The First Deadly Sin, 1980

Als er geboren wurde, starb seine Mutter. Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, ihn sieben Monate und elf Tage in ihrem Bauch zu tragen. Ihn aus sich herauszupressen brachte sie um. Sie schloss für immer die Augen, als er seine zum ersten Mal öffnete. Wie zur Strafe dafür, dass er seine Mutter getötet hatte, schlug ihn der Arzt auf den Hintern. Er schrie und machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat. Während sie in die Leichenhalle gebracht wurde, legte man ihn in den Brutkasten. Er war zu klein, zu leicht. Er hatte keine Kraft, aber er hörte nicht auf zu schreien. Die Ärzte rätselten darüber, wie seine Lungen es schafften, sich mit so viel Luft zu füllen. Die Schwestern versuchten alles, um ihn zu beruhigen, zu trösten, aber nichts half.

Er war allein. In den fünf anderen Brutkästen lagen keine Säuglinge. Sämtliche Geburten der letzten drei Wochen waren normal verlaufen, bis auf seine. Er spürte, dass etwas fehlte, dass er nicht in diesem Glasbehälter sein sollte. Deshalb schrie er. Und weil ihm die Welt zu hell war, zu weiß. Das Licht drang durch seine geschlossenen Lider, die dünn und faltig waren. Manchmal schien etwas in ihm nachzugeben, und er wurde ruhig. Dann verschwand das Licht. Seine Fäustchen öffneten sich, und im unruhigen Schlaf zitterten seine Finger.

Schwester Lorraine Sadler stickte die Namen der Kinder, die das Licht der Welt im Saint Francis Hospital in Philadelphia, Pennsylvania, erblickten, auf Kissenbezüge aus weißem Baumwollstoff. Sie benutzte dabei Rosa für die Mädchen und Hellblau für die Jungen, weil es Tradition war. Die Eltern durften die Bezüge mit nach Hause nehmen, als Erinnerung. Auch das war Tradition.

Obwohl Schwester Lorraine neununddreißig und noch ledig war, sah sie ihrem vierzigsten Geburtstag mit Gleichmut entgegen. Sie lebte mit einem einfältigen Labrador namens Bob zusammen, hatte alle paar Jahre eine kurze Affäre mit einem Hilfspfleger und nicht vor, noch einmal zu heiraten. Als sie neunzehn war, ließ sie sich von einem doppelt so alten Rodeoreiter, der ohne sie nicht leben wollte, vor den Altar schleppen. Als sie ihn verließ, weil es noch andere Frauen gab, ohne die er nicht leben wollte, war sie zwanzig. Er wurde kurz darauf von einem Bullen zertrampelt, und sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Kam ein Findelkind ins Saint Francis, gehörte es zu Schwester Lorraines Aufgabe, ihm einen Namen zu geben. Sie benutzte dabei eine Liste mit alphabetisch angeordneten Vornamen, die sie der Reihe nach abhakte. Mittlerweile war sie beim Buchstaben W angelangt, und dem winzigen Jungen im Brutkasten, der seit zwölf Tagen entweder schrie oder vor Erschöpfung schlief, fiel der Name Wilbur zu. Sie hatte seine Mutter gesehen, einmal nur und ganz kurz, als diese halb bewusstlos in den Entbindungssaal geschoben worden war. Nach ihrem Tod hatte Schwester Lorraine ihre Kolleginnen gefragt, aber keine konnte sich erinnern, ob die Frau erwähnt hatte, wie sie ihr Kind nennen wollte. Auch der junge Arzt, dem zum ersten Mal eine Frau bei der Geburt weggestorben war und der noch Tage danach mit leerem Blick durch die Flure ging, konnte ihr nicht weiterhelfen. Den Vater des Kindes hatte Schwester Lorraine nie gesehen. Die Frau am Empfang wusste nur, dass er schmal und schüchtern war und vor lauter Sorge um seine Frau geweint hatte. Er habe sich in den Besucherraum gesetzt und dort eine endlos lange Zeit der Ungewissheit verbracht, die um fünf Uhr zwanzig morgens zu Ende war, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbrachte. Er sei eine Weile stumm dagesessen, als habe er die Tragweite des Gehörten nicht begriffen, dann sei er aufgestanden und gegangen. Der Arzt habe ihm nachgerufen, das Kind, ein Junge, sei am Leben, aber der Mann habe nur kurz gezögert und das Krankenhaus dann rasch verlassen.

