Die Mannschaft fand sich so rasch im Gemeinschaftsraum ein, als habe jeder nur sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet. Wir verteilten die Tabletts, die alle mit einem Magneten versehen waren und folglich auf dem runden Tisch, der eine Metalleinlage hatte, gut hafteten, und Oba erntete reichlich Komplimente für ihre knackig zubereiteten Sojasprossen.
»Ich bin ganz ehrlich«, erklärte Jayakar mit Verschwörermiene. »Ich habe da unten jemanden bestochen, den Shuttle ein paar Tage zurückzuhalten, damit Sie uns noch einmal etwas kochen.«
Auch das Essen ist nicht so einfach in der Schwerelosigkeit. Das Hauptproblem ist, zu vermeiden, daß sich die guten Sachen einfach vom Teller erheben und auf und davon fliegen. Deswegen hat jeder Teller einen fest schließenden Deckel. Messer und Gabel gibt es auch nicht; das einzige Eßwerkzeug des Astronauten ist eine Art schmale Zange, ähnlich einer Zuckerzange, wie sie die Generation unserer Eltern noch zu besitzen pflegte. Mit der linken Hand öffnet man den Deckel ein wenig, und mit der Eßzange in der rechten Hand schnappt man sich dann einen Leckerbissen vom Teller.
Für Anfänger empfiehlt es sich, zuerst eines jener Gerichte zu nehmen, die mit einer klebrigen Soße zubereitet sind. Dadurch haftet das Essen am Teller, und man kann sich ganz darauf konzentrieren, die Handhabung der Zange einzuüben. Und, nicht zu vergessen, das Schlucken – da einem die Schwerkraft nicht hilft, hat man bei den ersten Bissen das Gefühl, im Liegen oder im Kopfstand zu essen und die Nahrung gegen einen Widerstand herunterschlucken zu müssen. Gewöhnungsbedürftig.
Zur allgemeinen Begeisterung präsentierte Sakai eine große Flasche edlen Pflaumenweins und erklärte, sie der Runde spendieren zu wollen. Es sei ein privater Anlaß. »Heute vor zehn Jahren mußte ich eine wichtige Prüfung wiederholen. Wenn ich sie nicht bestanden hätte, hätte ich die Raumakademie verlassen müssen. Aber – ich habe sie bestanden.«
»Na, so ein Glück für uns«, meinte Moriyama doppelsinnig.
»Holt die Gläser!« rief Jay.
Bei den ›Gläsern‹ handelte es sich in Wirklichkeit um elastische kleine Beutel aus transparentem Plastik, die eine verschließbare Einfüllöffnung und ein kurzes Saugröhrchen hatten. Wenn man etwas trinken wollte, mußte man sich die Flüssigkeit in den Mund drücken, als lutsche man an einer Tube Zahnpasta.
Auch den Wein aus der Flasche herauszubekommen war eine einigermaßen umständliche Prozedur, die an Bord äußerst selten vorkam, da praktisch kein Getränk in Flaschen herauftransportiert wurde – abgesehen eben von Mitbringseln im privaten Gepäck der Crewmitglieder. Aber auch dieses Problem war schon vorgekommen und gelöst worden. Aus den Tiefen der Küchenschränke förderte ich ein Gerät zutage, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einem Sahnesiphon und einer Beatmungsmaschine und das ich, nachdem Sakai die Weinflasche entkorkt hatte – und der Wein, wie nicht anders zu erwarten, keinerlei Anstalten machte, die Flasche zu verlassen –, anstelle des Korkens in den Flaschenhals einführte. Das Prinzip war ganz einfach: am unteren Ende einer dünnen Röhre, die tief in die Flasche hineinragte, befand sich ein leerer Gummiballon. Wenn man einen Druckhebel betätigte, wurde dieser Ballon mit Luft aufgeblasen; dadurch drückte er die Flüssigkeit in der Flasche zum Flaschenhals hinaus, und dort floß sie folgsam aus einer entsprechenden Spritzöffnung
»Ich habe die erste Wache heute nacht«, wehrte Yoshiko ab. »Ich trinke besser nichts.«
»Ich habe heute nacht die zweite Wache«, sagte Jay. »Also trinke ich besser – als erster!«
Moriyama sah dem Treiben mit geduldigem Lächeln zu.
Natürlich erlaubten die Vorschriften der Raumfahrtbehörde keinen Alkoholgenuß an Bord der Raumstation. Und natürlich konnte man unmöglich immer alle Vorschriften einhalten. Er lehnte nicht ab, als Sakai ihm einen gefüllten Trinkbeutel reichte.
Die Stimmung und der Geräuschpegel der Gespräche stieg schon nach wenigen Schlucken. Ich hatte mich auf meinen Stuhl zurückgezogen und festgeschnallt und hörte hauptsächlich zu, während ich an dem vorzüglichen Wein nippte.
