrechlichkeit.»Danke.«
Der Mann, der ans Fenster geklopft hatte, kam auf sie zu. Er war klein und schmal, und seine krausen Haare schimmerten im Morgenlicht wie Stahlwolle. Wilbur vermutete, dass er in seinem dünnen schwarzen Anzug fror.
«Sie schickt der Himmel!«rief der Mann an Wilbur gewandt.»Guten Morgen, Elwood.«
«Morgen, Leroy«, sagte Elwood, der sich bei Wilbur untergehakt hatte und mit vorsichtigen Schritten auf einen vor dem Hotel geparkten weißen Kleinbus zuging. Leroy schob die Tür auf und half Elwood in den Wagen, in dem schon mehrere alte Frauen und Männer saßen. Ein Kanon aus Begrüßungen wurde angestimmt.
«Mein Name ist Leroy Perkins«, sagte Leroy und streckte Wilbur die Hand entgegen.
«Wilbur«, sagte Wilbur und ließ sich die Hand schütteln.»Sandberg.«
«Sie sind ein Freund von Elwood?«
«Nun ja, ich kenne ihn erst seit… ich weiß nicht… noch nicht sehr lange.«
Leroy strahlte, als sei das eine wundervolle Nachricht.»Es ist schön, wenn die Jungen sich um ihre älteren Mitmenschen kümmern«, sagte er und deutete dann auf den Kleinbus.»Sie müssen sich leider hinten reinquetschen. Donna hat ein schlimmes Bein.«
Auf dem Beifahrersitz saß angeschnallt eine runzlige, herausgeputzte Frau von mindestens achtzig Jahren und blickte konzentriert nach vorne, als würde das Auto fahren. Die Alten auf den Bänken im Fond rutschten enger zusammen. Ein Mann winkte Wilbur zu.
«Oh, ich glaube nicht, dass ich…«
«Ach was, das geht schon«, sagte Leroy und legte Wilbur die Hand auf den Arm.»Wir hatten mal ein Dutzend Leute da drin. «Er lachte.»Stimmt’s?«rief er. Aus dem Bus kam zustimmendes Gemurmel, dann, von ganz hinten, eine dünne Frauenstimme:»Es ist kalt. Warum ist die Tür offen?«
«Es geht gleich weiter, Rose«, sagte Leroy. Er schob Wilbur mit sanftem Druck in den Wagen, schloss die Schiebetür, setzte sich ans Steuer und fuhr los.
Wilbur saß in einer Duftwolke aus schwerem Parfüm, Rasierwasser, Schuhcreme und Mottenkugeln, beantwortete tausend Fragen und sah, wie sie über die Queensboro Bridge nach Manhattan fuhren. Sie hatten unterwegs noch zweimal angehalten. Einmal, um einen alten, gelähmten Mann aus seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses mit kaputtem Fahrstuhl zu tragen, und einmal, um in einem Gemeindesaal und der Gesellschaft von mindestens hundert Menschen ein Frühstück einzunehmen, das nicht zufällig mit so exotischen Speisen wie Stockfisch und Bananenbrot aufgewartet hatte, sondern weil Madame Robespierre eine der Köchinnen war. Mit ihrer Anwesenheit war Wilbur auch die Verbindung zwischen Elwood und der Sonntagsgesellschaft klargeworden, in deren Mitte er inzwischen freiwillig und immer entspannter durch die Gegend fuhr. Als die Hotelköchin ihn entdeckt hatte, was nicht lange dauerte, da Wilbur der einzige Weiße in dem mit Kreppblumen geschmückten Raum war, hatte sie ihn, perlende Melodien der Überraschung und Freude singend, umarmt wie einen verschollenen Verwandten.
«Mein Sohn hat mich gestern in der Badewanne vergessen«, sagte der Mann zu Wilburs Linken und grinste, als betrachtete er den Vorfall als gelungenen Streich.»Eine ganze Stunde. «Er hatte schlohweißes Haar und trug eine Sonnenbrille. Sein Mantel war ihm zu groß, die Hände verschwanden in den dunklen Höhlen der Ärmel.
Wilbur stellte sich die Situation schrecklich vor.»Wie unangenehm.«
«Oh, überhaupt nicht«, sagte der alte Mann fröhlich.»Ich habe immer wieder heißes Wasser nachgefüllt. «Jetzt strahlte er, noch immer stolz auf sein bestandenes Abenteuer.
«Da hatten Sie aber Glück«, sagte Wilbur, und sein Sitznachbar nickte. Wilbur überlegte, ob er ihm von seiner Angst vor Badewannen erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben und sah aus dem Fenster. Sie bogen auf die Lexington Avenue ab und fuhren nördlich in Richtung Harlem. Beim Frühstück, das für Wilbur trotz des üppigen Angebots nur aus einem Pfannkuchen und einer Tasse Kaffee bestanden hatte, hatte Elwood ihm erzählt, dass sie auf dem Weg zu einem Gottesdienst seien. Wilbur hatte sich so etwas Ähnliches gedacht und verwarf den aufflammenden Gedanken an Flucht, als Leroy ihm ein Stück Schokoladenkuchen an den Tisch brachte und sich für seine Hilfe mit den alten Leuten bedankte.
Der Gottesdienst fand in einem Gebäude am Martin Luther King Boulevard statt, dessen Fassade mit keinem Wort oder Symbol auf einen religiösen Versammlungsort, geschweige denn eine Kirche hinwies. Am Eingang stand eine junge Frau und hieß die Besucher willkommen, plauschte mit einigen und ermahnte die Kinder gespielt streng, sich heute ausnahmsweise zu benehmen. Wilbur und Leroy trugen Carl, den gelähmten Mann, in den Saal und setzten ihn auf eine der Bänke. Als Leroy der Frau an der Tür seinen neuen Freund vorstellte, schien sie so erfreut über das Erscheinen des weißen, hilfsbereiten Jungen zu sein, dass Wilbur von einer Welle aus Verlegenheit und leiser Panik überschwemmt wurde. Er spürte, wie er rot anlief, und war froh, als Leroy meinte, sie sollten sich beeilen, bevor die Leute im Bus Dummheiten machten. Die Frau lachte und begrüßte zwei junge Männer mit Instrumentenkoffern. Wilbur half einer alten Frau, die sich ihm als Millie vorstellte und beteuerte, ihr besseres Kleid sei in der Reinigung, zu ihrem Platz.