Als ihre Schicht zu Ende war, legte Schwester Lorraine den Bezug, auf dem WILB zu lesen war, in einen Schrank und fuhr nach Hause. Statt wie üblich in den Park ging sie mit Bob nur ein paar Schritte die Straße hinunter. Sie fütterte ihn, trank eine Tasse Kaffee im Stehen und nahm dann ein Bad. Danach zog sie ihr bestes Kleid an, ein ärmelloses schwarzes, das sie nach einem Katalogbild selber geschneidert hatte, ließ sich ein Taxi kommen und zu einem Theater in der Innenstadt fahren.

March And April gefiel Lorraine so gut, dass der Kummer, den der tagelang weinende Wilbur ihr bereitete, für eine Weile verschwand. In dem Stück ging es um eine junge amerikanische Lehrerin namens April Baxter, die im Paris der Jahrhundertwende den exzentrischen englischen Maler Frederic March kennenlernt. Die beiden können sich zu Beginn nicht ausstehen, doch nach neunzig Minuten Irrungen und Wirrungen sind sie ein Paar. Was da auf der Bühne geboten wurde, war weder Broadway noch Shakespeare, aber dank der Extraportion Romantik und Leidenschaft genau das, was Lorraine brauchte.

Nach der Vorstellung blieb sie eine Weile im Foyer und betrachtete die ausgehängten Plakate und Fotos. Ein Mann stellte sich hinter sie, und sein Gesicht wurde vom Glas des Schaukastens reflektiert. Lorraine erkannte den Darsteller des Frederic March und drehte sich so erschrocken um, dass der Mann laut lachen musste. Mit jedem der drei Akte hatte Loraine sich mehr in den Schauspieler verliebt, das warme Gefühl nach dem letzten Vorhang aber als alberne Schwärmerei belächelt, wie sie es auch nach dem Abspann im Kino tat, wenn das Licht sie in die Wirklichkeit zurückholte. Montgomery Field, so hieß der neben der Bühne kleiner und irgendwie verloren wirkende Mann, bot Lorraine eine Zigarette an, und obwohl sie nicht rauchte, ließ sie sich von ihm Feuer geben.

Drei Tage später, als die Theatertruppe weiterzog, ging Lorraine mit. Den Hund, der immer Mittelpunkt ihres privaten Lebens gewesen war, gab sie ihrem Bruder, ihren Hausrat schenkte sie einem wohltätigen Verein. Im Krankenhaus sagte sie allen Adieu und machte einen letzten Besuch auf der Säuglingsstation.

Wilburs von den Glaswänden gedämpftes Schreien hörte sie schon im Flur und war zuerst erstaunt und dann besorgt, als es verstummte, sobald sie die Tür öffnete. Der schrumpelige Winzling mit der durchsichtigen Haut lag in seinem Brutkasten wie ein seltsames Tierchen, das man zu Forschungszwecken an Schläuche und Kabel angeschlossen hatte. Seine Augen waren leicht geöffnet, und Falten standen auf seiner Stirn, als hätte er Kopfschmerzen oder würde nachdenken. Er bewegte sich nicht, nur sein runder, von einem Geflecht aus blauen Arterien durchwachsener Bauch hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge. Lorraine trat an den Kasten heran, löste die Verriegelung an der Klappe und schob ihre rechte Hand durch die Öffnung. Wilburs Kopf war warm und trocken, Flaum aus farblosem Haar stand in alle Richtungen ab. Lorraine strich vorsichtig über den durch die Geburt leicht deformierten Schädel, ständig damit rechnend, dass Wilbur wieder zu schreien anfing. Aber er schrie nicht. Er lag da, den Blick abgewandt, und schien den leisen Worten zu lauschen, die Lorraine an ihn richtete, während sie mit den Fingern sanft über den Wulst fuhr, an dem die beiden Schädelhälften zusammenwuchsen.

