KAPITEL 29

Als sich die Innentüre der Schleuse hinter mir wieder geschlossen hatte, öffnete ich die Verschlüsse an meinem Halsring, nahm den Raumhelm ab und schaltete mein Lebenserhaltungssystem ab. Ich lauschte. Es war nichts zu hören, was darauf hätte schließen lassen, daß jemand auf mich aufmerksam geworden wäre. Ich hörte das Übliche: das einlullende Zischen der Klimaanlage, das Brummen ferner Aggregate, das sich über die Tragekonstruktion der Raumstation übertrug und nur als unterschwelliger Baßton wahrnehmbar war – aber keine aufgeregten Schreie, kein Klirren von Waffen, keine Geräusche, wie sie jemand hervorgerufen hätte, der sich hastig durch den Knotentunnel bewegte. Es schien ganz so, als sei ich tatsächlich unentdeckt eingedrungen.

Natürlich konnten Khalid und seine Spießgesellen von der Zentrale aus jeden Winkel der Station überwachen, und wenn sie die entsprechenden Funktionen des Computersystems aktiviert hatten, dann verfolgten sie jetzt jede meiner Bewegungen gemütlich auf unzähligen Monitoren und lasen nebenbei noch meinen Herzschlag ab, falls ihnen danach war. Dann hatte ich keine Chance.

Meine einzige Chance war, daß sie jetzt, etwa eineinhalb Stunden vor dem ersten Sichtkontakt mit Mekka, andere Dinge zu tun hatten, als mit der Computeranlage zu spielen.

Ich wollte den klobigen Helm gerade in einem leeren Gitterfach an der Wand deponieren, als mir eine Idee kam, die mich innehalten ließ. Vielleicht gab es eine ganz einfache, ganz schnelle Möglichkeit, den Spuk zu beenden. Wenn Khalid einen weiteren Fehler gemacht hatte. Sein erster Fehler hatte mich zurück in die Station gebracht. Und ein zweiter Fehler würde sein Ende bedeuten. Ich schloß die Gittertür des Wandfachs wieder und befestigte den Raumhelm mit dem dafür vorgesehenen Plastikbändchen an meinem Gürtel. Dann glitt ich zum Schott. Ich zuckte zusammen, als es zischend vor mir auffuhr, so laut und durchdringend kam mir das Geräusch vor. Atemlos lauschte ich, aber niemand reagierte. Vielleicht war das Geräusch doch nicht so laut. Vorsichtig streckte ich den Kopf durch die Öffnung und sah in den Tunnelschacht. Niemand war zu sehen. Der Knotentunnel lag leer und verlassen.

Ich griff nach dem ersten Haltegriff und hangelte mich eilig hinüber zum nächsten Schott, hinter dem ich das biologische Labor wußte. Es fuhr genauso laut und genauso bereitwillig vor mir auf, ich hangelte mich hindurch in die Dunkelheit dahinter und atmete erst wieder auf, als es sich hinter mir geschlossen hatte und auch daraufhin draußen im Knotentunnel keine Laute erklangen, die in irgendeiner Weise alarmierend gewesen wären.

Als meine Herzfrequenz wieder auf medizinisch unbedenkliche Werte gesunken war, beschloß ich, Licht zu machen. Ich tastete gerade nach dem Lichtschalter, als plötzlich ein stumpfer Gegenstand sanft auf meinen Nacken gesetzt wurde. Ein kalter, stumpfer Gegenstand. Ein Gegenstand, der sich anfühlte wie ein Revolverlauf.

Ich erstarrte augenblicklich zu Eis. Mein Herz setzte aus. Ich hörte auf zu atmen, zu denken, zu fühlen. So also war es, wenn man starb.

Die Sekunden vergingen – zumindest machten sie diesen Eindruck auf mich –, und ich lebte immer noch. Der stumpfe, kalte Gegenstand in meinem Nacken wanderte langsam hin und her, als suche er nach der richtigen Stelle, um zu tun, was immer er mit mir zu tun vorhatte.

»Hören Sie, vielleicht können wir darüber reden…«, flüsterte ich mit einer Stimme, die ich nicht als die meine erkannte. Ich wußte nicht so recht, was ich da eigentlich sagte. Ich redete, nur um etwas zu sagen, um Zeit zu gewinnen, und ich brachte nur diese eigentümlich krächzenden Flüsterlaute zustande.

