8

Ich habe zurückgefunden. Ich sitze im Hotel in einem Zimmer, das noch kleiner und schäbiger ist als das, das ich vorher hatte. Der Typ am Empfang hat mich gleich erkannt, als ich vor fünf Tagen in die Lobby trat. Er sagte, man habe nach mir gesucht, und wenn ich wegen meines Koffers hier sei, solle ich mich an die Polizei wenden. Ich sagte ihm, das sei mir alles bekannt, erzählte etwas von einem Unfall und Missverständnissen und einem leichten Fall von Gedächtnisverlust und dass jetzt alles geregelt sei. Er glaubte mir nicht, und ich nahm es ihm nicht übel. Ich habe ihm Vermeers Scheck gezeigt und gesagt, meine Ausweise seien verlorengegangen, was ja auch irgendwie stimmt. Sobald ich die neuen bekäme, würde ich den Scheck einlösen und für mein Zimmer bezahlen. Auch das hat er mir nicht abgenommen. Er meinte, wenn ich ein Zimmer wolle, müsse ich dafür arbeiten. Eine Stunde später war ich der neue Mann für alle Fälle, der Arsch, der die Müllcontainer in den Hof schiebt und Hundescheiße vom Gehsteig schippt, der Glühbirnen auswechselt und im Keller gegen den Heizkessel tritt, der Wäschesäcke schleppt und Fenster putzt und Böden saugt. Ich bin der neue Hausmeister, der erste Weiße und der erste, der eine Leiter braucht, um an die Lampen im Flur zu kommen.

Meine Tage sind auf eine unordentliche Weise geregelt. Ich stehe um sieben auf und mache einen Rundgang durch die drei Stockwerke des Hotels. Mit einem Eimer gehe ich durch die Flure und das Treppenhaus und sammle den Müll ein, Zeitungen, Pappbecher, zerrissene Wettscheine und Briefe von Anwaltsfirmen und Sozialbehörden. Um acht esse ich auf dem Zimmer einen Doughnut und trinke zwei Tassen Tee. Gegen halb neun, neun wische ich vor dem Eingang und unterhalte mich dabei mit Winston, der auf einem Klappstuhl vor seinem Trödelladen sitzt. Eigentlich tauschen wir nur jeden Morgen ein paar Floskeln aus, bevor Winston über das Wetter fachsimpelt. Er ist um die sechzig und hält sich für einen Profi, wenn es um Prognosen geht. Gestern prophezeite er einen warmen Tag, und als es am Nachmittag saukalt wurde, saß er im Hemd vor seinem Laden, nur um recht zu behalten.

Den Rest des Tages verbringe ich mit Putzen und kleinen Reparaturen. Ich habe zwei linke Hände und kann eine Rohr- nicht von einer Kneifzange unterscheiden, aber ich scheine damit durchzukommen. Randolph erwartet von mir nicht, dass ich eine Fensterscheibe ersetze oder eine Toilettenspülung in Ordnung bringe, für so etwas lässt er richtige Handwerker kommen. Ich bin für die einfachen Dinge zuständig, schraube eine neue Sicherung ein, fülle ein Loch in der Wand mit Spachtelmasse aus der Tube, streiche einen Geländerpfosten und ziehe die lose Schraube einer Türnummer an. Und ich wische mitten in der Nacht Erbrochenes auf und krieche in einen Lüftungsschacht, um eine tote Taube rauszuholen. Diese Tätigkeiten sind auch der Grund, weshalb ich den Job überhaupt bekommen habe.

Bevor ich aufgetaucht bin, hat Randolph die kleinen, nicht allzu widerwärtigen Arbeiten selber erledigt. Ab und zu hat er einen Typ von der Straße oder einen der Stammgäste angeheuert, aber die alten Männer waren auf Dauer zu unzuverlässig und ungelenkig. Jetzt hat er mich. Das kleinste Zimmer und fünfzig Dollar die Woche sind zwar reine Ausbeutung, aber besser als gar nichts. Vom Nachtportier weiß ich, dass der Besitzer seine Kindheit in diesem Hotel verbracht hat, als seine Eltern es führten und die Zimmer noch edler und die Gäste respektabler waren. Der Mann sei schwerreich und behalte das Hotel aus sentimentalen Gründen, so wie andere Leute ein altes Puppenhaus auf dem Dachboden aufbewahren und langsam vergammeln lassen.