Als Wilbur nach Lorraines kleinem Finger griff und ihn mit erstaunlicher Kraft festhielt, traten ihr Tränen in die Augen. Mehrere Minuten blieb sie so stehen, weinte leise vor sich hin und fuhr mit dem Daumen über seine winzigen Knöchel. Sie musste die Fingerchen, die sie so energisch umklammerten, mit der freien Hand lösen und eilte hinaus, ohne sich noch einmal nach dem Kind umzudrehen.

Weil nach Lorraines Weggang keine der Schwestern den Brauch mit den bestickten Kissen weiterführen wollte, blieb Wilbur für unabsehbare Zeit der letzte Säugling, dem diese Ehre zuteil geworden war. Dass auf seinem Bezug nur WILB stand, schien niemanden zu stören. Jeder im Saint Francis nannte ihn so. Wilb. Sogar der Name war zu kurz geraten.

Eine der Schwestern, Edna Porter, machte es sich zum Ziel, dass Wilbur wuchs. Sie badete ihn, puderte seine gerötete Haut, rieb seinen wunden, verschrumpelten Hintern mit Salbe ein und glättete seine störrischen Haare, indem sie etwas Spucke benutzte. Mehrmals täglich gab sie ihm die Flasche, und während Wilburs Kopf an ihrer schweren, unter dem weißen Kittel sich abzeichnenden Brust lag, summte sie Breakfast In America von Supertramp und schaukelte langsam vor und zurück.

Fütterte ihn Edna, starrte Wilbur an die Decke. Nur manchmal, wenn Edna selbstvergessen trällernd ins Leere blickte, sah er sie für Sekunden mit Augen an, in denen so etwas wie Neugier stand. Die klassische Schönheit von Lorraines Gesicht hatte er längst vergessen, jetzt überwältigten ihn Ednas üppige Sinnlichkeit, ihr wogender Körper, ihre großen fleischigen Hände. Sie roch süßlich, und ihre Stimme klang tiefer als die der anderen Schwestern. An dem Tag, an dem Lorraine gegangen war, hatte er aufgehört zu schreien, als habe er begriffen, dass sich dadurch nichts ändern könne. Und seit jenem Tag waren Geräusche, die er zuvor übertönt hatte, zu einem Teil seines Lebens geworden. Die Stimmen der Ärzte und Schwestern, die Laute, die aus den blinkenden Maschinen kamen, Schritte von Gummisohlen auf Linoleum, das entfernte Quietschen der Räder des Gerätewagens, den die Putzfrau durch den Flur schob, dumpf durch die Wände dringendes Telefonklingeln. Alles war neu, verwirrend und beängstigend.

Schön und beruhigend war nur Ednas Stimme. Sang sie, fühlte sich Wilburs Bauch warm an, beinahe heiß. Und wenn sie ihn berührte, nicht zaghaft wie die anderen, die Angst hatten, er könnte zerbrechen, sondern unzimperlich zärtlich, war er so glücklich, wie sein mandarinengroßes Gehirn Botenstoffe losschicken konnte.

Edna bewarb sich um die Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem jungen Arzt, der seine erste Praxis eröffnete, wurde genommen und verließ das Saint Francis. In den ersten Tagen, an denen Edna nicht bei Wilbur war, lag der Junge still und fast reglos da und sah an die Decke aus weißen Kunststoffplatten. Er vermisste Edna. Es war nicht die gleiche Sehnsucht, die ihm nach der Geburt die ersten Qualen seines Lebens bereitete. Er merkte ganz einfach, dass etwas von ihm weggenommen worden war, das nichts und niemand zu ersetzen vermochte. Neue Schwestern kümmerten sich um ihn, einige davon dünn und beinahe brustlos, andere weich und füllig. Alle wussten von der engen Bindung, die zwischen Schwester Edna und Wilbur bestanden hatte, und alle versuchten, ihren Platz einzunehmen. Aber etwas, das sich in den kommenden Jahren zu Wilburs Unterbewusstsein entwickeln würde, weigerte sich, seine Liebe erneut an eine Frau zu verschwenden, an ein neues warmes Wesen, dem er sich hingab und auslieferte, nur um irgendwann verlassen zu werden.

