Kim Chong Woo hatte, obwohl Koreaner, ein flaches, pockennarbiges Gesicht von eher chinesischem Typus, und das Lächeln darauf schien ein untrennbarer Bestandteil seiner Gesichtszüge zu sein. »Es wird mir sein eine große Ehre, Mister Carr«, radebrechte er sofort, als ich ihm mein Ansinnen vortrug, nahm mir den Clip aus der Hand und applizierte den Öltropfen darauf in eine haarfeine Glaskapillare, die er wiederum in einen röhrenförmigen Probenträger aus Edelstahl steckte. Das Ganze schob er in die Aufnahmeöffnung eines unscheinbaren Gerätes, dem man die Millionen, die es gekostet haben mußte, überhaupt nicht ansah, und drückte einen Knopf. Das unscheinbare Gerät begann summend zu arbeiten.
»Es wird dauern«, lächelte er. »Längeren Zeitraum.«
»Gut«, meinte ich, während ich den Clip abwischte und wieder an meinem Overall festklemmte, »ich kann ja warten. Lassen Sie sich nicht in Ihrer Arbeit stören.«
»Sie stören überhaupt nicht«, beeilte Kim sich zu versichern. Er zögerte trotzdem ein wenig, ehe er sich wieder vor seiner Versuchsanordnung festschnallte. »Wird wichtiger Bestandteil meiner Habilitationsarbeit«, erklärte er. »Sie wissen, was eine Habilitationsschrift ist?«
Ich nickte gequält. Kim konnte mich leiden, aber auch er hielt mich für beschränkt. »Ja«, sagte ich. »Sie wollen Professor werden.«
Er nickte begeistert. »Professor für Metallurgie an Universität von Seoul. Weltraum-Metallurgie.«
In diesem Moment waren harte, schabende Kratzgeräusche von den Wänden des Labormoduls her zu hören, als schlage jemand von außen mit einem Schraubenschlüssel dagegen in der Hoffnung, eine brüchige Stelle zu finden. Nein, es waren mehr als ein Schraubenschlüssel. Sechs mindestens, und sie klopften und scharrten sich die Wand entlang auf das freie Ende des Moduls zu.
»Aha«, lächelte Kim. »Das ist Spiderman. Möglicherweise Sie haben Lust, Spiderman zu beobachten bei seiner Tätigkeit, Mister Carr?«
»Gute Idee«, meinte ich. Ich zog mich an eine der Sichtluken und öffnete die Blende, so daß ich hinaussehen konnte.
Spiderman war der Spitzname des Montageroboters, der unablässig, Tag und Nacht, jahraus, jahrein über die Solarfläche krabbelte und mit der unerschöpflichen Geduld einer Maschine an ihrer Vervollständigung arbeitete. Er sah aus wie eine große mechanische Spinne. Sein Körper war ein schmales, ungefähr rechteckiges Gebilde von annähernd drei Metern Länge, das neben der Energieversorgung und dem Steuerungscomputer vor allem zwei Greifzangen trug, die imstande waren, genau eine der Folienrollen zu transportieren, wie sie aus Kims automatischer Schmelze kamen. Am Kopfende äugten zwei beweglich montierte Kameras aufmerksam umher, und rechts und links des Körpers gab es jeweils drei sehr lange, sehr dünne Spinnenbeine, mit deren Hilfe sich der Roboter fortbewegte. Daher kam der Name.
Spiderman war im Unterschied zu unserer großen, fernlenkbaren Montageplattform nicht imstande, sich freifliegend durch den Raum zu bewegen, weil er eben nicht ferngelenkt war, sondern sich vollkommen selbst steuerte und eine schwebende Fortbewegungsweise die Fähigkeiten seines Computersystems überfordert hätte. Er hatte Magnete und zangenartige Greifinstrumente an den Enden seiner Beine, mit deren Hilfe er sich ausnehmend elegant an der Trägerstruktur der Solarfläche entlanghangelte. In all den Jahren hatte er noch nicht ein einziges Mal danebengegriffen oder den Halt verloren, und das hieß einiges, denn Spiderman war noch ein gutes Stück älter als die ganze Raumstation.
Ursprünglich hatte es zehn dieser Roboter gegeben, die den Ausbau der riesigen Solarfläche weitgehend selbständig bewerkstelligt hatten. Die anderen neun Roboter hatte man eines Tages, als der größte Teil des Solargenerators fertiggestellt gewesen war, wieder zur Erde zurückgeschafft; Spiderman war der Letzte seiner Art. An ihm hatte man testen wollen, wie lange ein Roboter im Weltraum funktionstüchtig bleiben kann. Mittlerweile aber schien es fraglich, ob irgendeiner der an diesem Test beteiligten Wissenschaftler sein Ende jemals erleben würde, denn Spiderman arbeitete und arbeitete und arbeitete unermüdlich und ohne Unterlaß. Er war ursprünglich einmal silberweiß lackiert gewesen, doch inzwischen hatte die gnadenlose Sonne seine Oberfläche regelrecht braungekocht. Seine einstmals klaren Kameralinsen begannen sich zu trüben von der Partikelstrahlung. Trotzdem ließ er sich nicht davon abhalten, emsig über die schneeweiße Ebene rings um die Station zu krabbeln, immer wieder neue Folie zu holen und mit seinen langsamen, aber geschickten Greifwerkzeugen auch die letzten leeren Stellen in der Struktur der Solarfläche zu füllen.
