Vierhundert Kilometer über der Erdoberfläche, hoch über irgendeinem Punkt des Globus, der gerade den Sonnenaufgang erlebte, schwebte eine riesige, mattsilbern glänzende Scheibe, deren Mittelpunkt eine vergleichsweise kleine Konstruktion aus einem Dutzend weißlackierter und mit Aufschriften in Japanisch und Englisch versehener Zylinder bildete. An einem dünnen Auslegerarm, der für Augen, die nur irdische Verhältnisse gewöhnt waren, geradezu lächerlich zerbrechlich wirken mußte, hing eine mannshohe japanische Flagge, die ja passenderweise den roten Ball der aufgehenden Sonne auf weißem Grund zeigt. Sie wurde von einem dünnen Glasfiberstab in Form gehalten, denn hier oben in der Erdumlaufbahn gab es keinen Wind, in dem sie hätte flattern können. Vor der Spitze des senkrecht zu der großen Scheibe stehenden Zylinders schwebte ein dunkler, seltsam roh und unfertig wirkender Zylinder, der unmerklich näher und näher glitt und dabei mit seinem dreiflügligen, wie ein obszöner Saugmund aussehenden Kopplungsmechanismus auf das entsprechende Gegenstück an der Station zielte. Ein außenstehender Beobachter hätte den Eindruck gehabt, eine schwarze Qualle zu sehen, die über einen weißen Seestern herfiel, um ihn auszusaugen.
Aber es gab keinen außenstehenden Beobachter dieser Szene. Niemand auf dem sich in unglaublicher blau-weißer Pracht unter uns wölbenden Erdball ahnte etwas von dem, was hier vorging.
»Das ist Piraterie«, stellte Moriyama erbittert fest. »Piraterie im Weltraum.«
»In letzter Zeit greift es wirklich um sich«, murmelte ich geistesabwesend vor mich hin. Kurz vor meinem Dienstantritt auf der Raumstation hatte ich eine Statistik gelesen, wonach sich in den ersten fünf Jahren dieses einundzwanzigsten Jahrhunderts bereits mehr Fälle von Piraterie ereignet hatten als in den gesamten vorangegangenen hundert Jahren. Allerdings vorwiegend im Südchinesischen Meer, in der Karibik und entlang der Seerouten durch die pazifische Inselwelt.
Ich starrte unzufrieden auf den Bildschirm. Da war irgend etwas, das ich übersehen hatte. Etwas Wichtiges. Ich spürte einen blinden Fleck in meinem Kopf, den meine Gedanken unaufhörlich umkreisten wie die Zunge ein Loch im Zahn. »Yoshiko, geben die ESA-Leute irgendwelche Erklärungen über Funk durch?« fragte der Kommandant.
Yoshiko glitt zum Kommunikationspult und streifte den Kopfhörer über. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.«
Moriyama schnaubte wütend. »Jetzt wünsche ich mir ein Bordgeschütz. Hat jemand eine Idee, wie wir verhindern können, daß die einfach andocken?«
Im Weltraum waren Türschlösser und Hausschlüssel noch völlig unüblich. Vielleicht, schoß es mir für einen Moment durch den Kopf, würde sich das in Zukunft ändern. Einstweilen war es noch so, daß jeder, der sich einem Raumfahrzeug näherte, es auch betreten konnte. Das entsprach internationalen, seit Jahrzehnten gültigen Vereinbarungen über gegenseitige Hilfeleistungen in Fällen von Weltraumhavarie. Jede Schleuse war von außen bedienbar, und jedes Raumfahrzeug, das über die Standard-Kopplung verfügte, konnte an jedes andere andocken, und Raumfahrer konnten in das andere Fahrzeug überwechseln, ohne daß dazu die Erlaubnis oder Mitwirkung der Insassen dieses Fahrzeugs erforderlich war: denn diese Insassen mochten ja tot oder bewußtlos sein und Hilfe nötig haben.