Nachdem alle Gebrechlichen drinnen waren, setzte Wilbur sich neben Leroy und Carl und wartete, was passieren würde. Der lange, schmale Raum machte auf ihn den Eindruck eines ehemaligen Ladens, den man leergeräumt und mit einer niedrigen Bühne, mehreren Lautsprecherboxen, Sitzbänken und Plastikstühlen ausgestattet hatte. Auf dem mit rotem Teppich verkleideten Podest saßen ein Klarinettist, ein Trompeter, ein Saxofonist, ein Gitarrist, ein Percussionist, zwei Keyboarder und, hinter einer Plexiglaswand, ein Schlagzeuger. Während die Musiker, junge Burschen in dunklen Hosen und weißen T-Shirts und alte Männer in Anzügen, ihre Instrumente stimmten und Notenblätter sortierten, rollten zwei Männer eine Kanzel in den freien Raum zwischen dem Podest und den Besucherbänken, schlossen ein Mikrofon an einen Verstärker an und begrüßten gleichzeitig die Leute, die noch immer hereinkamen.
Kurz vor halb zehn spielte die Band das erste Lied. Die Lautstärke, mit der die Musik aus den Boxen dröhnte, war für Wilbur ein Schock, schien den Leuten um ihn herum aber völlig angemessen zu sein. Leroy lächelte ihm breit zu und klatschte rhythmisch in die Hände. Der alte Mann hatte die Sonnenbrille nicht abgesetzt und ruckte mit dem Kopf. Nach etwa zehn Minuten verstummte ein Instrument nach dem andern, bis nur noch die wogenden Töne eines Synthesizers übrigblieben. Vier Frauen und drei Mädchen kamen aus einem Nebenraum herein und stellten sich vor die Bühne, wiegten sich im Wellengang der Melodie, die Augen geschlossen, hingebungsvoll, schüchtern. Eine der Frauen trug ein bodenlanges lilafarbenes Kleid mit Stickereien und einen gelben Turban, eine andere weiße Leggins und einen weißen Pullover. Die Mädchen steckten in dunkelblauen Hosen und Pullovern und machten auf Wilbur den Eindruck, als wären sie lieber woanders.
In der Reihe vor Wilbur saßen vier Kinder, die ihn, das Kinn auf der Banklehne, unverwandt anstarrten, obwohl eine stämmige Frau den ältesten Jungen immer wieder am Kragen seines Anzugs packte und umdrehte. Die Frau trug ein weites, mit Rüschen verziertes Kleid aus billardtischgrünem Stoff, weiße, bis zu den Ellbogen reichende Handschuhe und ein von künstlichen Blumen und Efeu überwuchertes Hütchen. Wilbur schnitt den Kindern eine Grimasse, was diese gänzlich unberührt ließ, und blickte dann beharrlich nach vorne.
Der Mann am Synthesizer, dessen baumlanger Körper das Instrument zum Spielzeug machte, senkte den bärtigen Kopf zu einem Mikrofon herunter und begrüßte die Leute, die teilweise aufstanden, fröhlich zurückriefen und den Herrn priesen. Dann intonierte der Mann ein Kirchenlied, das Wilbur noch nie zuvor gehört hatte, und der Chor und ein Großteil der Besucher stimmten mit ein. Nachdem Gesang und Orgelklänge verstummt waren, betrat ein gutaussehender, elegant gekleideter Mann von etwa Mitte vierzig den Raum und stellte sich hinter das mobile Rednerpult.
«Das ist mein Cousin Dexter«, sagte Leroy zu Wilbur.»Seine Predigten sind legendär.«
Wilbur lächelte, nickte. Er hatte das Gefühl, als trage er Kopfhörer, in denen es summte. Leicht besorgt fragte er sich, ob dieses Summen aus den Boxen kam oder in seinen Gehörgängen entstand als Folge der lauten Ouvertüre.
Nach einem zwischen Bühne und Bankreihen hin und her fliegenden Begrüßungsritual hob der Reverend zu einer Predigt an, die über eine halbe Stunde dauerte und nur gelegentlich von bestätigenden Zwischenrufen und dem Echo des Riesen am Synthesizer unterbrochen wurde. Diese kurzen, effektvollen Pausen nutzte der Mann hinter der Kanzel, um sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu tupfen oder ein paar Schritte im Kreis zu gehen und seine mal warnenden, mal drohenden und sparsam tröstenden Worte auf seine Zuhörerschaft wirken zu lassen.
Am vermeintlichen Ende seiner Predigt stimmte er ein weiteres Lied an, und alle außer Wilbur und den Kindern sangen mit. Die Frau mit dem Turban hatte sich das Mikrofon genommen, und nach mehreren Rückkoppelungen drang ihre leicht verzerrte Stimme aus den schwarzen Boxentürmen, deren Leistung ausgereicht hätte, um einen Flugzeughangar zu beschallen. Alle außer Carl, Donna, Millie und einer alten Frau, die man zwischen den Bankreihen im Rollstuhl geparkt hatte, standen, klatschten im Takt in die Hände und sangen oder bewegten zumindest die Lippen. Wilbur, verstört und aufgewühlt und halb taub, klatschte mit und versuchte, etwas vom Liedtext aufzuschnappen, verstand aber nur einzelne Worte wie Herr oder Vertrauen und Angst.
Zu Wilburs Überraschung baute sich der Mann im Maßanzug nach dem Lied erneut hinter der Kanzel auf und setzte seine Predigt fort. Immer wieder stellte er seinen Zuhörern Fragen, die diese mit lauten Ja- oder Neinrufen beantworteten. Wie ein Lehrer oder Quizmaster lobte er seine korrekten Schüler, sein untadeliges Publikum, schmückte die Antworten mit traurigen Schicksalen aus, mit feurigen Mahnungen und im grellen Licht der Gnade leuchtenden Versprechen auf ewiges Leben. Dann betupfte er seine glänzende Stirn und holte zu einer neuen Frage aus, untermalt von den Orgelklängen des Riesen, der schwitzte und mit dem Kopf wackelte und jedes sinnbefrachtete Wort und jede bedeutungsschwere Phrase wiederholte. Dazwischen blitzten die Rufe aus dem Saal auf, Amen, Gelobt sei der Herr, Halleluja, kleine Funken im Gewitter des Glaubens, das sich über Wilbur entlud.
Elwood, der ein paar Plätze neben Wilbur saß, schien zu schlafen. Vielleicht hatte er auch nur die Augen geschlossen, um andächtig zu lauschen. Wilbur machte die Augen ebenfalls zu. Er war müde, wünschte sich, er hätte mehr Kaffee getrunken und weniger gegessen. Das Summen in seinen Ohren war noch da. Der Prediger, ein Wahlkampfhelfer in einer Hochburg Gottes, sprach von Verbrechen und Bestrafung, von Schuld und Buße, von Reue und Vergebung und der jedem Menschen gegebenen Macht, die Wendungen des eigenen Schicksals zu bestimmen. Wilbur trieb auf dem Floß dieser Stimme über ein Meer aus Schläfrigkeit und Zweifel, bis die Musik erneut alles Leben im Raum in einen Block aus Lärm goss und mit hämmernden Bässen und übersteuerten, klirrenden Höhen gegen seinen Kopf schlug.