So auch jetzt. Es war immer wieder faszinierend, den Roboter bei seiner Tätigkeit zu beobachten. Er krabbelte ans Ende des Moduls, bis er seinen ›Leib‹ genau über dem länglichen Schlitz der Ausgabeschleuse plaziert hatte. Dann betätigte er mit einem seiner Greifarme eine breite Taste, und das Schott der Ausgabeschleuse fuhr auf. Spiderman kontrollierte mit einem raschen Blick einer seiner Kameras, ob auch eine Rolle Folie darin lag. Dann senkte er seinen Leib auf die Öffnung herab, die Greifzangen packten die Folie, und noch während der Leib des Roboters wieder nach oben federte, schloß sich die schmale Schleuse wieder, und die Maschine, die in einem vakuumisolierten Raum untergebracht war, der die hintere Hälfte des materialwissenschaftlichen Labors beanspruchte, fing automatisch an, neue Solarfolie herzustellen. Und Spiderman stakte majestätisch den Weg zurück, den er gekommen war.
»Silizium«, erklärte Kim begeistert. »Billigstes Rohmaterial. Überall zu finden, auf jedem Planeten. Hier wir schaffen große, zusammenhängende Kristallgitter. Unsere Folie könnte auf der Erde nicht hergestellt werden, wegen der Schwerkraft, und sie würde sich zersetzen in der normalen Atmosphäre. Nur wir können sie herstellen, nur wir können sie benutzen. Kein Exportartikel, was?«
Er lachte. Wahrscheinlich sollte das ein Witz gewesen sein, und ich nickte lächelnd. Im Prinzip war die Folie nichts als eine Weiterentwicklung der herkömmlichen Solarzelle, die Licht in elektrischen Strom umwandelte. Im Prinzip. Genauso hätte man sagen können, der Megabytechip sei im Prinzip eine Weiterentwicklung der Elektronenröhre.
»Waren Sie dabei beim Bau der Station, Mister Carr?« wollte Kim wissen. Ich verneinte.
»Ah!« machte er bedauernd. »Ich war. Großartige Arbeit. Großer Ring wurde ringsumher gespannt, aus lauter kleinen Plastikteilen. Dann man spannte ein Kabel, das mittendurch ging durch alle diese Plastikteile, und – zack, Ring war stabil. Wie indischer Seiltrick, nicht wahr? Dann wir verspannten Ring mit der Station, mit vielen Drähten. Leichtbauweise Und zogen Folie auf. Mit Hilfe der Roboter. Es war sehr großartig, dabeizusein, zu erleben. Eines Tages, Mister Carr, man wird riesige Gebäude bauen in der Erdumlaufbahn – denken Sie an meine Worte!«
Ich verstand nicht alles, was er sagte, aber ich hatte Berichte über den Bau studiert. Man hatte eine Fülle interessanter Technologien für den raschen Bau großer Gebäude unter Schwerelosigkeit erprobt, und tatsächlich hatte man nur fünf Shuttleflüge gebraucht, um die Solarfläche zu realisieren.
»Na, unsere Station ist doch schon ziemlich riesig«, warf ich ein.
»Bah!« machte er mit einer wegwerfenden Geste. »Nichts ist sie, wenn man vergleicht mit dem, was möglich ist. Wir haben zu niedrige Umlaufbahn für größere Bauten. Zuviel Widerstand durch restliche Luftmoleküle. Brauchen regelmäßig Raketen für Bahnkorrektur. Größere Gebäude brauchen höhere Umlaufbahnen, weiter weg von der Erde. Und wir müssen bauen aus Metall, nicht aus Kunststoffen.«
»Metall?« Irgendwie war mir klar, daß ein Metallurg so etwas sagen mußte.
Kim sah sich argwöhnisch nach allen Seiten um, als planten wir gerade eine Verschwörung oder dergleichen und hätten Lauscher zu fürchten, dann winkte er mich her. »Ich Ihnen zeige etwas, Mister Carr, ein Geheimnis. Sie bewahren es in Ihrer Brust?«
Er machte mich neugierig, und ich nickte. »Ich schweige wie ein Grab«, versprach ich, während ich mich zu ihm an seinen Arbeitstisch hangelte.