»Die Manipulatorarme!« fiel mir ein. »Wenn wir die kreuzförmig vor die Schleuse legen, können sie nicht ankoppeln. Und wenn sie nicht ankoppeln können, können sie auch nicht an Bord. Vielleicht bequemt sich die ESA dann zu einer erklärenden Stellungnahme, was hier gespielt wird.«
Der düstere, ungeschlachte Zylinder kam immer näher. Es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen.
»Erinnern Sie mich daran, daß ich Sie für eine Gehaltserhöhung vorschlage«, meinte Moriyama grimmig. »Los, worauf warten wir?«
Wir hangelten uns hastig zum Schott, durchquerten den Knotentunnel und erreichten die kleine, der Brücke genau gegenüberliegende Ausbuchtung, von der aus die Greifarme gesteuert wurden. Ich griff nach den Steuerhebeln und setzte die langen Roboterarme in Bewegung, die normalerweise dazu benutzt wurden, um das Ladeluk eines angekoppelten Spaceshuttles leerzuräumen. Die Arme waren lang genug, um in den hintersten Winkel des Nutzlastraums greifen zu können, stark genug, um schwere Pakete greifen und bewegen zu können, und beweglich genug, um diese Pakete in der Lastenschleuse abzusetzen, die sich schräg unterhalb von uns an der Stirnseite des Mikrogravitationslabors befand. Als wir die Sichtluken öffneten, war das fremde Raumfahrzeug schon bedrohlich groß und nah über uns.
»Wenn die nicht abbremsen, schlagen sie sie uns kaputt«, meinte ich, während ich die Arme ausklappen ließ und dann kreuzförmig über unserem Kopplungsadapter verschränkte. »Andererseits ruinieren sie damit wahrscheinlich auch ihre eigene Kopplung.«
Sie bremsten. Wir sahen die Steuertriebwerke des Angreifers für ein paar Sekunden aufflammen, dann war die Bewegung gestoppt, und das unförmige Gebilde aus dunklem Stahl verharrte unschlüssig in etwa zehn Metern Entfernung. Moriyama und ich nickten uns triumphierend zu. Da mochten sie jetzt hängen, bis sie verfaulten.
»Ich frage mich, wie sie das wagen können«, wunderte sich Moriyama, während er das Raumfahrzeug beobachtete. »Wenn unsere Sender nicht kaputt wären, würden wir doch schon längst SOS senden, und alle Welt wüßte, was hier geschieht. Die internationalen Verwicklungen, die das zur Folge hätte, wage ich mir nicht vorzustellen…«
»Vielleicht wissen sie es.«
»Was?«
»Daß unsere Sender kaputt sind.«
Moriyama sah mich verwundert an. »Woher sollten sie das wissen?«
Die Dominosteine in meinem Hirn fingen gerade an, zu fallen, klick-klick-klick, einer stieß den nächsten um, und immer so weiter. Plötzlich paßten Puzzlesteine zusammen. »Mein Gott«, stieß ich hervor, von der grauenvollen Einsicht überwältigt. »Erinnern Sie sich noch, was Sie über Iwabuchi gesagt haben? Daß er längst einen neuen Sender gebaut hätte, aus zwei Gabeln und ein bißchen Draht? Wir dachten die ganze Zeit, der Mörder hätte die Sender zerstört, damit wir den Mord an Iwabuchi nicht melden konnten. Aber es ist genau andersherum. Tatsächlich ging es um die Sender. Es ging ihm darum, unsere Sender zu zerstören, damit dieser Überfall unbemerkt stattfinden konnte. Er ermordete Iwabuchi, weil er – wahrscheinlich zu Recht – befürchten mußte, daß dieser die Sender zu schnell reparieren würde.«
Moriyama starrte mich an, und in seinem Gesicht mischten sich Abscheu und blankes Entsetzen. Mein Gesicht sah wahrscheinlich nicht viel anders aus, während die Dominosteine weiterfielen, klick-klick-klick, einer nach dem anderen. Der Geruch auf der Brücke fiel mir ein, der Geruch des Plastikthermits. Der Pflaumenwein. Das Haaröl. »Wo ist eigentlich Sakai?« fragte ich ahnungsvoll.
