»Vor ein paar Wochen kam eine kleine Meldung in den Nachrichten; wahrscheinlich ist sie niemandem außer mir aufgefallen.« Ich holte tief Luft – verbrauchte Luft, die nach Schweiß und Öl stank und sich klebrig und schwer anfühlte in der Lunge. »In der Meldung hieß es, daß Abu Mohammed, der glorreiche Führer der Dschijhadis, der zweite Prophet, gesagt habe, die seit einem Jahr andauernde Belagerung Mekkas sei in Wahrheit eine Prüfung für den Glauben seiner Anhänger, der schließlich durch ein Wunder belohnt werden würde.«
»Ein Wunder?« Jayakar schien sich zu weigern, das Offensichtliche wahrhaben zu wollen.
»Ein Wunder, das er zu diesem Zeitpunkt längst inszeniert und in die Wege geleitet haben mußte.« Durch die Luke sah ich hinab auf das Hochland von Mexiko, das die Solarstation gerade überflog. Die untergehende Sonne warf bizarre Schatten über die kahlen Gipfel der westlichen Sierra Madre, und schwarze, zähe Rauchwolken stiegen von den Industriegebieten am Golf von Kalifornien auf. Einhundertfünfter westlicher Längengrad. Ich überschlug unsere Flugbahn im Kopf. »Noch anderthalb Erdumkreisungen, dann werden wir Mekka genau überfliegen. In etwas mehr als zwei Stunden wird das Wunder geschehen, das der große Prophet vorhergesagt hat. Khalid wird dafür sorgen. Er wird die geballte Energie der NIPPON auf Mekka abstrahlen und jedes lebende Wesen darin zu Tode kochen.« Unter anderem meinen Sohn. Alles in mir schien abzusterben bei dieser Vorstellung.
»Der Strahl wird anfangen zu wandern«, wandte Moriyama ein. »Die Vibrationen werden es unmöglich machen zu zielen…«
Jayakar schüttelte wie betäubt den Kopf. »Keine Vibrationen. Kein Wandern. Ich habe alle Programmbestandteile entfernt, die zu diesen Fehlern geführt haben. Die Steuerung des Energiestrahls arbeitet einwandfrei.«
Moriyama schnaubte empört.
»Was für ein seltsamer Saboteur sind Sie eigentlich, Mister Jayakar?«
Ich hörte kaum hin. Mir war, als stürbe ich bereits, während ein roboterartiger Automatismus die Steuerung meines Körpers übernahm und mich immer weiter reden ließ. »Das alles muß geplant und von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Ich dachte die ganze Zeit, daß Khalid auf den verspäteten Shuttle wartet und daß deshalb niemand erfahren sollte, daß sie an Bord sind. Aber in Wirklichkeit dürfte es Sabotage sein, die den Shuttle am Boden hält; ein Agent Khalids im Raumfahrtzentrum. In Wirklichkeit geht es darum, daß niemals irgend jemand erfahren darf, was sich abgespielt hat.«
In Moriyamas Blick las ich väterliche Besorgnis, und sie war weiß Gott gerechtfertigt. »Übertreiben Sie jetzt nicht etwas, Leonard?«
Wahrscheinlich wirkte ich nach außen ruhig und gefaßt, wie einer dieser Helden im Film, der die Lage völlig im Griff hat, aber kein Eindruck konnte so falsch sein wie dieser. In meiner Magengrube spürte ich ein Zittern, das mich fatal an die ersten Anzeichen jenes Nervenzusammenbruchs nach meiner Scheidung erinnerte, den ich aus meinem Gedächtnis hatte streichen wollen.
»Übertreibe ich?« hörte ich mich sagen. Ich fing wirklich an, irre zu reden. »Glauben Sie, ich übertreibe? Was würden Sie denn tun, Kommandant, wenn Sie an der Stelle des großen Propheten wären? Bedenken Sie den Effekt – über Mekka wird die Sonne aufgehen, während der tödliche, aber unsichtbare Strahl aus dem Weltraum auf die Stadt niederbrennt. Khalid wird über einen verschlüsselten Funkspruch den Vollzug melden, und daraufhin werden die Truppen Abu Mohammeds einmarschieren und vorfinden, daß es Allah gefallen hat, alle Einwohner Mekkas zu töten und die heilige Stadt des Islam den Dschijhadis zu schenken. Voila – das Wunder des Propheten. Es wird nicht nur den Krieg um Mekka beenden, sondern auch dem Dschijhad-Islam endgültig zum Durchbruch verhelfen.«
Moriyama sah mich mit einem Blick voller Schmerz an. Noch jemand, dem es weh tat, der Wahrheit ins Gesicht blicken zu müssen.