Als er die Augen öffnete, waren die Leute um ihn herum wieder aufgestanden und klatschten ihren eigenen, beseelten Takt, während der Prediger in einem Nebenzimmer verschwand und die Kinder nach vorne gingen und sich im Chor versteckten wie in einer Baumgruppe. Die Frau vor Wilbur hob beide Arme, wodurch ihre zahllosen Armringe klimpernd zu den Ellbogen rutschten. Sie legte den Kopf in den Nacken, flatterte mit den Händen und trat von einem Fuß auf den anderen, ein bebender grüner Hügel, auf dessen Spitze Blumen wuchsen. Die Musik drehte sich in einer rasenden Schleife, einer endlosen Wiederholung, als probte das Orchester in sturem Wahnsinn die läppische Tonfolge einer Eröffnung, dann hob die Frau mit dem Turban das Mikrofon an die Lippen und sang.
Wilbur blieb sitzen. Auf die Gefahr hin, Leroy zu beleidigen, hätte er sich die Ohren zugestopft, wären Papiertaschentücher in seiner Jacke gewesen. Sein Kopf schien anzuschwellen, seine Gehörgänge fühlten sich wund an. Er malte sich ein Leben in Taubheit aus. Für einen Moment dachte er an den Kaugummi, der bestimmt unter den Sitzbänken klebte und sich zu Pfropfen formen ließe, während es den in Verzückung Schwankenden offenbar nicht laut genug sein konnte. Wilbur fragte sich, ob mit ihm etwas nicht stimmte, ob sein Trommelfell vielleicht so mickrig geraten war wie der Rest von ihm. Versunken im Schmerz, erwog er die Möglichkeit, Lärmempfindlichkeit habe etwas mit der Hautfarbe zu tun, verwarf diese absurde Theorie jedoch gleich wieder und sah sich verstohlen um, ob jemand seine Gedanken gelesen hatte. Elwood wippte vor und zurück, ein Schilfhalm in der Brandung der Musik. Jetzt wurde Wilbur klar, warum der alte Mann ihn nie beim ersten Mal verstand.
Vorne war die Frau in den weißen Leggins auf die Knie gesunken und warf flehend die Arme hoch. Sie weinte, ihr dicker Leib wogte im Rausch ihrer Gläubigkeit, der Trance ihrer Hingabe. Niemand tröstete sie, weil sie keinen Trost brauchte in ihrem Traum von Erlösung. Sie schien zu schweben, ein Speichelfaden war das einzige, das sie mit der Welt verband. Wilbur betrachtete sie mit einem Gefühl aus Abneigung, Mitleid und Neid.
Als der Prediger abermals hinter die Kanzel trat, nahm Wilbur es mit der Gelassenheit eines entkräfteten Wanderers hin, der delirierend im Treibsand versinkt. Sein Körper sirrte, ein Bündel aus feinen Drähten, aufgeladen mit der elektrisch verstärkten Frömmigkeit der anderen. Er saß da und nahm mit nüchterner Geduld das Scheitern seiner Flucht durch Meditation hin und ertrug die Grimassen der Kinder im Rücken der grünen Frau. Er wehrte sich nicht mehr. Er war ein rohes, nach außen gestülptes Innenohr. Sein Kopf, tonnenschwer, schwebte im Raum, stieg über den erhitzten Lautsprechern empor, drehte eine Runde über dem Wald des Chors und senkte sich auf die Tasten des Synthesizers, rollte von Schwarz zu Weiß. Bei den ersten Klängen eines neuen Liedes sprang Wilbur auf und gab sich torkelnd dem Ereignis hin, illusionslos auf religiöse Erleuchtung, zumindest rettende Ohnmacht hoffend.
Warum konnte der Geist, der offenkundig in diesem ehemaligen Schuh- oder Eisenwarenladen, dieser umfunktionierten Imbissbude, diesem zur Kirche gewordenen Gemüseladen wohnte, nicht auf ihn überspringen? Was unterschied Wilbur Sandberg, abgesehen von äußeren Merkmalen, von den Menschen um ihn herum, die mit aufgewühltem Herzen die Welt umarmten und von ihr umarmt wurden? Was musste er tun, um von diesem Taumel hinweggeschwemmt zu werden? Welche inneren Schranken galt es niederzureißen, welche verborgenen Türen aufzustoßen, um Elwoods Grad der Ekstase zu erreichen? Wenn es Gott gab, warum legte er in Wilburs argwöhnischem Hirn keinen Schalter um und okkupierte seine Seele?
Wilbur zitterte, legte die gefalteten Hände auf die Vorderlehne, wo sie nicht von Kinderköpfen besetzt war, und imitierte ein Gebet. Jetzt brach die Musik tosend über ihn herein. Er schnappte nach Luft. Seine Handflächen brannten. Die Worte des Predigers trafen ihn wie glühende Schneebälle. Wilburs Uhr zeigte die Zeit einer anderen Welt, eines fernen, verlorenen Planeten. Er trieb im Ozean der Wahrheit und des Leidens, ein winziger Fisch, vom Schwarm getrennt. Ihr Ende war so brutal wie die Musik selbst, ihr Verklingen ein Orkan. Irgendwann wurde Wilburs Hand geschüttelt, Frauen umarmten ihn. Die Dame in Grün presste ihm ein Zeichen aus Schweiß auf die Brust. Der Prediger hieß ihn in der Gemeinde willkommen, sprach ihn selig. Eine Tür wurde geöffnet, Luft strömte herein. In der Stille des Nachmittags fiel Wilbur auf die Knie, seine Hände berührten den Asphalt, als wolle er ihn küssen. Die Helligkeit und Kälte ließen ihn weinen. Leroy brachte ihm Wasser, eine Frau bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Wilbur sah das Licht und schloss die Augen.
Als Wilbur aufwachte, war es zehn Uhr montagmorgens. Er lag angezogen in seinem Bett im Hotel und wusste, dass er seinen Job verloren hatte. Ein feuchter Waschlappen klebte am Kopfkissen. Seine Ohren fühlten sich an, als steckten Finger darin. Er bewegte die Hände, hob sie vor das Gesicht, zählte. Das Aufstehen fiel ihm schwer, er hörte seine Gelenke knirschen. Im Badezimmerspiegel suchte er sein Gesicht nach Veränderungen ab, dann duschte er, bis das heiße Wasser aufgebraucht war und das kalte seinen Schädel versengte. Er zog frische Kleidung an, stopfte die schmutzige in einen Beutel und ging hinunter.
