Wir hatten etwa anderthalb Stunden den rätselhaften Geräuschen gelauscht, die von draußen zu hören gewesen waren. Es hatte nach Arbeit geklungen, so, als bauten die Piraten irgendwelche Maschinen aus; man hatte Stimmen gehört, aber nicht verstanden, was sie sagten, und so sehr wir uns auch die Köpfe zerbrachen, wir kamen nicht dahinter, was das alles zu bedeuten haben mochte.
Dann endlich öffnete sich das Schott, und diesmal waren sie alle draußen, alle vier, und alle trugen sie ihre Revolver schußbereit. Es war fast zuviel der Ehre für uns.
»An Bord dieser Raumstation«, begann Khalid drohend, »gibt es zuviel Spielsachen, von denen ich nichts weiß. Deshalb werden Sie jetzt die Unterkunft wechseln. Kommen Sie, meine Herren…«
Wir blickten in vier Revolverläufe, und das waren vier unwiderlegbare Argumente, seinen Anweisungen zu folgen. Also hangelten wir uns langsam, um keinen der zweifellos nervösen Zeigefinger zu provozieren, durch das Schott in den Knotentunnel hinaus.
»Und jetzt bitte hier hinein«, befahl Khalid und deutete auf die offenstehende Hauptschleuse.
»Was soll das?« empörte sich Moriyama. »Sie wollen uns an Bord Ihres Raumschiffes verfrachten?«
»Regen Sie sich nicht so auf, Kommandant, es könnte Ihrem Herzen schaden«, höhnte Khalid. »Mein Raumschiff ist der einzige Ort, von dem ich genau weiß, was Sie dort anstellen können. Nämlich nichts.«
»Der Teufel soll Sie holen, Khalid«, zischte Moriyama. Dann sah er den begierigen Blick, den Ralf seinem Anführer zuwarf, und dessen beunruhigend zuckenden Zeigefinger am Abzug seiner Waffe, und er beeilte sich, die Schleuse zu erreichen. Ich folgte ihm. Ein kalter Hauch kam uns entgegen, während wir zuerst die Kopfschleuse unserer Raumstation und dann die Koppelschleuse der Raumkapsel passierten. Die Raumkapsel lag, seit sie angekoppelt hatte, im Schatten der dritten ARIANE-Stufe, und sie war seither ausgekühlt und sicher alles andere als gemütlich.
Kim und Yoshiko waren bereits an Bord und hatten sich fröstelnd zusammengerollt. Mich fröstelte auch, aber ich war mir nicht sicher, ob allein die Kälte daran schuld war und nicht vielmehr der Anblick, der sich mir bot.
Die Raumkapsel, in der sich Khalid und seine Spießgesellen in den Weltraum hatten schießen lassen, war mit Sicherheit das abenteuerlichste Raumgefährt, das jemals die Schwerkraft der Erde hinter sich gelassen hatte. Es handelte sich praktisch um einen schlichten Stahlzylinder, der einigermaßen luftdicht gemacht und mit einer eigenen Luftversorgung ausgestattet worden war, bevor man ihn auf die Spitze einer Rakete montiert hatte. Es gab vier altmodische Andrucksessel, die einfach an stählernen Stützbalken festgeschweißt worden waren, und vor einem der Sessel war eine Stelle an der Wand, an der jetzt nur noch ein paar leere Kabelschächte endeten, an der aber sicher einmal so etwas wie ein Steuerpult montiert gewesen sein mußte. Die Beleuchtung war miserabel, alles war dunkel und roch muffig, und daß es dunkel war, war vielleicht ganz gut, denn dann sah man die Schweißnähte nicht so genau. Ein wenig zusätzliches Licht drang durch vier winzige, nicht einmal handtellergroße Sichtluken in den Außenwänden herein, die zudem von innen beschlagen waren.