»Ich suche verzweifelt nach einem Gegenargument, aber mir fällt keines ein«, bekannte er leise.
»Es gibt keines. Das ist es, was Khalid vorhat. Und für ein Wunder ist es wichtig, daß niemand erfährt, wie es bewerkstelligt wurde. Deshalb werden wir alle sterben.«
»Und Khalid?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht wird er den Shuttle entführen und einen Absturz über dem Ozean vortäuschen. Es ist nicht wichtig. Sicher hat er einen Plan, der auch funktionieren wird, wie alle seine Pläne bisher funktioniert haben. Sicher ist, daß er eine NIPPON zurücklassen wird, deren gesamte Besatzung auf rätselhafte Weise den Tod gefunden hat.«
Tanaka war kreideweiß im Gesicht. »Das müssen wir verhindern!« rief er erregt. »Wir müssen etwas unternehmen!«
»Was wollen Sie denn unternehmen?« fragte Jayakar abfällig, fast gelangweilt. »Wir sind hier gefangen, im perfektesten Gefängnis der Welt. Auch wenn wir Bescheid zu wissen glauben, haben wir nicht die geringsten Handlungsmöglichkeiten. Es ist tatsächlich der perfekte Plan.«
»Nein.«
In meiner Magengrube fing es an zu pochen und zu pulsieren, und wie ein Strom glühender Lava stieg eine Kraft in mir empor, von der ich nicht geglaubt hatte, sie noch zu besitzen. Es war Wut. Sengend-heiße, gnadenlose Wut, geradezu wohltuend in ihrer Urgewalt. »Es gibt perfekte Pläne, aber es gibt keine perfekte Ausführung. Auch Khalid hat Fehler gemacht.«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
Wie Blitzlichter zuckten Bilder vor meinem inneren Auge vorbei, Bilder von Momenten aus meinem Leben, in denen ich diese Wut verspürt hatte. Ich war einmal ein Sieger gewesen. Ich hatte einmal zu kämpfen verstanden. Für einen Augenblick war ich wieder auf dem Schulhof, und der Kinderschreck aus einer der höheren Klassen hatte mich so lange gequält, daß ich ihm voller Wut in die Eier trat und ihn für den Rest des Tages außer Gefecht setzte.
Ich hangelte mich über die Kontursitze hinweg nach hinten und fing an, den Leichensack aus dem Netz dahinter hervorzuzerren. Die anderen beobachteten mich entgeistert, ohne sich von der Stelle zu rühren. Immerhin auch, ohne mich an meinem Tun zu hindern. Als ich den blauen Plastiksack mit dem Toten darin vollständig aus seiner Befestigung herausgezogen hatte, machte ich mich daran, ihn aufzuschnüren.
»Er hätte den armen Professor nicht entführen sollen«, erklärte ich, wenngleich meine wirre Rede als Erklärung nicht viel taugen mochte. Yamamotos lebloser, silberhaariger Schädel kam zum Vorschein. »Und nachdem er ihn schon mit an Bord genommen und durch den Start umgebracht hatte, hätte er ihn nicht so achtlos hinter die Sitze stopfen und dort vergessen sollen.«
Ich öffnete den Plastiksack weiter und streifte ihn am Körper des Toten herab. Wie es sich herausstellte, trug der Tote einen Raumanzug.
