KAPITEL 12

Der Gang war viel zu eng für uns alle. Trotzdem drängelten wir uns vor Iwabuchis Kabine, und jeder wollte einen entsetzten Blick auf den Leichnam werfen. Blasse Gesichter sahen sich fassungslos gegenseitig an und versuchten zu begreifen, daß das alles Realität und Iwabuchi tatsächlich tot war.

»Oba-san«, wandte Moriyama, der wie benommen wirkte, sich an die Ärztin, »was glauben Sie, wie lange er schon tot ist?«

Oba kam zögernd näher. »Ich bin keine Kriminalistin«, sagte sie leise, während sie die Haut des Toten befühlte. Sie öffnete ihm den Mund und steckte prüfend zwei Finger in die Mundhöhle. »Aber Sie fragen mich, Kommandant. Ich sage, mindestens zwei Stunden, eher drei.«

»Sind Sie sicher?«

» Iie. Um die Todeszeit genauer festzustellen, muß ich eingehendere Untersuchungen anstellen.«

Der Kommandant sah sich in unseren verstörten Gesichtern um und wandte sich dann an Jayakar:

»Mister Jayakar, sagten Sie nicht vorhin, Sie hätten Iwabuchi auch in seiner Kabine gesucht?«

Jay nickte bedrückt. »Ja.«

»Und Sie haben ihn nicht gesehen?«

»Es war ziemlich dunkel…« Jay hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Ich habe nicht sehr genau hingeschaut. Ich habe nur die Tür einen Spalt weit geöffnet, sah den leeren Schlafsack und machte sie wieder zu…«

»Aber der Schlafsack war nicht leer. Nach dem, was Oba sagt, muß Iwabuchi zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen sein.«

»Ich habe ihn nicht gesehen, tut mir leid«, begehrte Jay auf. »Die Möglichkeit, daß er tot sein könnte, ist mir nicht in den Sinn gekommen.«

» Sumimasen, Kommandant«, mischte ich mich ein, »ich denke, Mister Jayakar hat den Leichnam tatsächlich nicht gesehen. Ich habe ihn, als ich die Tür öffnete, im ersten Augenblick auch nicht gesehen.«

»Aber wie kann das sein? Ein toter Mann, und noch dazu ein so großer wie Iwabuchi…«

»Die Wucht der Geschosse hat ihn sich zusammenkrümmen lassen, so daß sein Kopf ins Innere des Schlafsacks rutschte. Durch die Einschußlöcher entwich außerdem die Luft aus den aufblasbaren Kammern des Schlafsacks. Im Halbdunkel und auf einen flüchtigen, arglosen Blick hin wirkte die Kabine deshalb leer und verlassen.«

»Sie aber haben ihn gesehen, Mister Carr«, stellte Tanaka mißtrauisch fest.

»Mein Blick war nicht arglos.«

Tanaka hob überrascht die Augenbrauen. Er schien sich zu überlegen, was er daraufhin sagen sollte, zog es dann aber vor zu schweigen.

»Die Schüsse«, überlegte Jay und sah die übrigen Bewohner dieses Wohntraktes an, Moriyama, Tanaka, Sakai und Oba. »Hat keiner von Ihnen die Schüsse gehört?«

Alle vier verneinten. »Nein«, sagte auch Moriyama düster, »und ich frage mich, ob das mit rechten Dingen zugeht. Hätten wir die Schüsse nicht hören müssen? Drei Schüsse! Und ich habe unmittelbar daneben geschlafen – kann das sein?«

»Ich denke schon«, meinte ich. »Der Mörder hat mit Sicherheit einen Revolver mit Schalldämpfer benutzt, und er hat den Lauf der Waffe direkt auf den Schlafsack aufgesetzt, der zu diesem Zeitpunkt ja noch aufgeblasen war und das Schußgeräusch so zusätzlich dämpfte. Ich bin überzeugt, daß die Schüsse in den umliegenden Kabinen nicht lauter waren als das Geräusch eines zuschnappenden Schrankfachs.«

Ein Augenblick qualvollen Schweigens trat ein. Niemand schien es zu wagen, tiefer als nötig einzuatmen. Angst war spürbar wie eine elektrische Ladung – Angst und blankes Entsetzen.

»Der Mörder…«, wiederholte Jay schließlich langsam und ahnungsvoll. »Ich muß sagen, daß ich selten mein britisches Erbe so gespürt habe wie im Moment. Unsere Situation könnte aus einem Roman von Agatha Christie stammen – ein Mord ist geschehen, und man weiß genau, einer der Anwesenden muß ihn verübt haben. Aber wer?«

Ich sah, wie Oba erschrocken die Hand vor ihren Mund schlug, als sei ihr dieser Gedanke bis jetzt noch gar nicht gekommen.

»Richtig«, nickte Moriyama düster und sah uns der Reihe nach an, als könne er den Täter auf diese Weise entlarven. »Wie immer man dazu stehen mag, heute nacht ist Geschichte geschrieben worden. Der erste Mord im Weltraum wurde verübt. Ein Mensch wurde vorsätzlich und heimtückisch getötet, und der einzige, von dem ich mit Sicherheit weiß, daß er es nicht getan hat, bin ich selber.«

Iwabuchis tote, reglose Augen starrten anklagend auf den Gang heraus. Moriyama betrachtete den ermordeten Ingenieur mit grimmigem Gesichtsausdruck und schloß dann die Tür zu seiner Kabine.