Elwood saß in der Lobby, ein Sonntagsschmetterling, der sich in eine graue, faltige Alltagsraupe zurückverwandelt hatte. Er grüßte Wilbur, fragte nach dem Befinden. Wilbur, der Elwoods Stimme durch das Summen in seinem Kopf nur als Wispern wahrnahm, hob die Hand und verließ unter den missbilligenden, spöttischen und besorgten Blicken der alten Männer das Hotel.
Nachdem er die Wäsche in die Hände einer mürrischen Chinesin gelegt hatte, fuhr er mit dem Bus zum Büro seines ehemaligen Arbeitgebers, ließ sich seine fristlose Entlassung bestätigen und einen Scheck für die vergangene Woche überreichen. Danach setzte er sich in ein Lokal, trank Kaffee und überflog die Stellenanzeigen mehrerer Zeitungen. Wie ihm ein falsch geschriebenes Wort auf einer Buchseite oder der Schatten eines Mikrofons in einer Filmszene nicht entging, so übersah er auch nicht seinen Namen, der, eingerahmt von winzigen schwarzen Herzen, in der Spalte Glückwünsche und Liebesgrüße verborgen lag.»Lieber Wilbur«, las er,»wir würden gerne Deinen 20. Geburtstag mit Dir feiern. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss. Alice und Lennard.«
Die ganze nächste Woche verbrachte Wilbur damit, dem Drang, sich zu betrinken, nicht nachzugeben. Er kaufte bei Freeman Antiquitäten ein Buch, las es, verkaufte es Winston für die Hälfte zurück und erwarb aus den unerschöpflichen Beständen ein anderes. Irgendwann fand Winston diesen Kreislauf zu albern und lieh Wilbur die Bücher für fünfzig Cent pro Stück aus. Wilbur fuhr lesend mit der Bahn bis nach Waterbury und Wassaic und Poughkeepsie, nach Port Jervis und Montauk und Greenport, stieg irgendwo aus, ging ein paar Stunden ziellos umher, las auf einer Gartenbank oder in einem Ausflugslokal weiter und fuhr am Abend zurück nach Brooklyn. Einmal verschlug es ihn nicht ganz zufällig nach Long Island, wo er über den Strand zum Haus ging und den Kindern der neuen Besitzer beim Spielen im Garten zusah. In einem Scherzartikelgeschäft kaufte er eine Brille mit Fensterglas und einen Schnurrbart und Koteletten zum Ankleben.
Am nächsten Tag ging er zum Reformkostladen und beobachtete eine Weile, was für ein wundervolles Verkäufergespann Ernest Shelby und Jenna Hoffman abgaben. Dann stellte er sich in den Hauseingang gegenüber von Alices Geschäft, das sich Alice In Woolland nannte, aber bis zum Abend bediente nur Rebecca Shelby die Kundinnen, ohne dass Alice auftauchte.
Als er beim Mietshaus in der Bronx ankam, war es dunkel. Er zählte die Stockwerke und sah zu den erleuchteten Fenstern hoch. Er fühlte sich lächerlich und schäbig in seiner Verkleidung. Die Haut über seiner Lippe juckte von dem Klebstoff, und die Bügel der schweren Brille verursachten wunde Stellen hinter den Ohren. Er hatte die Strickmütze tief in die Stirn gezogen und trug einen braunen Regenmantel, eine Leihgabe aus der Kleiderabteilung von Freeman Antiquitäten. Die Koteletten hatte er unter den irritierten Blicken der übrigen U-Bahn-Passagiere abgenommen und kratzte sich jetzt mit dem Fingernagel kleine Fetzen von der Wange wie nach einem Sonnenbrand. Ein kühler Wind bewegte die Flag ge an der Fassade, schnell ziehende Wolken spiegelten sich in einer alten Pfütze. Wilbur fröstelte und war hungrig. Er wartete, ohne genau zu wissen, worauf, sah dem wechselnden Muster der an- und ausgehenden Lichter in den Wohnungen zu, den Leuten, die das Haus betraten und ver ließen, und dem uniformierten Portier, der einem alten Paar die Tür aufhielt. Autos fuhren vorbei, ein Junge mit einem Modellflugzeug rannte über die Straße. Von einer Sekunde auf die andere fiel ein feiner Regen.
Wilbur schlug gerade den Mantelkragen hoch und wollte gehen, da entdeckte er Alice auf der anderen Straßenseite. Sie schob einen Rollstuhl, in dem Lennard saß, daneben ging Nathalie, einen aufgespannten schwarzen Schirm über die beiden haltend. Um Lennards Hals war ein roter Schal gewickelt, über seine Knie eine Wolldecke gebreitet, auf der seine weißen Hände lagen. Alice sah in Wilburs Richtung, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wilbur trat einen Schritt zurück, sein Herz raste. Er verscheuchte einen Hund, der an seinen Schuhen schnüffelte. Das Summen in seinem Kopf vermischte sich mit dem leisen Rauschen des Regens und dem Sirren der Reifen auf dem nassen Asphalt. Er wollte rufen und brachte nur ein Flüstern hervor, während die drei im Haus verschwanden. Als er über die Straße rannte, hupten Autos, ein Fahrradkurier beschimpfte ihn. Vor der großen Tür blieb Wilbur stehen. Er nahm die Anzeige hervor, die er aus der Zeitung gerissen hatte, und las sie, merkte, dass seine Hände zitterten. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss.
Wilbur ging die Straße hinunter und setzte sich in eine Bar. Dass er vergessen hatte, die Verkleidung abzulegen, merkte er erst, als der Barkeeper meinte, das sei ein ziemlich kläglicher Versuch, älter auszusehen. Wilbur nahm den Schnurrbart und die Brille ab, zeigte seinen Führerschein und bestellte etwas zu trinken.
Aus einem Cocktail wurden zwei. Den dritten brauchte Wilbur, um im Kopf die Strecke über die Straße zu bewältigen, den vierten, als er sich ausmalte, wie es sein würde, Alice und seinem Vater gegenüberzutreten. Nach dem fünften war er so betrunken, dass er sich auf dem Weg zur Toilette übergab, neben einer künstlichen Palme auf den Teppichboden sank und in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel.