Das erste Pferd seines Lebens sah Wilbur im Park des Kinderheims Chestnut Hill in Reading, Pennsylvania, etwa achtzig Kilometer nördlich von Philadelphia. Die alte, aus mehreren Backsteingebäuden bestehende Anlage hatte bis in die fünfziger Jahre als Kaserne gedient, und sie stand weder auf einem Hügel, noch hatte sie auf ihrem bescheidenen Grund auch nur einen einzigen Kastanienbaum vorzuweisen. Den idyllischen Namen hatte sich ein Komitee ausgedacht, das dem traurigen Zweck des Anwesens, Waisen zu beherbergen, etwas Positives gegenüberstellen wollte. Immerhin lag das Heim außerhalb der Stadt, und von den obersten Zimmern im Ostflügel konnte man das Footballfeld einer Highschool sehen, was zumindest den Jungs im Heim lieber war als langweilige Kastanienbäume.

Lawrence Krugshank, der Leiter des Traktes, wo die Jungen im Alter zwischen wenigen Wochen und zehn Jahren untergebracht waren, wickelte Wilbur am Nachmittag in eine Wolldecke und trug ihn in den Park, der an die Weide eines Bauernhofs grenzte. Leute aus der Stadt hatten ihre Reitpferde auf dem Hof einquartiert, und ab und zu kam eines der Tiere an den Zaun, um sich von den Kindern bestaunen zu lassen.

«Sieh mal, Wilbur, ein Pferd«, sagte Lawrence und nahm Wilburs Hand, damit sie die zarten weißen Nüstern berühren konnte. Aber Wilbur zog die Hand zurück und fing an zu weinen. Lawrence drückte ihn an sich, ging zurück ins Gebäude und schaukelte den Jungen in den Armen, beruhigend auf ihn einredend. Kinder grüßten ihn auf den Fluren, und er lächelte und zwinkerte ihnen zu. Zwei Jungen, die ihn daran erinnerten, dass er mit ihnen im Hof Baseball spielen wollte, vertröstete er auf später. Er bemühte sich, allen seinen Schützlingen gleich viel Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenzubringen, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er an Wilbur einen Narren gefressen hatte.

Während Wilburs ernste Züge die meisten Betreuer verstörten, sah Lawrence darin etwas, das er scherzhaft infantile Weisheit nannte. Er war sicher, dass dieses Kind einen Grund dafür hatte, eine solche Miene aufzusetzen. Er nahm sich vor, Zeuge zu sein, wenn Wilburs Gesicht zum ersten Mal eine Gemütsregung zeigte, die Zufriedenheit, vielleicht sogar Glück ausdrückte. Und er setzte alles daran, diesem Glück auf die Sprünge zu helfen.

Vierzig Tage war es jetzt her, dass die Sozialarbeiterin aus Philadelphia den kleinen Jungen in die Obhut des Heims gegeben hatte, wo er so lange bleiben sollte, bis die vorgeschriebene Frist abgelaufen war, während der Verwandte des Kindes das Sorgerecht beantragen konnten. Wilburs Vater hatte sich nicht mehr im Saint Francis gemeldet, und eine Suchaktion, bei der die Polizei, lokale Zeitungen und Fernsehstationen beteiligt gewesen waren, verlief ergebnislos. Der Mann, dessen Name in den Akten mit Lennard Arne Sandberg angegeben war, schien vom Erdboden verschwunden zu sein. In einer Zeitungsmeldung vom elften April 1980 wurde ein Beamter der Polizei von Philadelphia mit der Vermutung zitiert, Lennard Sandberg habe sich aus Gram über den Tod seiner Frau das Leben genommen.

Bei seiner Ankunft in Chestnut Hill war Wilbur gesund gewesen, aber noch immer zu klein und zu dünn. Er lag in einer Trage, für die man im Krankenhaus gesammelt hatte, und sein Kopf verdeckte die auf das Kissen gestickten Buchstaben W, I, L und B. Seine Augen waren groß und dunkelbraun, und Warren Clarence Rush, der Direktor des Heims, war versucht, Resignation darin zu erkennen.