»Sie trugen alle vier Raumanzüge, weil sie ihrem selbstgebastelten Raumschiff nicht recht trauten. Zu Recht, wahrscheinlich. Nachdem Yamamoto tot war, hatten sie andere Sorgen, als ihn auszuziehen. Und da es ihnen auf eine Leiche mehr oder weniger sowieso nicht ankommt, vergaßen sie ihn, als sie uns hier einsperrten. Und das«, schloß ich grimmig, »war ein Fehler.«
Ich holte den Leichnam vollständig aus dem Plastiksack heraus. Es tat gut zu handeln. Der zum Raumanzug gehörende Helm fand sich ganz am Schluß zwischen den Füßen des Toten. Auf seinem Halsverschluß waren kyrillische Buchstaben eingeprägt: also tatsächlich russische Raumanzüge. Wie ich es mir gedacht hatte. Es galt nach wie vor, daß es nichts gab, das man auf dem russischen Schwarzmarkt nicht hätte kaufen können. Ich begann, den Toten zu entkleiden. Der Raumanzug war dem schmächtigen alten Japaner zu groß gewesen; mir würde er ganz leidlich passen mit meiner Durchschnittsgröße.
»Was tun Sie da«, wollte der Kommandant wissen, als ich in das Hosenteil schlüpfte, was sich in der Schwerelosigkeit und ohne die entsprechenden Halterungen nicht gerade einfach gestaltete.
»Das sehen Sie doch – ich ziehe den Raumanzug an.«
Ich prüfte die Sauerstoffreserve des Rucksacktornisters. Mehr als ausreichend.
»Und was haben Sie vor?«
»Was denken Sie denn, daß ich vorhaben könnte?« fragte ich zurück und schnallte die Stiefel an. »Ich werde rübergehen und Khalid mit bloßen Händen erwürgen.«
»Werde ich dazu nicht gefragt?«
Ich hielt inne und sah Moriyama an. »Nein. Sie werden dazu tatsächlich nicht gefragt.«
Es war einen Moment lang wie ein Kräftemessen mit Blicken, dann nickte der grauhaarige Kommandant. »Khalid ist nicht allein da drüben, das wissen Sie?«
»Mir ist gerade wieder eingefallen, daß ich einmal das Handwerk eines Soldaten gelernt habe. Mal sehen, was ich noch alles kann.« Ich streifte das Brustteil über und verband es mit dem Hosenteil. Alles sehr solide, alte russische Wertarbeit. Yoshiko half mir beim Aufsetzen des Rückentornisters. Ich achtete sorgfältig darauf, nicht aus Versehen das Funkgerät einzuschalten, das wie ein dicker, wurstförmiger Wulst im Nacken befestigt war. Die Geräte der anderen drei Raumanzüge sendeten und empfingen sicher auf der gleichen Frequenz; wenn ich die Piraten mit einem lautstarken Einschaltknacken auf die richtigen Ideen brachte, konnte ich genausogut gleich hierbleiben.
»Leonard?« fragte Jayakar plötzlich.
»Ja?«
Er schwebte neben dem Guckloch, das in der Schleusenluke eingelassen war, und hielt sich am Verschlußrad fest. »Ich fürchte«, sagte er zögernd, »Khalid hat doch keinen Fehler gemacht.« Er deutete auf das Guckloch. »Die äußere Schleusentür steht offen.«
»Und?«
»Und es gibt keine Vorrichtung, um sie von hier drinnen zu schließen.«
Ich hatte mir gerade den Helm aufsetzen wollen, aber jetzt hielt ich entsetzt inne. Mein Verstand weigerte sich zu glauben, was meine Ohren hörten. War das ein Problem? Durfte es sein, daß das ein Problem war? Ich hangelte mich über die Sitze hinweg zu Jayakar an das Schleusenluk und spähte durch die enge Sichtritze. Tatsächlich, die äußere Schleusentür stand offen. Sie mußte geschlossen werden. Dann konnte ich die innere Luke öffnen, mich in den engen Schleusenschacht zwängen und dann die äußere Luke öffnen. Ich suchte nach irgendeinem Hebel oder Schalter, um sie von innen zu schließen, aber es gab keinen.
»Das darf nicht wahr sein«, murmelte ich. »Wie soll ich denn jetzt hinauskommen?«
»Vergessen Sie’s«, meinte Jayakar wenig hilfreich. »Unser Gefängnis ist noch perfekter, als wir dachten. Sie haben zwar einen Raumanzug, aber Sie können die Kapsel nicht verlassen, ohne uns alle zu töten.«