Am Abend sitze ich in meinem Zimmer und lese die Zeitungen, die ich in der Lobby aufgesammelt habe. Dabei fasse ich die Seiten nur an der oberen Ecke an, weil die alten Männer beim Umblättern ihre Finger mit Spucke befeuchten. Im Laden der Heilsarmee habe ich eine Hose und einen Mantel gekauft. Beides trage ich jetzt, weil es kühl ist im Zimmer. Meine Haare sind noch feucht vom Duschen, und ich nehme mir vor, Winston morgen zu fragen, ob sich in all dem Ramsch, den er verkauft, vielleicht auch ein gebrauchter Föhn verbirgt.

Im Zimmer neben mir hustet Dobbs, ein ehemaliger Militärpilot, der vor dreißig Jahren bei einem Übungsflug mit seinem Hubschrauber samt Copiloten und zwei Bordschützen in eine Kürbisplantage in Alabama gestürzt ist und seither von einer mickrigen Rente lebt. Mindestens einmal am Tag klopft er an meine Tür, dann lasse ich ihn herein oder gehe zu ihm rüber und höre mir eine seiner Geschichten an. Dobbs hat ein steifes Bein, nur noch einen halben rechten Daumen, und mit seinem Kopf ist vermutlich auch nicht mehr alles zum Besten bestellt. Doch er ist freundlich und redselig und in einer tiefen Traurigkeit gefangen, die er lächelnd erträgt.

Gestern habe ich ihm eine Tafel Schokolade mitgebracht, um ihn aufzuheitern. Er hat sich so gefreut, dass er schwor, die Schokolade nicht anzurühren, sondern sie auf der Kommode neben seine gerahmten Fotos zu stellen, aber ich habe ihn gedrängt, davon zu essen. Dann haben wir zusammen die ganze Tafel verdrückt, und er hat das Papier auf dem Tisch glattgestrichen und mit Reißzwecken an die Wand geheftet. Während wir die billige Schokolade aßen, hat Dobbs mir noch einmal erzählt, wie die reifen Kürbisse gegen das Cockpitfenster prasselten und schwarze Landarbeiter aus einer Hütte rannten, als der Hubschrauber zur Seite kippte und die Heckrotoren die Erde aufwarfen. Er hat die plötzliche Stille beschrieben und das Blau des Himmels hinter dem verdreckten Glas, aber nicht das Blut, nicht den Körper des toten Bordschützen, nicht sein Gesicht. An der Stelle, an der Dobbs sich aus dem Sicherheitsgurt löst, klinkt er sich auch aus der Geschichte. Dann sitzt er da und sieht an mir vorbei, und in seinem abgedunkelten Schädel flackern die Bilder, die er nicht in Worte fassen kann.

Nach einer Weile geht ein Schlag durch ihn hindurch, sein Kopf wackelt auf dem dünnen Hals, der Blick sucht die eigenen Hände. Er erhebt sich und verfällt in Geschäftigkeit, kocht Tee oder faltet ein Handtuch zusammen, lächelnd, als sei ihm seine Seelenqual peinlich. Dabei redet er atemlos von Spaziergängen im Park, von Büchern und Tauben. Den Tauben, die er füttert und die ich Randolphs Anweisungen zufolge vergiften soll.

Ich lege mich auf das Bett und breite den Mantel über mir aus. Meine Haare sind trocken. Ich hätte gerne meinen Koffer bei mir, meine paar Dinge, die ich schon so lange mit mir herumgeschleppt habe. Die Aufnahme von Orla in Sligo, die beiden Fotos meiner Mutter, den reitenden Indianer, Colms Nashorn, die Briefe. Ich frage mich, was Vermeer damit macht. Ohne meinen Pass bin ich aufgeschmissen. Ich kann weder den Scheck einlösen noch das Land verlassen. Im National Geographic habe ich einen Artikel über einen Ort in Mexiko gelesen, in dessen Bucht Wale ihre Jungen zur Welt bringen. Touristen fahren da hin, um sich die Tiere anzusehen. Dort würde ich bestimmt einen Job finden. Das Leben wäre billig, ich könnte eine Weile bleiben und warten, bis etwas passiert, das mich vertreibt. Dann würde ich noch tiefer in den Süden fahren. Guatemala. Honduras. Ich könnte hinunter bis nach Chile, bis es nicht mehr weitergeht. Aber ohne Pass kann ich nicht weg.