Mein Blick wanderte wieder einmal über die große Weltkarte, die eine Wand des Gemeinschaftsraums einnahm. Es war eine dieser neumodischen Weltkarten in pazifischer Darstellung, das heißt, die Kontinente waren nicht wie auf den früher üblichen Karten rings um den Atlantik angeordnet, sondern rings um den Pazifik; Nord- und Südamerika also auf der rechten Kartenseite, Asien mit Afrika und Europa auf der linken Seite.
Ursprünglich, hatte ich einmal gelesen, hatte es sich bei dieser Art Weltkarte nur um einen Werbegag des Fremdenverkehrsamtes von Honolulu gehandelt: eine Weltkarte, auf der Hawaii genau in der Mitte lag. Aber dann hatte ein Verleger in Sydney – nachdem Sydney die Olympischen Spiele im Jahr 2000 ausgerichtet hatte, hatte es sich zu einer Art kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der nichtasiatischen Welt am Pazifik entwickelt – die Idee aufgegriffen und ernst damit gemacht. Er ließ exakte Karten anfertigen und gab Poster, Wandkarten und ganze Atlanten heraus, die auf der pazifischen Weltkarte basierten, und seither erfreute sich diese Art der Darstellung der Welt zunehmender Beliebtheit.
»Ihre europäischen Landsleute«, meinte Tanaka über den Tisch an Jayakar gerichtet, »haben wieder einmal Großes vor, wie man hört.«
»Meine europäischen Landsleute?« fragte Jay verwundert zurück.
Tanaka hob die Augenbrauen. »Sie sind doch Brite, oder?«
»Ach ja«, nickte Jay. »Auch. Was haben sie denn vor?«
»Heute nacht soll eine ARIANE-Rakete starten und einen Erdbeobachtungssatelliten in eine hohe Polarbahn bringen«, berichtete Tanaka. »Die Meldung kam heute nachmittag, kurz nach Beginn meiner Brückenwache.«
»Einen Erdbeobachtungssatelliten?« wunderte sich Iwabuchi.
»Ja, und einen ziemlich teuren. Sein Name ist TRANSGEO-1. In der Meldung stand auch, wieviel Millionen Franc oder DM oder Dollar er gekostet hat, aber ich habe es mir nicht gemerkt. Ich fand es nur erstaunlich, daß Europa sich noch so sehr für den Rest der Welt interessiert…«
Jay hob abwehrend die Arme. »Machen Sie mich nicht für alles verantwortlich, was die Europäer machen. Ich bin außerdem zur Hälfte Inder.«
»Aber Sie haben doch ganz gut gelebt in Cambridge, oder?« fragte Moriyama.
»Hervorragend«, erwiderte Jay trocken. »Zweimal haben mir irgendwelche Nazis die Wohnung zertrümmert und die unglaublichsten Parolen an die Wände geschmiert.«
»Ich dachte immer, Sie seien des Geldes wegen nach Japan gekommen«, neckte ihn Yoshiko.
»Damit hätte ich mich als Mathematiker disqualifiziert«, grinste Jay. »Ich verdiene jetzt zwar fünfmal so viel, aber dafür kostet in Japan alles das Zehnfache.«
Ich sah wieder die Weltkarte an und nahm noch einen tiefen Schluck. Wahrscheinlich war diese Karte so beliebt geworden, weil sie die Verhältnisse des einundzwanzigsten Jahrhunderts so treffend wiedergab. Die Gewichte hatten sich drastisch verschoben, verglichen mit der Welt, die ich als Kind gekannt hatte. Der Pazifik war der wichtigste Wirtschaftsraum. Japan, die mit Abstand führende Industrienation, lag auf dieser Karte dort, wo es hingehörte – in der Mitte. Neben Korea, dem Konkurrenten. Und China, das rein durch seine Masse ein Wirtschaftsgigant war und sich gerade anschickte, mit einer dickköpfigen, uneinsichtigen Automobilisierungskampagne der Ozonschicht der Nordhalbkugel den endgültigen Todesstoß zu versetzen. Australien. Und auf der anderen Seite des Pazifik gab es die Küstenländer Südamerikas, immer noch rückständig, und in den Vereinigten Staaten Los Angeles, das sich nur mühsam von den Folgen der beiden großen Erdbebenkatastrophen erholte, und Seattle. Der Rest von Gottes eigenem Land war in den Händen von religiösen Eiferern und von Fanatikern, die sich für radikale Umweltschützer hielten, aber hauptsächlich damit beschäftigt waren, das Land endgültig auf den Stand eines Entwicklungslandes herunterzuwirtschaften. Inzwischen konnte ein Drittel der Amerikaner nicht mehr als ihren eigenen Namen schreiben, und es war wieder verboten, die Evolutionslehre nach Darwin an den Schulen zu unterrichten.