Der Boden und die Wände des Raumes, in dem Wilbur zu sich kam, waren weiß gefliest. Er lag auf einer Schicht flachgetretener Pappkisten, sein Kopf ruhte auf einem Knäuel aus feuchten Geschirrtüchern. Wie eine Decke lag der Regenmantel über ihm. Ein Mann in weiten grauen Hosen und einem schwarzen T-Shirt hockte vor einer Spülmaschine und räumte Gläser in die Gitterkörbe. Er hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, seine Arme waren mit einem blauschwarzen Geflecht aus Tätowierungen bedeckt. Wilbur setzte sich auf. Ihm war übel, und das Neonlicht tat seinen Augen weh. An der Wand über ihm hing ein Kalender, auf dem eine bis auf einen gelben Helm und Handschuhe nackte, schwitzende Frau so tat, als bediene sie einen Presslufthammer. Es roch nach Reinigungsmittel und Zigarettenrauch. Zwischen einem rot gestrichenen Schrank und einem Kochherd stand ein Barhocker, auf dem sich leere Getränkekisten stapelten. Schichten bekritzelter Zettel klebten an der Tür eines silberfarbenen Kühlschranks.
Als Wilbur sich hochrappelte, drehte sich der Mann um. Er grinste und entblößte dabei einen goldenen Schneidezahn.»Na, ausgeschlafen?«fragte er, schloss die Klappe der Spülmaschine mit dem Knie und drückte einen Knopf.
Wilbur blinzelte in die Helligkeit, sein Mund war ausgetrocknet. Er schüttelte den Kopf, als der Mann ihm eine Zigarette anbot.»Wo bin ich?«
Der Mann lachte.»Fünf Meter von der Stelle entfernt, an der du weggetreten bist. «Er zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch in die Lungen und breitete die Arme aus.»Willkommen in meinem Reich, der Grabkammer meiner gescheiterten Träume!«Er klemmte die Zigarette zwischen die Zähne und streckte Wilbur die Hand hin.»Roscoe Murphy.«
Wilbur betrachtete die Hand, an der Ringe blitzten, dann ergriff er sie.»Elwood«, sagte er,»Elwood Mazursky. «Er zog den Mantel an, in dessen Taschen die falsche Brille und die Wollmütze steckten.
Roscoe Murphy hob eine Augenbraue, grinste dann erneut breit und drückte Wilburs Hand eine Spur zu fest, bevor er sie losließ.»Also dann, Elwood, wie fühlst du dich?«Er lehnte sich gegen den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und mit Zeitungen, Putzlappen, leeren Zigarettenpackungen, Kaffeetassen und verschrumpelten Äpfeln übersät war.
«Besser«, sagte Wilbur, obwohl ihm hundeelend war.»Danke«, fügte er hinzu.
«Mein Boss wollte dich in den Rinnstein schmeißen. Ich hab ihm gesagt, das kann er nicht machen, nicht bei dem Wetter. «Murphy öffnete eine zweite Spülmaschine, der eine Dampfschwade entwich, die sich mit dem Zigarettenrauch vermengte.»Lassen Sie den Jungen seinen Rausch bei mir drinnen ausschlafen, hab ich ihm gesagt. Ich übernehme die Verantwortung. «Er hob Körbe mit sauberen Gläsern aus der Maschine und stellte sie auf eine mit Tüchern ausgelegte Arbeitsfläche vor sich.
«Danke«, sagte Wilbur noch einmal.
«Schon in Ordnung. War auch mal jung. «Murphy räumte die Körbe mit den Gläsern in einen Warenlift und drückte auf einen Knopf. Ein Klingelgeräusch ertönte aus dem Schacht, dann fuhr der Lift nach oben.
«Also dann«, sagte Wilbur möglichst munter, knöpfte den Mantel zu und klappte den Kragen hoch.»Ich muss los. «Er hielt Murphy die Hand hin.»Nochmals vielen Dank.«
«Wo willst du denn hin um die Zeit?«fragte Murphy, ohne Wilburs Hand zu ergreifen.
Erst jetzt wurde Wilbur bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie lange er weggetreten war.»Wie spät ist es denn?«fragte er.
Murphy holte ein Handy aus der Hosentasche und hielt Wilbur das eisblau leuchtende Display hin. Es zeigte kurz vor drei. Ernüchtert gab Wilbur die Idee auf, bei Verna Kerkowski zu klingeln.
«Wo wohnst du?«fragte Murphy.
«Brooklyn.«
«In einer Stunde hab ich Feierabend. Ich fahr dich nach Hause.«»Danke, das ist nicht nötig.«
«Kein Problem. Spielst du Schach?«
Wilbur schüttelte den Kopf. Ein leichter Schwindel befiel ihn, und er legte die Hand auf die Tischkante.
«Dame?«
«Nein.«
«Karten. Was ist mit Karten?«
Wilbur erinnerte sich an die Abende mit Colm.»Rommé«, sagte er.
«Auch gut. Ich sag dir was, wir spielen ein paar Runden, dann fahr ich dich nach Brooklyn. «Murphy ging zum Schrank, öffnete eine Schublade und wühlte darin herum.
«Lieber nicht«, sagte Wilbur.»Ich kann mir ein Taxi nehmen.«
«Nein, kannst du nicht«, sagte Murphy, ohne ihn anzusehen.»Du hast kein Geld für ein Taxi nach Brooklyn. «Er drehte sich um, präsentierte ein Set Karten und grinste.»Mein Boss hat dir das Geld für die Drinks aus der Brieftasche genommen. Du hast noch etwa fünf Dollar. «Er schob die Sachen auf dem Tisch zur Seite, setzte sich hin und mischte die Karten.
Wilbur tastete nach seiner Brieftasche und stellte fest, dass sie noch da war.»Ich kann zu Fuß gehen. Wird meinem Kopf guttun. «Er lächelte, hob die Hand.
Murphy mischte weiter die Karten.»Weißt du, wie langweilig es hier unten werden kann? Wie lange eine Zehnstundenschicht dauert? Wie sehr man sich irgendwann nach menschlicher Gesellschaft sehnt?«
Wilbur zuckte mit den Schultern. Er wollte gehen, aber sein schlechtes Gewissen Murphy gegenüber hielt ihn davon ab. Außerdem fühlte er sich wacklig auf den Beinen. Das Summen in seinem Kopf war einem Druck gewichen, als würde sich das Hirn mit flüssigem Blei vollsaugen.
«Weißt du, wer deine Kotze aufgewischt hat?«Murphy verteilte die Karten.
Wilbur zog den Mantel aus und setzte sich auf den zweiten Stuhl. Murphy verteilte die Karten.