Wilbur, inzwischen fast drei Monate alt, legte dank eines neuen Speiseplans stetig an Gewicht zu. Hatten die Schwestern im Saint Francis ihn noch ausschließlich mit der Flasche gefüttert, so wurde er hier auch mit Getreide- und Obstbrei, Vitamintropfen und Lebertran aufgepäppelt. Die Flasche, an der Wilbur scheinbar gelangweilt nuckelte, während er die Decke musterte, gab es nur noch zweimal pro Tag. Lawrence besorgte vom benachbarten Bauern Stutenmilch, die besonders nahrhaft war und die er mit eigenem Geld bezahlte. Er ließ nie locker, bevor Wilbur alles gegessen und getrunken hatte, wog den Jungen und ließ seine Frau das Gewicht in eine Liste eintragen, stolz, dass täglich ein paar Gramm dazukamen.

Alice Krugshank war mit einem Meter vierundachtzig drei Zentimeter größer als ihr Mann und überragte sämtliche weiblichen Kräfte in Chestnut Hill um mindestens zehn. Sie hatte rötliches Haar, und ihre Haut war von einer Helligkeit, die Lawrence verliebt perlmuttern und alabastern, sie selber aber einfach bleich nannte. Ihre Körperlänge und ihr sicheres Auftreten, das mit einer dunklen, festen und gleichzeitig warmen Stimme einherging, kaschierten geübt ihre tiefe Traurigkeit, von der niemand in ihrem Umfeld etwas ahnte und nur Lawrence wusste. Aber nicht einmal ihr schlafender Mann bemerkte es, wenn ihr Körper neben ihm zu zittern begann, wenn sie die Finger ins Laken krallte und die Tränen niederkämpfte. Er hörte sie nicht, wenn sie darauf wartete, dass das Toben in ihrem Brustkorb verebbte, und sie leise die Namen der Mädchen aufzählte, die gerade in Chestnut Hill lebten.

Vor zweieinhalb Jahren hatte Alice von ihrer Krebserkrankung erfahren. Eine Woche später wurde alles, was sie ihrer Meinung nach zur Frau machte, aus ihr herausgeschnitten. Der letzte Gedanke, den sie vor der Operation fassen konnte, war, dass sie nicht mehr aufwachen wollte. Sie hatte Lawrence in der Suppenküche in Newcastle, Delaware, kennengelernt, wo sie beide an den Sonntagen als freiwillige Helfer arbeiteten. Schon damals, während sie den Obdachlosen die Teller füllten, hatte er ihr vorgeschwärmt, wie groß seine Familie einmal sein würde. Lawrence war ein Mann, der den Sinn des Lebens darin sah, mit der Frau, die er liebte, mindestens fünf Kinder zu haben. Alice war diese Frau, und obwohl sie die Zahl der Sprösslinge auf drei reduzieren wollte, heirateten die beiden, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte. In den Flitterwochen plagten Alice Unterleibskrämpfe, und sie ging zum Arzt. Als der nichts finden konnte und die Schmerzen stärker wurden, schickte er sie zu einem Spezialisten.

Sie wollte Lawrence zuliebe sterben. Er würde eine andere Frau finden, das musste er ihr versprechen. Er verbot ihr, so zu reden, und als sie aus der Narkose aufwachte, erzählte er ihr von seinen Plänen, in einem Waisenhaus zu arbeiten. So werde er ständig mit Kindern zusammen sein und es überhaupt nicht vermissen, keine eigenen zu haben. Alice gab vor, ihm zu glauben, aber sie wusste, dass er nicht glücklich sein konnte. Und dass sie schuld daran war.

Zum ersten Mal hatte Lawrence von Adoption gesprochen, als er Alice dabei zusah, wie sie Wilbur die Fingernägel schnitt. Sie tat das mit großer Sorgfalt und Vorsicht, gleichzeitig aber mit einer Selbstverständlichkeit, wie Lawrence sie aus Kindertagen von seiner Mutter kannte. Obwohl Wilbur demonstrativ an die Decke sah und kein Interesse daran zu haben schien, was mit ihm gemacht wurde, redete Alice die ganze Zeit sanft auf ihn ein, als müsse sie ihm versichern, dass ihm nichts passieren konnte. Ihre dunkle, sonore Stimme löste etwas in Wilbur aus, von dem er nicht wusste, woher es kam. Etwas Verschüttetes, Vergessenes wurde halbwegs freigelegt, an das sich nicht sein Hirn erinnerte, sondern sein Bauch.