Ich habe mir schon überlegt, in die Stadt der Selbstmörder zurückzugehen, um meine Sachen abzuholen, aber dann denke ich an Vermeer, den ich im Stich gelassen habe, und vergesse es. Die Vorstellung, vielleicht Aimee zu begegnen, ist ein weiterer Grund, nicht zu gehen, ganz zu schweigen von Elroy und den anderen Nervensägen. Nachts vermisse ich manchmal Melvins Gemurmel, aber am Morgen bin ich immer froh, mir das Gequatsche im Speisesaal nicht anhören zu müssen. Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich schriftlich darum bitten, dass man mir meine Sachen ins Hotel schickt. Ich werde Vermeer ein paar Zeilen schreiben und den Scheck beilegen, den ich ohne Ausweis sowieso nicht einlösen kann. Eintausend Dollar gegen eine Handvoll Erinnerungen in einem schäbigen Koffer. Ein fairer Tausch, finde ich.

Weil ich nicht schlafen kann, weil mir kalt ist und ich nur in Träumen versinke, aus denen ich nach kurzer Zeit aufschrecke, gehe ich hinunter in die Lobby. Leonidas sitzt hinter der Theke und schreibt. Er ist der Nachtportier. Er ist etwa halb so alt wie Randolph, um die dreißig, sieht aber jünger aus. Er trinkt und raucht nicht, und er rennt jeden Tag fünf Meilen, bei jedem Wetter. Sein Job lässt ihm viele Freiheiten, und wenn er sich nicht gerade mit einem der Dauermieter herumschlägt oder einen neuen Gast abfertigt, schreibt er Briefe an seine Familie in Griechenland. Und Theaterstücke, Tragödien. Er hat mir drei davon vorgelesen. In den Stücken geht es vor allem um Liebe und Verrat und Tod. Leonidas hat mich gefragt, warum kein Theater an seinen Stücken interessiert sei. Ich habe ihm gesagt, das sei vielleicht so, weil in seinen Stücken ziemlich viel gestorben werde. Er meinte, im richtigen Leben würde doch auch dauernd jemand sterben. Wer, wenn nicht ich, musste ihm da recht geben?

Heute schreibt er nur Briefe. Er will ein Foto von mir machen, und ich stelle mich vor die Wand, an der die Hausordnung und ein Feuerlöscher hängen. Leonidas’ Mutter will von allen Menschen, mit denen ihr Sohn privat und beruflich zu tun hat, Fotos. Sie sieht sich die Bilder an und teilt ihrem Sohn dann mit, ob er den Leuten trauen kann oder sie meiden soll. Leonidas hat eine Digitalkamera und ein Notebook, mit dem er die Bilder über das Internet verschickt. Er erwähnt nichts vom Auswahlverfahren seiner Mutter, das weiß ich von Enrique, einem Stammgast, der durchgefallen ist und von Leonidas seither höflich, aber zurückhaltend behandelt wird.

Enrique und Alfred sitzen in den abgewetzten Möbeln unter dem Kronleuchter und spielen Domino. Enrique ist Exilkubaner und ohne seine Brille blind, Alfred ein Vertreter für Klimageräte, der hier ein Zimmer nimmt, wenn er in New York zu tun hat, was die meiste Zeit des Jahres der Fall ist. Enrique ist Mitte fünfzig, Alfred vielleicht zehn Jahre älter, und beide trinken wie die Fische. Gestern wollten sie mich losschicken, um ein paar Flaschen Wein zu besorgen, und als ich ihnen sagte, ich sei hier das Mädchen für vieles, aber nicht alles, und außerdem verbiete die Hausordnung Alkoholkonsum, waren sie eingeschnappt.

Ich mag das Klicken, das entsteht, wenn Alfred mit den Steinen spielt, und setze mich neben Spencer auf das Sofa. Spencer ist weit über siebzig und hat, seit ich hier bin, noch kein Wort geredet, weder mit mir noch sonst jemandem. Dabei ist er nicht unhöflich, auch jetzt nickt er mir freundlich zu. Er trägt einen hellen Anzug, einen Panamahut mit schwarzem Stoffband und schwarze Schuhe, die immer poliert sind. Leonidas sagt, Spencer sei früher reich gewesen und rede nicht mit jedem. Ich kann Spencer gut leiden, vor allem, weil er keine Kippen auf den Boden schmeißt und mich nie darum bitten würde, mir seine verstopfte Toilette anzusehen.