Es war halb fünf, als Wilbur hinter Murphy zu dessen Mazda ging, der auf dem Hinterhof der Bar stand und zwischen den Pfützen und dem Abfall aussah wie ein Wagen auf dem Schrottplatz. Murphy öffnete die Beifahrertür und warf Wilbur die Schlüssel zu.»Du fährst.«
Wilbur fischte den Schlüsselbund aus einer Pfütze und schüttelte ihn.»Ich kann nicht fahren.«
«Ich auch nicht. «Murphy setzte sich ins Auto. Er hatte während des Kartenspiels zwei Joints geraucht und immer glasigere Augen bekommen. Wilbur hatte ihn gewinnen lassen und Kaffee getrunken, während Murphy seinen Durst mit Bier löschte, das ihm von einem Freund aus der Oberwelt mit dem Lift heruntergeschickt worden war. Jetzt saß er da und klebte im Schoß weitere Zigarettenpapierchen zusammen, beschienen vom gelben Licht der Innenbeleuchtung.
«Ich kann nicht Auto fahren«, sagte Wilbur. Er sah in eine Pfütze, in der neben seinem Kopf der Mond schwamm.
«Blödsinn. «Murphy kramte etwas aus der Jackentasche und hielt es gegen die Scheibe.
Wilbur ging näher heran und erkannte seinen Führerschein.
«Nun steig schon ein.«
Wilbur öffnete die Fahrertür.»Kann ich den bitte zurückhaben?«
«Erst fährst du los. «Murphy zerbröselte den Tabak einer Zigarette auf das kunstvolle Gebilde aus diagonal versetzt geklebten Papierchen.
Wilbur ließ sich in den Fahrersitz fallen, atmete einmal tief ein und aus.»Ich weiß nicht mehr, wie das geht«, sagte er.
«Zündschlüssel drehen, Fuß aufs Bremspedal, Gang rein, Fuß aufs Gaspedal, lenken.«
Eine Weile saß Wilbur einfach nur da und starrte durch die Windschutzscheibe in die Nacht. Sie standen vor einer Mauer, also musste er zuerst ein Stück rückwärts fahren. Er betrachtete die Armaturen, den Schalthebel, legte die Hände auf das Lenkrad und den rechten Fuß auf das breite Pedal in der Dunkelheit unter ihm. Neben ihm hielt dieser seltsame Mensch, dessen Alter er aus Mangel an Anhaltspunkten irgendwo zwischen dreißig und fünfzig ansiedelte, ein Feuerzeug an ein Stück Haschisch, was aussah, als wolle er einen Brief mit braunem Lack versiegeln. Schließlich zog Wilbur die Tür zu, schnallte sich an und drehte den Schlüssel um. Der Motor gab ein Geräusch von sich, sprang aber nicht an.
«Er springt nicht an.«
«Er wird. «Murphy krümelte das Haschisch auf den Tabak. Auf seinem Hals saß eine Spinne, deren Rücken ein Kreuz zierte. Wilbur fragte sich, ob Murphys gesamter Körper von Tattoos bedeckt und ob die Prozedur schmerzhaft war und was in aller Welt er in diesem Auto verloren hatte. Dann drehte er den Zündschlüssel erneut, und nach einem schleifenden Stottern erwachte der Motor zum Leben.
Ein Schauder aus Glück und Panik durchrieselte Wilbur. Er sah nach hinten, wo zwischen Zeitungen, zerknüllten Strafzetteln und einem schwarzen Hemd eine Flasche Whiskey auf dem Rücksitz lag. Der Motor klang, als würde er jeden Moment den Geist aufgeben, sein Zittern floss durch das Metall und ließ Wilburs Sitz vibrieren. Als Regentropfen auf das Dach schlugen, zog Wilbur den Kopf ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie viel Platz bis zur nächsten Mauer war, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam an.
«Licht.«
«Was?«
«Du solltest das Licht einschalten«, sagte Murphy ruhig. Er befeuchtete den Leimstreifen mit der Zungenspitze, rollte den Joint und strich ihn zwischen den Fingern glatt. Dann zündete er die Spitze an und inhalierte mit einem heiseren Seufzer, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Wilbur hielt an und suchte nach dem Schalter. Schließlich fand er ihn und steuerte den Wagen vorsichtig vom Hof auf die leere Seitenstraße. Die Scheinwerfer beleuchteten ein Plakat an einer Hauswand, auf dem schöne junge Frauen und Männer in Badesachen an einem Strand Volleyball spielten und Bier tranken. Wilbur fragte sich, warum er nicht irgendwo mit Freunden im Sand herumtollen und in vernünftigen Mengen Alkohol zu sich nehmen konnte, statt sich alleine in einer Kneipe in der Bronx besinnungslos zu saufen. Er dachte an das Surfbrett, das er von Harold geschenkt bekommen und Wochen später verkauft hatte. Er stellte sich vor, wie er durch den glasgrünen Tunnel einer sich brechenden Welle ritt, bronzefarben und furchtlos.
«Links.«
Wilbur kam aus dem Tunnel. Sonnenlicht fing sich in der Bierflasche auf dem Plakat.»Was?«
«Du musst nach links«, sagte Murphy.»Das ist eine Einbahnstraße. «Wilbur setzte den Blinker. Murphy kicherte und hustete.
«Und jetzt?«fragte Wilbur, als sie an eine Kreuzung kamen. Er schaltete den Scheibenwischer an und lehnte sich nach vorne, um besser sehen zu können.
«Egal. Lass uns rumgondeln.«
Wilbur wollte widersprechen, fuhr dann aber einfach los. Das Blei in seinem Kopf kühlte aus und verfestigte sich, der dumpfe Schmerz klang ab. Die Straße war schwarz und breit und so gut wie leer. Das Hin und Her der Wischblätter hatte etwas Beruhigendes. Wilbur entspannte sich ein wenig. Für Sekunden schwebte sein Bewusstsein als Hubschrauber über dem Geschehen und zeigte ihm, wie der von ihm gelenkte Wagen im unwirklichen Licht der Stadt dahinglitt, eine mit Haschischrauch gefüllte Metallkapsel im trägen Strom der Nacht.
«Warum hast du gesagt, du heißt Elwood?«Murphy rutschte in seinem Sitz nach unten und streckte die Beine aus. Er hielt Wilbur den Joint hin, aber der schüttelte den Kopf.
«Es war mir peinlich, dass ich gekotzt habe. «Hinter ihnen hupte jemand, und Wilbur bremste erschrocken ab. Der Fahrer überholte und sah Wilbur ins Gesicht, seine Lippen formten sich zu einem obszönen Wort.