»Meine Güte«, war Jayakars Kommentar, als er den Kopf durch den schmalen Schleusenschacht hereinstreckte. »Mut haben sie gehabt, das muß man ihnen lassen.«
Ich versuchte, einen Blick von Yoshiko zu erhaschen, aber sie starrte nur wie betäubt vor sich hin. War das nicht verrückt? Neben allem, was uns gerade widerfuhr, machte es mir trotzdem zu schaffen, daß sie mich, wie immer, außerhalb unserer Schäferstündchen weitgehend ignorierte.
Tanaka war der letzte, der an Bord kam. Sven folgte ihm, groß, dumpf und schweigsam wie immer, und schloß die innere Schleusenluke von außen. Durch einen schmalen Sehschlitz konnten wir verfolgten, wie er sich im Inneren des Tunnels zu schaffen machte. Dann, ehe wir erkennen konnten, was das zu bedeuten hatte, krabbelte er zurück und schloß die Luke der Hauptschleuse. Das Licht im Schleusenraum erlosch. Jayakar drehte probehalber an dem Verschlußrad der Luke. Es ließ sich problemlos drehen. »Was hindert uns daran, diesen ungastlichen Ort einfach wieder zu verlassen?«
»Wie ich Khalid einschätze«, meinte ich, »gibt es bestimmt irgend etwas, das uns daran hindern wird. Oder irgend jemanden.«
»Sie meinen, Ralf bewacht die Schleuse?«
»Das, oder sie haben einen Verschlußmechanismus an der Kopfschleuse eingebaut.«
»Das haben sie nicht«, meldete sich Tanaka. »Ich habe danach Ausschau gehalten, aber nichts gesehen.«
»Also hält Ralf Wache und hofft, daß einer von uns den Kopf herausstreckt«, schlußfolgerte ich. »Da wir die beiden Schleusen nur nacheinander passieren könnten, können wir ihn auch nicht überrennen.«
»Angenommen, sie verlassen sich nur auf die Alarmanlage?« überlegte Jayakar. »Dann könnten wir, wenn wir schnell genug sind…«
In diesem Augenblick erklang ein rumpelndes Geräusch, tief und beunruhigend, das die gesamte Zelle der Raumkapsel erzittern ließ. Wir stürzten wieder an den Sehschlitz.
Ein schmaler, ringförmiger Spalt war draußen zu sehen, der rasch breiter wurde und durch den blendend helles Licht in die beiden Schleusen drang. Die beiden Schleusen, die durch diesen Spalt voneinander getrennt wurden.
»Das ist genial«, hauchte Jayakar kopfschüttelnd. »Sie koppeln uns ab!«
»Was?! Sind die wahnsinnig?« rief Moriyama entsetzt.
»Sie koppeln uns ab. Das ist das perfekte Gefängnis.«
Die Piraten hatten einfach den Verschluß des Kopplungsmechanismus gelöst, und der Luftdruck in dem durch die beiden Schleusenräume gebildeten Verbindungsgang hatte ausgereicht, um die Raumkapsel von der Station wegzudrücken. Für einen Moment war die entweichende Luft wie ein feiner Nebel im Weltraum zu sehen, dann war sie verweht.
Moriyama drängte sich neben Jayakar an den Sehschlitz. »Was für eine Art Gefängnis soll das sein? Eine Todeszelle? Wir treiben ab, und wir werden unaufhaltsam immer weiter abtreiben. Er hätte uns auch gleich alle umbringen können.«
»Wahrscheinlich wissen die überhaupt nicht, was sie da tun«, mutmaßte Tanaka düster. »Man braucht sich nur diese Kapsel hier anzuschauen, um zu ahnen, wie wenig Khalid und seine Leute von der Raumfahrt verstehen.«
»Da ist ein Haltetau«, warf ich ein. In dem intensiven Licht, das die Solarfläche reflektierte, war es kaum zu erkennen: ein dünnes, sich noch spielerisch in der Schwerelosigkeit windendes Drahtseil, das zwischen der Kopfschleuse und irgendeinem Befestigungspunkt an der Stirnseite unserer Schleuse gespannt war. Es würde verhindern, daß wir weiter als ein paar Meter abtrieben.