Europa, vor dessen vereinigter Wirtschaftsmacht man einmal kurze Zeit Angst gehabt hatte, war, anstatt sich zu vereinigen, in unzählige winzige Staaten zerfallen und beschäftigte sich hauptsächlich mit sich selbst. Nachdem die Leute gemerkt hatten, daß ein eigener Staat allein auch nicht glücklich macht, gab es viele unerklärte Kleinkriege und Scharmützel, und alles in allem bot Europa der Welt das Bild eines Altersheims voller seniler, streitsüchtiger Greise. Wenn man auf den Straßen von Tokio, Seoul oder Melbourne jemanden nach seiner Meinung über Europa befragte, bekam man eine Antwort, die auch auf die Azteken oder die Babylonier gepaßt hätte: großartige Kultur – warum sie wohl untergegangen ist?
Die arabische Welt des Nahen Ostens und Nordafrikas dagegen war Schauplatz des wahnwitzigsten Religionskrieges, den die Geschichte kannte. Etwa um die Jahrtausendwende hatte sich eine fanatische islamische Sekte um einen selbsternannten Propheten gebildet, der den suggestiven Namen Abu Mohammed trug und dessen Glaubenslehren ein islamischer Religionswissenschaftler einmal so charakterisiert hatte: »Wer das für Islam hält, der hält die Hexenverbrennungen für den Kern des Christentums.« Offenbar hielten eine Menge Leute die Worte des Abu Mohammed für Islam, für den reinen Islam sogar. Die ›Dschijhadis‹, wie sie sich nannten, die ›Heiligen Krieger‹, hatten den Iran von innen heraus erobert, den Irak überrannt und schließlich in der gesamten Golfregion einen Krieg entfesselt, der nun schon seit Jahren tobte und unzähligen Anhängern des neuen Propheten die Gelegenheit bot, den heiligen Tod zu sterben und unmittelbar ins verheißene Paradies einzuziehen.
Nun, und der Rest der Welt… Afrika starb an Aids. Und die Zustände in Rußland als Chaos zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für das Chaos gewesen.
»Der europäische Satellit wird ungefähr unserer Bahn folgen, nur in 1790 Kilometern Höhe«, erläuterte Tanaka. »Das ist eine Zwei-Stunden-Umlaufbahn, auf der der Satellit jeden Tag jeden Punkt der Erde überfliegt.«
»Wenn sie ihn hochkriegen«, meinte Iwabuchi herablassend.
Yoshiko verschwand, um die erste Nachtwache auf der Brücke anzutreten. Ohne mir einen Blick zuzuwerfen. Ich sah mißmutig meinen Trinkbeutel an, der schon leer war, und beobachtete Sakai, der die letzten Tropfen aus seiner Flasche zwischen Iwabuchi und Moriyama verteilte. Ich gehörte nicht dazu. Sie duldeten mich, und mit den meisten von ihnen war gut auszukommen, aber ich gehörte nicht dazu. Wenn ich beschließen würde, den Dienst zu quittieren, würde mich keiner von ihnen vermissen.
Die Unterhaltungen wurden jetzt überwiegend in Japanisch geführt, in jenem schnellen, undeutlichen Japanisch, von dem ich nur jedes zehnte Wort verstand. Ich schnallte mich los, brachte mein Tablett in die Küche und sortierte das schmutzige Geschirr, das schon da war, in den Spülautomaten ein. Dann verabschiedete ich mich kurz, aber Moriyama war der einzige, der mir eine gute Nacht wünschte.
Vielleicht war es auch der Alkohol. Manchmal macht Alkohol mich depressiv. Ich wusch mich kurz und putzte meine Zähne nachlässig. In meiner Kabine zog ich mich aus und schlüpfte in einen leichten Schlafanzug, dann manövrierte ich mich in den Schlafsack. Europäisches Erbe, dachte ich undeutlich. Die heutigen Weltraumschlafsäcke beruhten auf einem Prinzip, das der deutsche Raumfahrer Reinhard Furrer erfunden hatte: man konnte sie leicht aufblasen und so das Gefühl erzeugen, von allen Seiten her gut zugedeckt zu sein, wie man es in einem Bett auf der Erde auch hat. Davor hatten die Astronauten einfach in einem Sack geschlafen, der sie an einer bestimmten Stelle hielt, aber da die Arme in der Schwerelosigkeit frei umherschwebten, waren sie oft von der Berührung durch ihre eigenen Hände aufgewacht. Europäisches Erbe, dachte ich noch einmal. Großartige Kultur – warum sie wohl untergegangen ist?
Dann dachte ich über mein eigenes Leben nach und was ich alles falsch gemacht hatte, und irgendwie dämmerte mir, daß, egal wohin man geht, ob ans Ende der Welt oder in die Tiefen des Ozeans oder in die Einsamkeit des Weltalls, man sich immer mitnimmt, und das ist das Problem – und darüber schlief ich ein.