Jetzt badete Alice Wilbur, und wieder sprach Lawrence von der Möglichkeit, den Jungen zu adoptieren. Alice, die ihren Mann eben noch getadelt hatte, weil er mit Wilbur so lange in der Kälte gestanden hatte, nur um ihm das Pferd zu zeigen, antwortete nicht gleich. Von einer Beamtin der Adoptionsbehörde, bei der Lawrence jede Woche anrief und seinen Charme spielen ließ, wussten sie, dass Wilbur Verwandte hatte. Wer diese Menschen waren und wo sie lebten, durfte die Frau ihnen nicht sagen, ebenso wenig, ob sie sich um das Sorgerecht für Wilbur bemühten. Lawrence hatte in Erfahrung gebracht, dass Maureen Sandberg, geborene McDermott, fünf Tage nach ihrem Tod kremiert worden war, wie es ihre Eltern veranlasst hatten. Wo Wilburs Großeltern wohnten, hatte er nicht herausfinden können, aber er meinte, sie seien bestimmt zu alt, um ihren Enkel bei sich aufzunehmen, und weder die Verstorbene noch der verschwundene Vater schienen Geschwister zu haben.

Alice hob Wilbur aus der Wanne und trocknete ihn ab. Sie liebte dieses wunderliche, ernste Geschöpf, und der Gedanke, es weggeben zu müssen, brach ihr das Herz. Aber sie wollte sich nicht verletzen lassen, wollte das Verstreichen der Frist abwarten und dann den Adoptionsantrag stellen. Das sagte sie ihrem Mann auch jetzt wieder, und Lawrence, der so viel mehr gedankenlose Zuversicht besaß als sie, nickte. Besser als irgendjemand verstand er, warum es für sie unmöglich war, sich auf eine neue Hoffnung und das unsichere Glück mit Wilbur einzulassen.

Erst vor einem halben Jahr hatte Alice damit begonnen, nicht mehr nur das Sekretariat zu leiten, sondern sich nach Feierabend und an den Wochenenden auch um die Kinder zu kümmern, deren Akten sie führte. Davor hatte Lawrence sie regelmäßig und möglichst beiläufig gefragt, ob sie ihm mit dem einen oder anderen Jungen helfen könne, bis sie irgendwann, seine Absicht ahnend, eingewilligt hatte. Erst sollte sie einem Achtjährigen zur Hand gehen, der unbedingt ein Pferd zeichnen wollte. Einer hatte sich vorgenommen, heimlich stricken zu lernen. Einem anderen brachte sie bei, eine Krawatte zu binden.

Innerhalb weniger Wochen lernte Alice alle Jungen kennen und hatte plötzlich ein Gesicht, eine Stimme, meistens sogar eine Geschichte zu den Namen. Wenn sie jetzt eine Akte anlegte oder neue Einträge in bestehende machte, kannte sie das Kind, das dahinterstand. Jetzt wusste sie, woher der kleine Rodney Summers kam und warum er sich im Geräteschuppen versteckte, wenn ein Auto auf den Vorplatz fuhr. Warum Jimmy Barrett Häuser ohne Dächer malte und kein Huhn aß. Sie erfuhr, dass Alan Warchowski in einem kleinen blauen Buch eine Liste der Dinge führte, die er liebte, und in einem schwarzen diejenigen, die er hasste. Dass Jeffrey Green den Kopfstand machen und dabei eine Flasche Limonade trinken konnte. Dass Paul Hewitt in Sarah Morton verliebt war und Gedichte für sie schrieb, die er ihr nie zeigte.