Manchmal stelle ich mir vor, so alt wie Spencer zu sein. Wir schreiben das Jahr 2050, und das Hotel ist noch heruntergekommener als jetzt, eine Insel in der Zeit. Ich habe das Leben bald hinter mir und verbringe meine restlichen Tage damit, meine drei Hemden und die beiden Anzüge, einen hellen und einen dunklen, zwischen der Reinigung hin- und herzutragen, meine zwei Paar Schuhe zu polieren und die Museen der Stadt zu besuchen. Ich habe ein paar Gebrechen und für jedes eine Tablette in einem praktischen Wochenspender. Jeden Morgen um halb neun Uhr trinke ich in meinem Stammlokal ein Kännchen Tee und lese die Zeitung. Die Kellnerin, etwas jünger als ich und noch immer eine Schönheit, mag mich und bringt mir manchmal ein zweites Croissant, auf Kosten des Hauses. Am Nachmittag widme ich mich meinem Hobby, Philatelie oder Numismatik, vielleicht male ich Aquarelle. Die Wände meines Zimmers sind mit Büchern gefüllt, die alten Griechen, die Russen, dicke Bände, die ich beidhändig aus den Regalen stemmen muss. Ich besitze einen Hut, einen breitkrempigen argentinischen. Die Leute fragen sich, woher ich komme, und erfinden Biografien für mich. Ich sterbe im Schlaf, traumlos. Zu meiner Beerdigung kommt niemand. Die Kellnerin erfährt erst Wochen später von meinem Tod und vertraut einer Freundin an, mich heimlich geliebt zu haben.

Spencer sieht durch ein Fenster auf die Straße hinaus, wo nichts ist, und seine Verlorenheit und Genügsamkeit haben etwas Tröstliches. Seine gefalteten Hände ruhen in Kinnhöhe auf dem Knauf seines Gehstocks, seine Wimpern zittern wie Insektenfühler, und wenn er einatmet, klagt etwas in ihm leise über die Anstrengung. Bevor er sich erhebt, nickt er mir zu, dann geht er zur Treppe und steigt langsam Stufe um Stufe hoch in den dritten Stock, wo am Ende des Flurs sein Zimmer liegt und nichts und niemand ihn erwartet. Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Enrique und Alfred machen sich lustig über mich, weil ich nicht trinke, sind aber heimlich froh, dass ich den angebotenen Schluck Wein ablehne. Leonidas klebt Umschläge zu, ein ganzer Stapel liegt auf der Theke. Ich beneide ihn um all seine Verwandten, die wollen, dass er zurückkommt. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und gehe nach oben, langsam und ohne Erwartung, genau wie Spencer.

Ich sauge den Teppich in der Lobby, und Randolph liest in seinem Sportfischermagazin, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich denke, es ist Mazursky oder Elwood, einer der beiden Stammgäste, die dauernd ankommen und mir ins Ohr brüllen, in ihrem Zimmer tropfe der Wasserhahn oder das Fenster sei undicht. Ich habe ihre ewigen Reklamationen satt und drehe mich so abrupt um, dass Aimee vor mir zurückweicht. Erst als sie mein Gesicht sieht, lacht sie, nur kurz, dann wird sie ernst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie ist verlegen. Ich schalte den Staubsauger aus, der infernalische Lärm verstummt.

«Ich wusste, ich finde dich hier«, sagt sie. Der Mantel, den sie trägt, ist dick und riecht nach Rauch und dem leichten Regen, der seit dem späten Morgen über der Stadt niedergeht, obwohl Winston für den ganzen Tag trockenes Wetter vorhergesagt hat. Ich wette, er sitzt ohne Regenjacke oder Schirm auf seinem Stuhl vor dem Laden und trotzt dem Nieseln und der Kälte.

«Ziemliches Mistwetter, was?«sagt Aimee, reibt sich die Hände und winkt dann in Randolphs Richtung. Randolph nickt ihr kurz zu. Enrique, Alfred und Mazursky haben ihre Zeitungen und Rätselhefte und Versandkataloge zur Seite gelegt und bringen ihre Kleidung in Ordnung. Alfred kämmt sich in Sekundenschnelle das schüttere Haar und nimmt die Brille ab.

«Arbeitest du hier?«Aimee wirft einen Blick auf den vorsintflutlichen Staubsauger, der mit seiner Eiform und dem runden Sichtfenster an ein Raumschiff aus Flash Gordon erinnert.

Ich nicke. Mir fällt ein, dass ich noch nie ein Wort zu Aimee gesagt habe. Bestimmt hat ihr jemand erzählt, dass ich wieder spreche. Spencer kommt die Treppe herunter und bleibt vor Randolphs Theke stehen. Er trägt einen Wintermantel und hat statt des Stocks einen Regenschirm in der Hand. Randolph dreht sich auf dem Barhocker um, obwohl er weiß, dass Spencers Fach leer ist, schüttelt den Kopf und liest weiter. Spencer nickt, als habe er nichts anderes erwartet, setzt den Schlechtwetterhut auf, ein dunkelgraues Modell mit geschwungener Krempe, und durchquert die Lobby. Dabei grüßt er Aimee und mich mit einem Nicken, schlägt den Mantelkragen hoch und verschwindet hinter dem schweren Vorhang, der zwischen Eingangshalle und Tür hängt und die kalte Luft zurückhält.