Diese paar Meter reichten schon, um uns sicherer einzusperren, als jemals Menschen auf der Erde in den bestbewachten Gefängnissen eingesperrt gewesen waren. Denn zwischen uns und der Station herrschte Vakuum, eine nahezu vollkommene Luftleere, und ohne Raumanzüge waren diese paar Meter ein unüberwindbarer Abgrund, eine unüberbrückbare Distanz.
»Tja«, machte Jayakar mit gespielter, übertriebener Fröhlichkeit. »Damit sind wir alle raus aus dem Spiel. Khalid hat uns, wie man so schön sagt, kaltgestellt. Dabei fällt mir ein – könnte mal bitte jemand die Heizung etwas höher drehen?« Er rieb sich frierend die Schultern.
»Wir sollten lieber überlegen, was wir jetzt tun«, meinte Tanaka.
Jayakar lachte auf. »Begreifen Sie denn nicht? Wir können genau gar nichts tun! Was immer Khalid jetzt mit unserer Raumstation anstellt, wir haben genauso wenig Einfluß darauf, als wenn wir auf dem Mond säßen!«
»Sie geben also auf?« fragte Tanaka verärgert.
»Ich gebe nicht auf«, verwahrte sich Jayakar. »Ich erkenne nur die Gegebenheiten – wozu Sie offenbar nicht imstande sind.«
Ein leichter Ruck, kaum spürbar, ging durch die Kapsel: das Drahtseil, das nun vollends straff gespannt war und unsere minimale Bewegung abgebremst hatte.
»Es bringt keinen Nutzen, sich zu streiten in unserer Lage«, ließ sich Kim vernehmen. »Wir können uns die Köpfe zerbrechen über aussichtslose Pläne oder aber geduldig abwarten, was das Schicksal für uns bereithält.«
Moriyama warf dem Materialwissenschaftler einen überraschten Blick zu und erklärte dann: »Ich wollte auch gerade vorschlagen, daß wir jetzt keine weiteren Gedanken mehr an irgendwelche Pläne verschwenden, die Verbrecher zu überwältigen. Wir haben gerade so ein Vorhaben hinter uns, und wir sehen ja, was es uns gebracht hat.«
»Ich denke auch, daß wir jetzt genug mit dem bloßen Überleben zu tun haben werden«, warf Yoshiko ein, mit einem aggressiven, bitteren Klang in ihrer Stimme. »Wir haben nur sehr wenig Wasser und einige Trockennahrungsmittel an Bord, und wir haben keine Toilette, nur eine Handvoll Assanierungsbeutel. Wenn unsere Gefangenschaft lang dauert, kann das in eine ziemlich unangenehme Situation ausarten. Ferner steht die Anzeige des Sauerstoffvorrats auf vierzig Prozent, was immer das heißen mag. Und es ist immer noch verdammt kalt.«
»Wir sind sechs Personen, das heißt, sechs Heizkörper mit einer Temperatur von siebenunddreißig Grad«, warf Jayakar ein. »Und es ist ziemlich eng hier. Wahrscheinlich wird es bald eher zu warm sein.«
Yoshiko sah ihn mit zornfunkelnden Augen an. »Wir wären sieben Heizkörper, wenn gewisse Männer darauf verzichtet hätten, sich heldenhafte Pläne auszudenken und sie von einer Frau durchführen zu lassen!« Jayakar öffnete den Mund zu einer Erwiderung, dann fiel ihm ein, daß es ja tatsächlich sein Plan gewesen war, und er klappte den Mund wieder zu.
Ich sah mich um. Es gab tatsächlich keine Spur mehr von den Steuerungen; alles war mitsamt den Kabeln herausgerissen worden. Sicher waren die Manövriertanks der Raketenstufe noch gut gefüllt, aber wir hatten keine Möglichkeit, irgendeine der Steuerdüsen zu zünden.