Die Mädchen in Chestnut Hill verfolgten staunend und neidisch, wie sich Mrs. Krugshank plötzlich um die Jungen kümmerte. Wenn die in ihren Augen riesige und außerirdisch schöne Frau mit ein paar besonders mutigen Jungs im leeren Speisesaal Walzer übte, standen die Mädchen auf Schemeln hinter den Türen und beobachteten durch die Oberlichter das seltsame und wunderbare Treiben. Als Alice einer Gruppe von Jungen auf dem Vorplatz zeigte, dass sie das Hufeisenwerfen seit ihrer Kindheit nicht verlernt hatte, drückten sich die Mädchen an den Fensterscheiben die Nase platt. Alice war mit ihrer neuen Aufgabe so beschäftigt, dass sie die sehnsüchtigen, vorwurfsvollen und manchmal feindseligen Blicke der Mädchen nicht wahrnahm. Erst als eines Tages die fünfjährige Ruby Fletcher mit einem zerfledderten Stoffhasen im Arm in ihr Büro trat und fragte, ob Alice sie nicht leiden könne, wurde ihr klar, dass sie ihre Zuwendung ungerecht verteilt hatte.

Noch am selben Abend las sie den Mädchen im Aufenthaltsraum seitenweise aus einer Illustrierten vor, die eine Kollegin im Büro abonniert hatte und die überquoll vor Klatschgeschichten über Hollywoodstars, Musiker und Sportler. Die Mädchen lauschten den Skandalen und Romanzen begeistert und ignorierten dabei die grimassenschneidenden Köpfe der Jungs hinter den Oberlichtern. Am nächsten Tag brachte Alice den Mädchen bei, wie man Lockenwickler benutzte, am Tag danach, wie man Jungs auf sich aufmerksam machte und die allzu aufdringlichen loswurde. Natürlich waren es jetzt die Jungen, die sich vernachlässigt fühlten, und Alice beschloss, ihre Stunden aufzuteilen. Am Montag, Mittwoch und Freitag war sie für die Jungen da, Dienstag, Donnerstag und Samstag gehörte sie den Mädchen. Den Sonntag hielt sie für Lawrence frei. Und für Wilbur.

Was ein Sonntag war, wusste Wilbur nicht. Für ihn war es einfach eine wundersam in die Länge gezogene Zeit, während der dauernd etwas passierte, er ständig herumgetragen, durch die Gegend gefahren und hochgehoben, öfter als üblich abgeküsst und nie alleine gelassen wurde. Er spürte, dass einmal in der Woche beinahe alles stimmte, dass das, was er vermisste, für eine Weile ersetzt wurde durch etwas, das er mochte. Schien die Sonne, wurde er rittlings und mit einem Hut auf dem Kopf in einen Korb gesteckt, der an einem Fahrradlenker befestigt war. Dann ging es aufs Land, wo er zum ersten Mal riesige Kühe sah und Mähdrescher. Er saß auf Alices Schoß in einem Ruderboot, und Fische schwammen durch sein Spiegelbild, in dem er sich nicht erkannte. Über ihnen flogen Vögel, nach denen er griff, als störten sie die Leere seines Himmels. In den Wiesen, in denen sie zu dritt lagen, gelang es ihm überzeugend, sein Interesse an Ameisen, Käfern und Schmetterlingen zu verbergen. Doch obwohl Wilburs scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sie zusammen unternahmen, Alice und Lawrence Sorge bereitete, sah der Junge immer, wenn er hochgehoben wurde, in strahlende Gesichter. Diese Sonntage waren angefüllt mit Lachen und Singen, dem quäkenden Ton der Fahrradhupe, Kirchenglocken und Vogelzwitschern, den Geräuschen des Glücks.

Alice trocknete Wilbur ab und zog ihm den Schlafanzug an. Wenn sie ihr Gesicht über seines brachte, sah der Junge an ihr vorbei an die Decke. Am Anfang hatte sie das wütend gemacht und traurig. Jetzt akzeptierte sie es, weil sie wusste, dass er ihr irgendwann in die Augen sehen, ihren Blick erwidern und die unermessliche Liebe darin erkennen würde. Dann würden seine Pupillen aufleuchten und sich weiten vor wahrhaftigem Erstaunen, und er würde lächeln. Nur ein wenig, aber genug, um ihr das Leben zu retten.

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