«Netter Ort«, sagt Aimee. Ich zucke mit den Schultern. Enrique schneidet Grimassen in meine Richtung, und ich sehe woanders hin.»Hast du ein bisschen Zeit?«fragt Aimee.»Auf dem Weg hierher hab ich ein Lokal gesehen. «Sie wartet.»Ich spendier dir einen Drink.«

Alfred kann nicht anders, als ein leises Johlen von sich zu geben.»Ich hätte Zeit«, ruft er. Enrique findet das ungemein komisch. Mazursky kichert vor sich hin. Als ich ihm einen wütenden Blick zuwerfe, verstummt er und baut einen Paravent aus seiner Zeitung.

«Kann auch ein Kaffee sein«, sagt Aimee. Ein graublauer Schal ist um ihren Hals gewickelt, an den Füßen trägt sie klobige schwarze Schnürstiefel.»Komm schon, mach’s mir nicht so schwer, Will. «Sie lächelt ein wenig, und jetzt bin ich fast sicher, dass sie verlegen ist.

«Komm schon, Will«, sagt Alfred, und Enrique wiehert drauflos.

«Muss erst Randolph fragen«, sage ich und gehe zur Theke. Den Staubsauger ziehe ich hinter mir her, seine kleinen Räder quietschen. Randolph sieht nicht einmal von seinem Magazin hoch und sagt, ich solle abhauen.

Das Lokal liegt zwei Blocks vom Hotel entfernt. Ich bin schon daran vorbeigegangen, Kneipen sind nicht mein Fall. Der Raum ist lang und schmal. Links stehen die Theke, Regale und Kühlschränke, rechts die Tische, durch schulterhohe Wände voneinander abgetrennt. Ganz hinten bei der Tür, wo es zu den Toiletten geht, hängt eine Dartscheibe. Ein altes Ehepaar, beide in Jeanshosen, — hemden und — jacken gekleidet, spielen gegeneinander. Sie erledigen ihre Würfe, als sei es eine Arbeit. Die Frau ist klein und zierlich, und nur dank ihren aufgetürmten blonden Haaren wirkt sie neben ihrem Mann nicht wie ein Kind.

«Danke für den Brief«, sagt Aimee. Sie lächelt und berührt ebenso flüchtig meine Fingerspitzen. Ich ziehe die Hand zurück und bereue in der gleichen Sekunde, es so jäh getan zu haben. Aimees Handschuhe liegen auf dem Tisch, auch der Schal und eine Wollmütze, die sie auf dem Weg hierher aufgesetzt hat. Ich frage mich, ob sie selber strickt oder ob sie die Sachen von ihrer Mutter bekommen hat, vielleicht von ihrer Großmutter. Die Kellnerin bringt meinen Tee und Aimees Milchkaffee. Sie hält eine Tasse in jeder Hand und bewegt sich beinahe grotesk langsam zu unserem Tisch, um nichts zu verschütten. Aimee lächelt ihr zu, aber sie bemerkt es nicht, weil sie bereits wieder auf dem Weg zur Theke ist, um den Zuckerstreuer zu holen. Das Etui mit dem Trinkhalm steckt in meiner Hosentasche, aber ich lasse es dort.

«Es tut mir leid«, sagt Aimee.»Die Sache im Gartenhaus.«

Ich fülle den Löffel mit Tee und verbrenne mir die Zunge daran. Alles in diesem Raum ist alt und aus dunklem Holz. Das Licht ist gelb, über der Theke farbig, wo es aus den Neonschildern der Bierfirmen strömt und, vom Spiegel zurückgeworfen, über den Tresen und die Barhocker und ein Stück des Bodens fließt. Die Stille ist ungewöhnlich. Ein Kühlaggregat summt, Musik kommt von irgendwoher, so leise, dass ich nicht einmal die Sprache verstehe. Die Kellnerin stellt den Zucker auf den Tisch und geht zu dem Dart spielenden Paar.

«Den Brief habe ich dir geschrieben, bevor…«Ich rede nicht weiter. Weil der Zucker vor mir steht, kippe ich zwei Löffel in meine Tasse.