«Und wozu schleppst du eine Kostümfestbrille und einen falschen Schnurrbart mit dir rum?«
«Haben Sie meine Taschen durchsucht?«Wilbur wäre am liebsten rechts rangefahren, aber das hätte die Ausführung eines Manövers erfordert, über dessen einzelne Schritte er im Moment nicht nachdenken wollte.
«Wir haben nach einer Brieftasche und einem Ausweis gesucht«, sagte Murphy. Er drehte den Kopf zu Wilbur. Rauch quoll aus seinem Mund und seinen Nasenlöchern.»Hast du ein krummes Ding gedreht? Mir kannst du’s sagen.«
«Quatsch«, sagte Wilbur.»Ich wollte nicht erkannt werden, das ist alles.«
«Wobei denn?«
Wilbur schloss müde und genervt die Augen, öffnete sie aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er Auto fuhr.»Das ist eine persönliche Sache. «Er musste an einer roten Ampel anhalten und konzentrierte sich auf den Bremsvorgang wie auf eine Mondlandung. Als der Wagen wieder rollte, wurde er ruhiger. Die Gleichmäßigkeit der Scheibenwischerbewegungen erinnerte ihn an das Metronom, das ihm in Matthews Wohnzimmer den Takt vorgegeben hatte.»Ich wollte rausfinden, ob meine Freundin einen anderen hat. «Das war zwar nicht die Wahrheit, aber wenn er schon den Besitz der Sachen aus dem Scherzartikelladen rechtfertigen sollte, dann wenigstens mit einer Geschichte, in der er eine Freundin hatte. Eine Freundin, die ihn betrog und Dinge tun ließ, wie er sie nur aus Büchern und Filmen kannte.
«Und? Hat sie?«fragte Murphy.
Wilbur hupte, weil ein Mann weit vor ihnen die Straße überquerte. Der Mann zeigte ihm den Finger. Murphy kicherte.
«Ja«, sagte Wilbur.
Murphy schwieg eine Weile und füllte seine Lungen mit THC-gesättigtem Qualm. Was er wieder ausstieß, war gerade genug, um Wilburs Angst vor dem Fahren zu betäuben.
«Kennst du Sartre?«fragte Murphy schließlich.
«Wen?«
«Jean-Paul Sartre. Franzmann. Denker. Was von ihm gelesen?«Ein Stück glühender Asche fiel in Murphys Schoß und brannte ein Loch in den Stoff der Hose. Murphy bemerkte es nicht.
Wilbur unterdrückte ein Lachen. Neben ihm saß ein ganzkörpertätowierter, bekiffter Gläserwäscher, der sein armseliges Auto und sein offensichtlich noch armseligeres Leben in die Hände eines ihm völlig fremden, ebenso offensichtlich irren, miserabel fahrenden Säufers legte und im Begriff war, ein von Drogen erhelltes Gespräch über den bedeutendsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts anzuleiern. Er schüttelte den Kopf.»Hatte nie die Gelegenheit dazu. «Er hatte Der Ekel und Die Wörter für die Bibliothek in Four Towers vorgeschlagen, aber sein Antrag war von den Hütern der geistigen Werte abgelehnt worden. An die Besserungsanstalt zu denken, versetzte Wilbur einen Stich. Mit einem Schlag war er wieder betrübt, Säure schwappte in seinem Magen. Bei der nächsten Gelegenheit würde er Conor einen Brief schreiben.
«Ich habe mich mit seinem Werk im Gefängnis vertraut gemacht«, sagte Murphy, eine Formulierung, die Wilbur ein kleines bisschen aufheiterte.»Nicht zu empfehlen. «Mit dem Daumen zerdrückte er das Stückchen Glut, das vom Joint übriggeblieben war, auf dem Armaturenbrett.»Sartre im Gefängnis lesen, meine ich. Zu deprimierend.«
Wilburs Augen brannten. Der Gedanke, Roscoe Murphy könnte ein Mörder sein, beschäftigte ihn erstaunlicherweise weniger als die Frage, wie man die Heizung ausmachte.
«Willst du nicht wissen, warum ich gesessen habe?«fragte Murphy. Er zwängte seinen Oberkörper in die Lücke zwischen den Rückenlehnen und streckte die Hand nach der Whiskeyflasche aus.
«Doch«, sagte Wilbur pflichtschuldig. In Gedanken ging er das Lösen des Sicherheitsgurtes und das Öffnen der Tür durch. Weil er sich den Sturz auf die Straße sehr schmerzhaft vorstellte, fuhr er noch ein wenig langsamer.
«Verdammt!«Murphy drehte sich um und kurbelte das Fenster herunter. Dann versuchte er, das Handschuhfach zu öffnen, aber es klemmte.»Verdammt!«Er hämmerte mit der Faust dagegen.»Verfluchte Scheiße!«
Wilbur wollte fragen, was los sei, als die Sirene aufheulte.
«Fahr los!«rief Murphy und trat mit dem Fuß gegen das Handschuhfach. Wilbur hielt an. Die Sirene verstummte. Zuckendes Licht drang durch den Qualm, der sich ein wenig verzog.»Mach schon, fahr los!«Murphy schrie so laut, dass Wilbur nicht verstand, wozu die Megafonstimme ihn aufforderte.
Im Rückspiegel sah Wilbur, wie ein Beamter aus dem Polizeifahrzeug stieg.
«Worauf wartest du, verflucht noch mal?«brüllte Murphy.
Wilbur legte beide Hände gut sichtbar auf das Lenkrad, eine Verhaltensregel, die er aus dem Fahrunterricht und Polizeivideos im Fernsehen kannte. Murphy warf sich über seine Beine und drückte mit beiden Händen Wilburs Fuß auf das Gaspedal. Die Reifen drehten durch, der Motor röhrte, dann schoss der Wagen schlingernd los, rammte einen geparkten Lieferwagen und raste die Straße hinunter, über eine Kreuzung und auf die roten Tupfer zu, die Rücklichter weit vorne in den Regen klecksten. Murphy griff nach dem Lenkrad, und sie gerieten auf die leere Gegenfahrbahn, flogen an verwischten Lichtern und jaulenden Hupen vorbei über die Kreuzung und hinein in einen Tunnel aus schwarzen, gekrümmten Häusern, geparkten Autos und dem Regen, der vor ihnen zerstob wie ein Schwarm aus winzigen gelben Fischen.