»Wir werden«, fuhr er fort, »jetzt alle zusammen hinüber auf die Brücke gehen und die Bodenstation um Instruktionen bitten. Und bis auf weiteres betritt niemand diesen Wohntrakt.«

Das war ein klarer Befehl, und niemand wäre auf die Idee gekommen, Einwände dagegen zu erheben. Es war das einzig Sinnvolle, was in dieser Situation getan werden konnte. Die Bodenstation verwahrte in einem großen Safe in ihrem Keller eine ganze Reihe schmaler Ordner mit wohlüberlegten, detaillierten Verhaltensmaßregeln für alle nur denkbaren Notfälle und Krisen. Das ist typisch japanisch, und man muß es erlebt haben, um es zu glauben, wie eine Gruppe von Japanern herumsitzt und endlos alle Möglichkeiten und Katastrophen erörtert mit einer Ausdauer, die einem Westler wie die reine Besessenheit vorkommt. Aber dafür haben sie danach alles vorbereitet und alles im Griff. Nach unserem Anruf würde jemand an diesen Safe gehen, den entsprechenden Ordner herausnehmen und uns mit fernöstlichem Gleichmut die zu treffenden Maßnahmen nennen.

Der Mörder, wer immer es war, hatte keine Chance. Das nächste Shuttle würde wahrscheinlich eine Sonderkommission der Kriminalpolizei mitbringen, die die ganze Station auf den Kopf stellen und nicht eher ruhen würde, bis der Mörder Iwabuchis überführt war.

Wir hangelten uns hinüber in die Steuerzentrale, ein schweigsamer Zug schwebender Gestalten. Als das Schott zur Brücke auffuhr, kam uns ein dumpfer, unangenehmer Geruch entgegen.

»Derselbe Geruch wie gestern«, stellte Tanaka nach zwei schnüffelnden Atemzügen fest.

»Darum können wir uns später kümmern«, knurrte Moriyama mißgelaunt. »Sakai, stellen Sie eine Verbindung zur Bodenstation her. Und beeilen Sie sich bitte; ich kann es kaum erwarten, Akihiro den Tag zu verderben.« Akihiro war der Leiter der Bodenstation; einer der ersten japanischen Shuttlepiloten, bis ihn ein Autounfall, an dem er unschuldig war, an den Rollstuhl fesselte. Seither war sein Dienstgrad stetig gestiegen, während sich seine Laune ebenso stetig verschlechtert hatte. Das Makabre seiner Situation – und wahrscheinlich der Grund dafür, daß er keine Gelegenheit ausließ, andere an dieser Laune teilhaben zu lassen – war, daß er als Querschnittsgelähmter in der Schwerelosigkeit des Weltraums so gut wie überhaupt nicht behindert gewesen wäre. Er hätte nur den Start nicht überlebt.

Sakai turnte die Handgriffe entlang zu seinem Kommunikationspult. Ich warf einen Blick auf den großen Bildschirm mit der Weltkarte. Die Raumstation überquerte gerade die Antarktis. Der Funkspruch würde über Relaisstationen und Funksatelliten gehen müssen.

»Was für eine Scheiße«, hörte ich Jayakar neben mir murmeln. Wir standen wahrscheinlich immer noch unter Schock. Ein unbeteiligter Beobachter hätte eine Gruppe auffallend lethargischer Menschen gesehen, die sich irgendwie und achtlos Plätze suchten, an denen sie sich festschnallten, um dem weiteren Verlauf der Dinge zuzusehen.

»Ich habe Schwierigkeiten«, sagte Sakai plötzlich.

Moriyama kniff die Augen zusammen. »Was heißt das?«

»Ich bekomme keine Verbindung«, erklärte der Funker verwirrt, während seine Finger über Tasten und Schalter wanderten. »Ich empfange ein Bodenrelais in Adelaide und insgesamt fünf Satelliten, aber meine Verbindungsanforderungen werden nicht beantwortet. Es ist so, als würde ich überhaupt nicht senden.«

»Und? Senden Sie?«

Sakai zog nervös Luft zwischen den geschlossenen Zähnen ein und stieß sie wieder aus. Statt einer Antwort drückte er eine Reihe von Tasten, zuerst langsam, dann schneller und härter. »Nein«, sagte er. »Ich sende nicht. Der Sender scheint ausgefallen zu sein.«

»Wir haben ja wohl einen Ersatzsender, oder?«

»Hai«, nickte Sakai und beugte sich hinüber zu dem Schaltschrank neben seiner Konsole. Dem Schaltschrank, an dem ich gestern abend den öligen Tropfen gefunden hatte. Mir schwante nichts Gutes.

Sakai drückte einen Knopf an einer der Schaltflächen, doch die kleine Leuchtdiode daneben blieb dunkel. Auf der Stirn des Funkers glitzerten Schweißperlen. Er drückte einen zweiten Knopf an einer darunter angebrachten, identischen Schaltfläche, mit demselben Ergebnis.

»Beide Reserveeinheiten sind ausgefallen, Kommandant«, erklärte Sakai mit bebender Stimme.

Moriyama starrte den Funker ungläubig an. »Wollen Sie mir damit sagen, daß wir nicht imstande sind, mit dem Kontrollzentrum zu sprechen?«

»Wir können empfangen«, erwiderte Sakai ausweichend. Er wand sich förmlich. »Aber wir können nicht senden.«

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