Eine Gruppe Leute betritt das Lokal, alte Männer und Frauen, die sich in der Nähe des Eingangs an einen Tisch setzen. Als sie ihre Hüte, Schals, Ohrenwärmer, Umhängetaschen, Mäntel und Handschuhe ablegen, kommen sie mir vor wie müde Jäger, die aus der Wildnis heimkehren. Wenn sie reden, tun sie das leise und in Sätzen aus weniger als fünf Wörtern.

«Ich weiß«, sagt Aimee. Sie tut Zucker in ihren Kaffee, drei Löffel voll, und rührt um.»Ich möchte es dir erklären.«

«Nicht nötig«, sage ich und mache eine Handbewegung. Dabei stoße ich gegen die Tasse, und Tee schwappt über den Rand.

«Die Männer dort sind alle so traurig. Wenn sie mich berühren, denken sie vielleicht an etwas anderes als daran, sich umzubringen.«

«Ich wollte mich nicht umbringen«, sage ich.

Aimee umschließt die Tasse mit beiden Händen, aber sie trinkt nicht. Das Ehepaar in Denim verlässt Hand in Hand das Lokal.

«Ich möchte nicht, dass du denkst…«Aimee hebt den Kopf und sieht mich an. Ich senke den Blick, es ist wie ein dummes Spiel. Drei Männer kommen herein, Müllmänner oder Straßenkehrer, vielleicht auch Bauarbeiter. In ihren leuchtend orangefarbenen Overalls mit den weißen fluoreszierenden Streifen sehen sie nützlich aus, wichtig, ihr Anblick weckt Vertrauen in ein funktionierendes System. Sie setzen sich an einen Tisch, und endlich erfüllt ein wenig Lärm den Raum. Vielleicht sind es Feuerwehrleute, denke ich, und sie haben gerade jemanden gerettet. Ich stelle mir vor, ihre Uniform zu tragen und einer von ihnen zu sein. Ich würde Wasser in gelöschte Häuser verwandeln, in dankbar weinende Familien und Hunde mit versengtem Fell, die mir das Gesicht ablecken.

«Ich schreibe einen Artikel über das Institut«, sagt Aimee. Dabei zupft sie Wollknoten vom Schal und lässt sie auf die Tischplatte fallen. Stücke von Teeblättern liegen auf dem Grund meiner Tasse, darüber, im braunen Wasser, schwebt mein Auge.

Ich sehe Aimee an. Jetzt ist sie es, die den Blick senkt. Sie presst die Wollflusen zu einer Kugel. Die Männer reden und lachen und husten. Einer kommt an den Tisch, und seine Stimme lässt mich zusammenzucken. Vermutlich gibt es keine Uniform in meiner Größe, keinen Helm. Aimee schiebt den Zuckerstreuer an den Tischrand. Der Mann nimmt ihn, bedankt sich und geht zurück zu den anderen.

«Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

«Du bist Journalistin«, sage ich. Dampf steigt aus meiner Tasse, trüge ich eine Brille, würden sich die Gläser beschlagen.

«Nein. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht, wenn ich diesen Artikel geschrieben habe, ich weiß nicht. «Sie legt die Wollkugel in die Untertasse und trinkt einen Schluck Kaffee. Ein schmaler Streifen Milchschaum klebt an ihrer Oberlippe, bis sie ihn mit der Zungenspitze wegwischt.»Da drin nehmen Männer sich das Leben, weil Vermeer neue Behandlungsmethoden an ihnen testet. Ärzte bekommen Geld, damit sie falsche Totenscheine ausstellen. «Aimee macht eine Pause. Bestimmt erwartet sie, dass ich den Kopf hebe und sie erstaunt ansehe. Aber ich halte den Blick gesenkt.»James Foster schluckt Glasscherben und verblutet, stirbt aber offiziell an Darmkrebs. Edward Holbrook stülpt sich einen Plastikbeutel über den Kopf und erstickt, der Arzt macht ein Lungenversagen daraus. Roger Willett trinkt Chlor, und seiner Familie wird gesagt, es sei ein Herzinfarkt gewesen.«

«Roger mit den Zeitungsausschnitten?«Ich sehe Aimee an.