Als Wilbur das Steuer herumriss und mit dem freien Fuß auf die Bremse trat, prallte das Auto zur Seite kippend gegen die Bordsteinkante, landete auf dem Dach und schlitterte zurück auf die Straße, wo es, begleitet von Scheppern und Klirren und dem Schrei, der endlich aus der Tiefe von Wilburs erstarrtem Körper stieg, gegen den Mast einer Straßenlampe krachte, eine letzte knirschende Pirouette vollführte und dann liegenblieb.
Wilbur machte die Augen auf. Kalte Luft wehte durch die Öffnung, wo einmal die Windschutzscheibe gewesen war. Er befreite sich mit zitternden Händen aus dem Sicherheitsgurt, drehte sich um und kroch auf die nasse Straße. Taumelnd ging er um das Wrack und sah nach Murphy, der bewusstlos dalag, gekrümmt und dunkel verfärbt wie ein kranker Fötus. Wilbur ging auf die Knie, zerrte Murphy durch das geborstene Fenster ins Freie und suchte in seinen Jackentaschen nach dem Führerschein, fand aber nur einen Kugelschreiber, leere Zettel und ein paar Spielkarten. Als er zurück in das nach dem ausgelaufenen Whiskey riechende Wrack kroch, sah er die Pistole. Sie lag im Handschuhfach, dessen Klappe aufgesprungen war, und er nahm sie und steckte sie ein. Der Führerschein lag neben dem zertrümmerten Innenlicht, dessen Drähte aus der zum Boden gewordenen Decke ragten. Wilbur steckte ihn ebenfalls ein, nahm das schwarze Hemd und legte es unter Murphys Kopf. Murphy stöhnte, und Wilbur zog den Mantel aus und deckte ihn damit zu.
Ein Taxifahrer hielt an, fragte, ob er die Ambulanz rufen solle. Wilbur nickte und erhob sich. Ihm war schwindlig, in seinen klebrigen Haaren wuchs eine Beule. Er wollte sich setzen, blieb aber stehen. Der Wagen lag zwischen den Gebäuden wie eine Skulptur. Nachtschwärmer fanden sich ein, Besucher einer absurden Ausstellung. Wilbur hätte gerne mit der Pistole herumgefuchtelt. Der Kofferraumdeckel war aufgesprungen, was im dunklen Inneren lag, weckte die Neugier der Gaffer. Eine Frau schrie auf, Männer stießen Flüche in die Nacht. Als Wilbur das flackernde Licht des Polizeifahrzeugs sah, rannte er weg.
Im Nieselregen und ersten Tageslicht bot der Vergnügungspark von Coney Island ein Bild ergreifender Verlorenheit. Ein Riesenrad und ein Turm aus Stahl überragten eine flache, durch eine Promeniermeile von Strand und Ozean getrennte Budenstadt, die unter Kunststoffplanen und Wellblech die Zeit bis zur Eröffnung verschlief. Gondeln in Tierform warteten zusammengepfercht in einem Maschendrahtkäfig auf Kinder, die in ihren gepolsterten, sonnenerwärmten Bäuchen Platz nehmen würden, um auf einer Bahn schwindlige Kreise zu ziehen. Unter Plexiglasdächern parkten Gokarts, deren abmontierte Räder schwarze Säulen bildeten. Ein Imbisslokal trug die Last einer Rakete. SHOOT THE FREAK war über einem Stand zu lesen, CLOSED über einem anderen, als bedürfe die vorübergehende Stilllegung eines schriftlichen Hinweises.
Wilbur setzte sich unter das Dach eines Toilettenhauses und lehnte den Kopf an die Wand. Nach dem Unfall war er eine Stunde lang gerannt, ohne anzuhalten. Er hatte sich in einen dunklen, trockenen Hauseingang gelegt und nach Atem gerungen. Er war weggedöst, ohne zu wissen, für wie lange. Ein Bus hatte ihn geweckt und nach Manhattan gebracht, mit der U-Bahn war er hinüber nach Brooklyn gefahren und immer weiter bis zur Endstation, wo er abermals aus dem Schlaf schreckte. Jetzt saß er auf dem kalten Boden, versunken in den Anblick des Meeres. Eine Frau in gelber Regenjacke ging den leeren Strand entlang, ein schwarzer Hund folgte ihr, die Schnauze gesenkt. Möwen trudelten am Himmel, unter sich die aufgewühlte See. Der Regen war wässrige, sprühende Luft, die dem Licht und den Farben die Kraft nahm. Wellen brachen sich, schoben ein beinahe regelmäßiges, weite Entfernung vortäuschendes Rumpeln an Land.
Die Pistole in seiner Tasche fühlte sich warm an. Er schloss die Augen, hörte der Brandung zu. Keiner seiner Gedanken erschreckte ihn oder spendete ihm Trost. Sie waren wie Möwen, die hochgehoben wurden aus dem unscharfen Viereck des Himmels, die dunkle Höhle des Kopfes verließen und im Grau verschwanden. Er öffnete die Augen und stand auf. Seine Beine taten weh vom Rennen. Er sah zwei Männern zu, die auf den Pier hinausgingen. Ihre schwarzen Regenjacken schimmerten in der Dämmerung. NO SWIMMING las Wilbur auf dem Geländer in schmutzigweißer, im Holz versickernder Schrift.
Als er auf den nass glänzenden Planken stand, blieb er stehen. Unter ihm schwappte das Meer gegen die Pfeiler, er meinte, leise zu schwanken. Die Angelruten der Männer waren lange, wippende Fühler im diesigen Licht. Er folgte ihnen bis ans Ende. Auf den Brettern glitzerten die Schuppen von Fischen, Millionen silberner Plättchen. Die Männer grüßten ihn, er hob die Hand, wollte fragen, was sie zu fangen hofften, welche Köder sie benutzten. Aber dann schwieg er und drehte sich weg zum Meer, das ohne Horizont vor ihm lag.
Er berührte die Beule, die vom getrockneten Blut steifen Haare. Seine Fingerspitzen waren rot und taub. Bald würde er nass bis auf die Haut sein. Die Angler sprachen Spanisch, Wilbur mochte den Klang der kurzen Sätze, die sie wechselten. Er nahm die Pistole aus der Hosentasche und betrachtete sie. Heute war sein Geburtstag. Vielleicht hatten seine Eltern hier gestanden vor einundzwanzig Jahren. Er hörte die Stimme seiner Mutter und das Klimpern der Geldstücke in der Streichholzschachtel. Als er über das Geländer kletterte, rief sein Vater nach ihm. Die Pistole fiel ins Wasser und versank, funkelnd wie die Glücksmünzen seiner Mutter. Er starrte hinab und sah nichts. Eine Hand griff nach ihm, aber er fiel. Das Wasser war warm, es umfing ihn mit rauschender Stille.