»Gut.«
Er öffnete eine Klappe und zog einen länglichen Gegenstand heraus, ungefähr einen Meter lang, eingewickelt in ein weißes Tuch und mit drei grünen Kordeln verschnürt. Kim löste die Kordeln und schlug das Tuch dann feierlich zurück. Verblüfft starrte ich auf das, was sich meinen Blicken darbot. Ich hatte mir nicht überlegt, was Kim mir wohl zu zeigen hatte, aber ganz bestimmt hatte ich nicht das erwartet, was sich jetzt meinen Blicken darbot. Nicht so etwas… archaisches.
Es war ein Schwert.
»Das«, erklärte Kim mit weicher, fast liebevoller Stimme, während er zärtlich über die glänzende Klinge fuhr, »ist ein Schwert, wie es noch nicht gesehen hat die Welt. Seine Klinge besteht aus monokristallinem Metall. Jedes der alten Samuraischwerter könnte man damit in Stücke hauen. Man könnte Damaszenerklingen zerschneiden wie Butter. Es ist schade, daß keine Ritter mehr leben: das wäre das beste Schwert aller Zeiten – geschmiedet im Weltraum.«
Ich starrte das Schwert an, dann starrte ich ihn an. »Wozu haben Sie das hergestellt?«
Kim zuckte die Schultern. »Für meine Habilitationsarbeit. Für den Vortrag vor der Akademie von Tokio.« Er fing wieder an, es behutsam einzupacken. »Und weil ich es wollte.«
»Ohne Schwerkraft«, fuhr er fort, als wolle er seinen Vortrag an mir erproben, »werden die Kristallgitter von Metallen beim Abkühlen aus der Schmelze viel größer und viel regelmäßiger. Die Festigkeit herkömmlicher Metalle wird bestimmt von der Festigkeit zwischen den einzelnen Metallkristallen. Innerhalb des Kristallgitters ist die Festigkeit viel, viel größer. Wenn ein Metall versagt, reißt es entlang der Trennlinie zwischen den einzelnen Kristallen. Wenn es eine solche Trennlinie nicht gibt, weil das gesamte Metall ein einziger Kristall ist, nun…«
Fasziniert beobachtete ich den kleinen Wissenschaftler, dessen Blick mit einem Mal ins Unendliche zu gehen schien, durch die Wände des Labors hindurch, der mich vergessen hatte und Dinge sah, die mir verschlossen bleiben mußten. »Eines Tages«, prophezeite er bedächtig, »wird es Bergwerke auf dem Mond geben. Man wird Metallerze finden und fördern, und man wird das rohe Erz mit gewaltigen elektrischen Katapulten in den Weltraum schleudern, aus dem schwachen Schwerefeld des Mondes heraus. Das Erz wird in der Umlaufbahn eingefangen und zu Metallen von unvorstellbarer Qualität verarbeitet werden. Wir müssen es nur tun. Das Rohmaterial ist da. Die Energie ist da. Unermeßlich viel Energie. So viel Energie gibt es im Weltraum, daß man sich schützen muß davor…«
Ein widerlicher elektronischer Summton, mit dem der Analysator den Abschluß seiner Arbeit anzeigte, unterbrach Kims Vision. Seufzend verstaute der Metallurg sein Tuchbündel wieder in der Lade und schnallte sich los.
»Interessanter Stoff«, meinte er dann, nachdem er das Ergebnis der Analyse – eine dichte Reihe verschieden hoher und verschieden gefärbter Linien auf einem Bildschirm – eine Weile studiert hatte. »Besteht aus Hunderten verschiedener Substanzen. Viel Kohlenstoff. Schwefel. Wasser. Spuren fast aller Metalle, die es gibt. Silizium. Benzyprene. Natrium.«
»Könnte es Hautöl sein?«
Kim lächelte sein glattes asiatisches Lächeln. »Ich weiß es nicht. Ich denke, es wäre kein besonders gesundes Hautöl, aber ich bin Metallurg, Mister Carr, kein Pharmazeut.«
Enttäuschend. Ich hatte eine Analyse, aber keine Ahnung, was es war.
»Wenn ich Ihnen einen Tropfen Hautöl bringe – können Sie ihn dann analysieren und mit dieser Analyse vergleichen?«
»Ja, sicher«, nickte Kim bereitwillig. »Das würde sicher funktionieren. Wenn die gleiche Verteilung der Linien entsteht, ist es der gleiche Stoff. Entsteht eine andere – ist er es nicht.«
Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit, an die Zubereitung des Abendessens für die Crew zu denken. »Ich bringe Ihnen morgen eine Probe des fraglichen Öls.« Morgen früh würde ich mir den Generalschlüssel holen und aus Sakais Kabine einen Tropfen seines Hautöls beschaffen.
»Das ist in Ordnung.«
»Können wir die Sache einstweilen für uns behalten?«
Kim neigte den Kopf. »Teilen wir zwei Geheimnisse.«
»Okay«, nickte ich. »Vielen Dank.«