«Vor fünf Tagen«, sagt sie leise.»Er hat sich zur Arbeit im Schwimmbad gemeldet, nur um an das Gift ranzukommen.«

Ich bringe keinen Ton hervor. Roger hat sich umgebracht. Er und seine Familie gehörten zu den Bewohnern eines kleinen Ortes in Tennessee, deren Leben durch einen Chemiekonzern zerstört worden waren. Ihr elfjähriger Sohn starb an Leukämie, wenige Wochen nachdem ein Gericht den Betroffenen Wiedergutmachungsgeld zugesprochen hatte. Die Firma schloss die Niederlassung in Tennessee und ließ in dem Ort drei Todesopfer und mehr als zweihundert entlassene Arbeiter zurück. Ein paar Verantwortliche gingen für kurze Zeit ins Gefängnis. Roger benutzte das Geld, um die Umweltverbrechen anderer Firmen aufzudecken. Seine Frau nahm ihren Anteil und ließ sich von ihm scheiden. Roger verkaufte das Haus, reiste durch das Land und half beim Aufbau von Bürgerinitiativen, die gegen fahrlässig handelnde Konzerne prozessierten und meistens verloren. Er hielt Reden vor zwanzig und zweihundert Leuten und schrieb Artikel, er gab Lokalzeitungen Interviews und saß in winzigen Radiostudios, er bezahlte Rechtsanwälte und wohnte in billigen Motels, er vergaß zu schlafen und zu essen und begann zu trinken. Zwei Jahre lang schaffte er es, keine Zeit zum Trauern um seinen Sohn zu haben. Als das Geld und das Interesse der Medien an seiner Mission versiegt waren, hängte er sich mit seinem Gürtel an ein Wasserrohr in der Waschküche eines Motels. Er war bewusstlos, als die Halterungen des Rohrs aus der Decke brachen. Das Journey’s End Motel lag am Ortsrand von Bloomington, New York. Von dort war es nicht sehr weit bis zu Vermeers luxuriösem Auffanglager.

Das alles habe ich aus den Artikeln, die Roger mir stumm vor die Füße gestellt hatte, den Rest von Melvin.

«Der Artikel ist fast fertig«, sagt Aimee.»Ich dachte, vielleicht liest du ihn mal. Wir könnten darüber reden, und du sagst mir, ob noch was fehlt.«

«Ich glaube nicht«, sage ich nach einer Weile. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was Aimee gesagt hat. Ich habe mich gefragt, ob Roger jetzt bei seinem Sohn ist. Ob es tatsächlich einen Himmel gibt, wo alle einander wiedersehen. Und ob meine Mutter und Orla da oben auf mich warten, egal, wie lange es dauert. Als Kind lag ich nächtelang wach und stellte mir diese Fragen. Ob es ein Jenseits gibt, oder ob das bloß eine Erfindung der Kirche ist, ein falsches Versprechen, eine Lüge, damit wir das Diesseits ertragen. Aimee redet, ihre Stimme ist weit weg, und ich frage mich, ob Roger im Paradies ist oder einfach nur tot, zurück im Nichts, erlöst von allem Schmerz.

«Was Vermeer und die Ärzte da tun, ist illegal«, sagt Aimee. Sie spricht lauter, weil sie weiß, dass ich ihr nicht zuhören will.»Pingpong statt Psychopharmaka klingt schön, aber es ist unverantwortlich. Wir reden hier nicht von Männern mit kleinen Nervenzusammenbrüchen. Ihr habt versucht, euch umzubringen, Herrgott!«

Ich will ihr noch einmal sagen, dass ich mich nicht umbringen wollte, lasse es dann aber bleiben. Plötzlich bin ich sehr müde.»Man hat sich gut um mich gekümmert. Ich habe Medikamente bekommen.«

«Auf der Krankenstation, ja. Schlaftabletten. Beruhigungspillen.«»Ich konnte mich erholen.«

Die alten Leute bezahlen, verwandeln sich zurück in die Gruppe glückloser Jäger und gehen. Jemand dreht die Musik lauter, die Töne eines Klaviers vermischen sich mit dem gelben Licht. Aimee streift sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Eine Weile scheint es, als höre sie der Musik zu. Ich trinke meinen Tee, der inzwischen lauwarm ist.

«Es wäre schön, wenn du mir helfen würdest«, sagt Aimee leise.

«Ich habe nichts gegen Vermeer«, sage ich ruhig.»Dafür, dass er mich nicht mit irgendwelchem antidepressiven Mist vollgestopft hat, bin ich ihm sogar dankbar.«

«Du hast einen Spiegel zertrümmert, um dir die Pulsadern aufzuschlitzen, verdammt noch mal!«Aimee sagt das so laut, dass die drei Männer und die Kellnerin zu uns herübersehen.

Ich stehe auf und gehe. Mir ist ein wenig schwindlig, vielleicht weil ich heute noch nichts gegessen habe. Auf dem Weg zum Hotel werde ich Brot und Schokolade kaufen. Aimee ruft mir nicht nach und folgt mir nicht.