Dann studierte ich die Luftversorgungsanlage. Sie war denkbar primitiv gebaut, ohne das übliche Kreislaufverfahren, mit dem die Atemluft an Bord der Raumstation aufbereitet wurde. Es gab Sauerstofftanks und ein Druckreduzierventil, einen reichlich schwachbrüstigen Ventilator und eine beängstigend klein dimensionierte Absorbereinrichtung, die dazu diente, das Kohlendioxid und andere unerwünschte Substanzen aus der Luft auszuscheiden. Wir würden Probleme mit dem Kohlendioxid bekommen, lange bevor unser Sauerstoff zur Neige ging.
Mein Blick glitt durch den engen, zylindrischen Innenraum, in dem wir uns nun drängelten wie in einem Vorstadtbus. Alles wirkte roh und dunkel, rasch und schlampig zusammengebaut, und bildete so einen krassen Gegensatz zu der in der Raumfahrt sonst üblichen Hochtechnologie. Die trübe Beleuchtung, die schief angeschweißten Traversen, die altmodisch wirkenden Andrucksitze, die aus einem ausgeschlachteten Verkehrsflugzeug zu stammen schienen…
Moment mal. Die Sitze?
»Wieso sind es eigentlich vier Sitze?« fragte ich mich laut.
Alle Blicke richteten sich auf mich, dann auf die Sitze, als müsse jeder noch einmal nachzählen.
»Stimmt«, sagte Tanaka. »Es sind vier Sitze.«
Ich nickte. »Aber es sind nur drei Leute damit gekommen – Ralf, Sven und Khalid!«
Noch während alle darüber nachgrübelten, ob das etwas zu sagen haben mochte und wenn ja, was, machte ich mich auf die Suche. Ich hätte nicht recht sagen können, was ich eigentlich suchte; es war eher ein Gefühl, das mich in diesem Moment antrieb. Und was es zu finden gab, war nicht schwer zu finden: die hinteren beiden Andrucksitze bildeten einen schwer zugänglichen, besonders dunklen Winkel, der von der Einstiegsluke aus nicht zu sehen war, und dort hing in einem elastischen Haltenetz ein großer, in einen Plastiksack gehüllter Gegenstand.
Ich hatte so einen ähnlichen Plastiksack vor noch nicht allzu langer Zeit selber benutzt, deshalb überraschte es mich nicht besonders, daß daraus, als ich ihn hervorgezerrt und geöffnet hatte, der Kopf eines Leichnams zum Vorschein kam. Es war der Leichnam eines älteren Mannes, nicht jünger als sechzig Jahre, und er hatte offenbar den Raketenstart nicht überlebt. Was auch kein Wunder war, wenn man an die schubstarken, nicht für den Transport von Passagieren ausgelegten Triebwerke der europäischen Trägerrakete dachte: der Andruck beim Start mußte sehr viel stärker und brutaler gewesen sein, als dies bei einem Shuttlestart der Fall war.
Was mich verblüffte, war, daß mir das Gesicht des Toten bekannt vorkam. Und nicht nur mir.
»Wie kommt denn der hierher?« hörte ich Jayakar stöhnen. »Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr…«
Moriyama murmelte irgendwelche urjapanischen Beschwörungen. Ich sah ihn hilfesuchend an. »Wissen Sie etwa, wer das ist?«
»Natürlich, Sie nicht?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich kenne ihn, aber ich weiß nicht, woher…«
Der Kommandant blickte düster drein. »Denken Sie an Ihre Ausbildung. Und denken Sie an das Telegramm, das ich Ihnen gezeigt habe…«
Ich starrte auf das wächserne, von schlohweißem Haar gekrönte Antlitz des Toten hinab, und plötzlich wußte ich wieder, wo ich diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Es war im großen Hörsaal der Universität von Tokio gewesen. Ich hatte in der drittletzten Reihe gesessen, und dieser Mann hatte vorn am Rednerpult gestanden, von riesigen Solaranlagen im Weltraum gesprochen und von globalen Konzepten der Energienutzung, hatte die physikalischen Grundlagen der Energieübertragung erläutert und uns vorgerechnet, wie unerschöpflich die Energie der Sonne war. Der Tote vor mir war Professor Yamamoto.