Die Stimme kam überraschend. »Hier, Mister Carr.«
Wir zuckten zusammen und fuhren herum. Sakai schwebte an der gegenüberliegenden Wand des Tunnels, neben dem Schott zur Brücke. Mit der einen Hand hielt er sich an einem Griff fest, und das, was er in der anderen Hand hielt, war zweifelsfrei und auf den ersten Blick erkennbar ein Revolver.
Und er hielt ihn auf uns gerichtet.
»Sakai?!« entfuhr es Moriyama.
Sakai wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr so gleichmütig und begriffsstutzig wie sonst. »Ich habe keine Lust und keine Zeit für lange Erklärungen. Carr, nehmen Sie die Manipulatorarme von der Schleuse!«
Ich rührte mich nicht. »Sakai, ist Ihnen klar, daß Sie sich selber gefährden, wenn Sie hier an Bord mit einer Schußwaffe herumfuchteln? Ein einziger Schuß, der danebengeht und die Wandung durchschlägt, kann eine Katastrophe auslösen.«
»Halten Sie mich nicht für naiv, Mister Carr«, erwiderte Sakai kalt. Er hob die Waffe leicht, so daß wir den unterarmlangen Schalldämpfer bewundern konnten, der auf der Mündung aufgeschraubt war. »Wir haben uns gut vorbereitet. Dieser Schalldämpfer verringert die Geschwindigkeit der Kugeln auf ein zwar immer noch tödliches, aber ansonsten ungefährliches Maß. Sollte eine dieser Kugeln die Modulwandung durchschlagen, verursacht das keinen größeren Schaden als ein Mikrometeorit. Sie wissen ja, die zweischalige Bauweise: ein wenig Luft entweicht, dann verbinden sich die beiden pastösen Kunststoffe in den beiden getrennten Wandschalen zu einem stabilen, luftdichten Pfropf.«
Er richtete die Waffe wieder auf meinen Bauch. »Und jetzt nehmen Sie die Greifarme zurück. Glauben Sie mir, ich habe keine Hemmungen, Sie zu erschießen und es selber zu tun.«
Ich starrte ihn nur an. Wenn Blicke töten könnten, wäre er mausetot umgefallen.
»Oh, ein Held. Soll ich mir überlegen, Ihre hübsche Freundin zu verunstalten?«
»Tun Sie, was er sagt, Leonard«, befahl Moriyama halblaut. Widerstrebend griff ich nach der Steuerung der Manipulatorarme und führte sie zurück in ihre normale Grundstellung. Das fremde Raumfahrzeug setzte sich sofort wieder in Bewegung.
»Was soll das alles, Sakai?« fragte ich aufgebracht. »Wer ist dort in diesem Raumschiff?«
»Warten Sie’s ab, Mister Carr«, empfahl er mir gleichgültig. »In wenigen Augenblicken erfahren Sie es ja sowieso.«
Wir warteten. Augenblicke dehnten sich zu unerträglichen Ewigkeiten. Aus den Augenwinkeln sah ich den schwarzglänzenden Koloß näher und näher kommen, größer und größer werden…
Dann ging ein donnernder Schlag durch die ganze Raumstation, der jede Wand und jede Verstrebung erzittern ließ.
Für einen Moment dröhnte es in unseren Ohren, als befänden wir uns im Inneren einer riesigen Glocke, die sich im Glockengestühl verirrt und eine andere Glocke gerammt hatte. Dann ließ das Zittern der Wände nach, doch das Zittern in unserem Inneren blieb. Der Geruch der Gefahr hatte nicht getrogen. Die Staubwolke am Horizont bedeckte nun den ganzen Himmel.
Schabende Geräusche von der Stirnschleuse her waren zu hören.
Das Piratenschiff hatte angekoppelt.