Heute habe ich fast die Hälfte meines Wochenlohns für einen gebrauchten Föhn und einen kleinen Elektroofen ausgegeben. Weil Winston mich mag, hat er noch einen tragbaren Schwarzweißfernseher und einen Bambusstab in die Kiste getan. Der Bambusstab ersetzt die Fernbedienung. Mit ihm drücke ich die Programmtaste und verschiebe den Lautstärkeregler. Das Gerät hat die Größe und technische Raffinesse eines Toasters. Das Bild ist entweder zu hell oder zu dunkel, und zittrige Linien wabern von oben nach unten, was aussieht, als würden Schlieren von Flüssigkeit über den Bildschirm laufen. Der Ton ist in Ordnung, und die meiste Zeit liege ich mit geschlossenen Augen da und höre einfach nur zu. Vom Ofen geht ein seltsamer, metallischer Geruch aus, aber er schafft es immerhin, den winzigen Raum zu erwärmen.

Später sehe ich mir Twelve Monkeys an. Ich kenne den Film schon, aber in Schwarzweiß und Postkartengröße ist es ein neues Erlebnis. Flimmernd und ohne den Trost der Farben wirken die Bilder noch düsterer, die Geschichte verliert selbst den letzten Funken Hoffnung. Ich liege auf dem Bauch, meine Nase berührt beinahe den warmen Bildschirm. Ich krieche unter die Erde zu den Überlebenden, ich folge Bruce Willis in die Vergangenheit, ich bin James Cole, der im falschen Jahr landet, neunzehnhundertneunzig, dem Jahr, in dem Orla starb.

Ich liege auf den Steinen, dem Turm im Meer aus Gras. Über mir sind Sterne. Mein Großvater kniet neben mir. Das Messer in seiner Hand schimmert im Licht des Mondes. Er hat Gott gerufen, aber die Stille um uns ist nicht nur die meines Traums. Er wollte uns erlösen, alles Unrecht sühnen, jetzt verliert sich sein Blick im Leuchten der Klinge. Ich spüre mich nicht. Ich bin ein Name in einem alten Heft, eine Skizze, ich liege zwischen den Zeilen, umgeben von Wörtern ohne Sinn. Mein Körper ist ein zittriger Kreis, meine Haut aus Tinte. Das Papier schluckt mich, es weht mich davon, an den Rändern glühend. Mein Großvater weint, und ich will meine Hand auf seine legen, aber ich bin schon fort. Der Wind treibt mich aufs Meer, im Wasser bekomme ich einen Leib und sinke schwer zum Grund. Die Fische rufen meinen Namen.

«Wilbur.«

Das Wasser ist getränkt von Helligkeit, Mondlicht trägt mich. Ich muss atmen, in meinen Lungen kreist singend ein Rest verdorbener Luft. Meine Arme rudern, unter meinen Füßen ist nichts, nicht einmal das Muster aus schwarzen Namen. Fische schwimmen durch mich hindurch.

«Wilbur?«

Mein Kopf stößt durch die Oberfläche in die Dunkelheit. Klopfen dringt an mein Ohr. Ich öffne den Mund und schlucke warmen Sauerstoff. Ich huste, richte mich auf und starre keuchend auf die Wand vor mir. Langsam heben sich die Dinge aus dem Dunkel, der Schrank, der Stuhl.

«Wilbur, bitte mach auf. «Wieder das Klopfen.

Ich stehe auf, es ist ein halber Schritt zur Tür. Aimee steht auf dem Flur, breit und schwarz in ihrem Mantel. Wir sehen uns an, das Spiel ist zu Ende.

«Eine Katze«, sagt Aimee nach einer Weile. Hinter ihrem Kopf brennt ein Licht, ihre Haare leuchten. Sie riecht nach Regen und U-Bahn und Dieselwolken.

«Was?«Meine Stimme ist leise, ich räuspere mich.

«Die Narbe. Ich habe mit der Katze des Nachbarn gespielt.«

Ich nicke, dann erst begreife ich. Der rosafarbene Halbmond auf ihrer Wange. Aus einem der Zimmer dringt Musik, jemand flucht. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, und ich spüre den Ruck durch die nackten Fußsohlen.

«Lässt du mich rein?«

Ich trete zur Seite, und sie kommt zu mir ins Zimmer. Ihr Haar streift mich beinahe. Erst jetzt sehe ich, dass sie in der Hand meinen Koffer trägt.

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