Keine Antwort. Der stumpfe Gegenstand wanderte an meiner Schädelbasis hoch.

»Bitte… Ich bin nicht bewaffnet. Sie haben wirklich keinen Grund zu vorschnellen Reaktionen…«

Wer immer da hinter mir war, er war entweder ein geduldiger Schweiger oder taubstumm. Der stumpfe Gegenstand wanderte langsam weiter, und er schien jetzt mein Ohr anzupeilen. Ich fragte mich, wie er es fertigbrachte, mich in der Dunkelheit so genau auszumachen. Ich fragte mich, warum ich nichts hörte, nicht einmal Atemgeräusche. Der Gegenstand erreichte mein Ohr, berührte es flüchtig und glitt daran vorbei, an meiner Wange entlang, und etwas Glattes, Kühles streifte meine Haut.

»Vielleicht mache ich lieber erst einmal Licht, wenn Sie nichts dagegen haben«, krächzte ich und betätigte den Lichtschalter, den ich mittlerweile unter meinen Fingerspitzen spürte.

Der Gegenstand, der da eben an meinem Gesicht vorbeigeglitten war, war ein nacktes Bein.

Ich drehte mich vorsichtig um, schon ahnend, daß kein angenehmer Anblick auf mich wartete. Und als ich mich umgedreht hatte, dankte ich dem Schicksal, daß ich schon lange nichts mehr gegessen hatte.

Es war Oba, oder vielmehr das, was Ralf von ihr übriggelassen hatte. Sie schwebte mit entblößtem Unterleib, den Oberkörper grotesk verdreht, in der Luft, und das, was die Nervenenden meines Nackens vorsichtshalber als schallgedämpften Lauf eines Revolvers eingeschätzt hatten, war in Wirklichkeit ihr rechter großer Zeh gewesen. Ihr kalter, toter, rechter großer Zeh.

Und im Augenblick befand sich mein Kopf genau zwischen ihren gespreizten Schenkeln. Ich griff nach ihren Beinen und bremste ihre Bewegung ab. Dann, obwohl ich wußte, daß das verräterisch sein konnte, sammelte ich ein paar der herumfliegenden Kleidungsstücke ein und verhüllte ihre Blöße wieder. Es gab einen Mann auf der Erde unten, der niemals erfahren durfte, wie sie gestorben war, das schwor ich mir. Ralf schien nicht damit genug gehabt zu haben, ihr so oft in den Kopf zu schießen, daß man die einzelnen Einschußlöcher nicht mehr zählen konnte und ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Er mußte sich auch noch, nachdem sie längst tot gewesen war, an ihr vergangen haben, auf irgendeine widerwärtige Art und Weise, die sich auszumalen meine Phantasie verweigerte.

Wer weiß, was er mit uns anderen vorhaben mochte? Mein Mund fühlte sich plötzlich seltsam trocken und staubig an. Ich ließ von dem Leichnam Obas ab und machte mich auf die Suche nach dem, weswegen ich eigentlich gekommen war: dem Betäubungsgas. Bei meinem letzten Reinigungsdurchgang im biologischen Labor hatte ich noch zwei der bonbonrosafarbenen Gaspatronen in irgendwelchen Schubladen gesehen. Eine hatte Khalid entdeckt, und aus welchem Grund hätte er sie nicht hier zurücklassen sollen? Schließlich wußte er zu diesem Zeitpunkt sicher schon, daß er uns allesamt in seine stickige, dunkle Raumkapsel stecken würde.

Aber er schien seine Gründe gehabt zu haben. Ich öffnete Lade um Lade, Schrank um Schrank, fand alles mögliche nutzlose Zeug, aber keine annähernd rosafarbene Metallflasche. Khalid schien sich nicht nur damit begnügt zu haben, die bei Oba beschlagnahmte Patrone verschwinden zu lassen; er mußte eine regelrechte, gründliche Durchsuchung vorgenommen haben. Eine erfolgreiche Durchsuchung darüber hinaus, denn ich fand auch die zweite Patrone nirgends.

Schließlich gab ich es auf. Es wäre auch zu einfach gewesen: einfach den Raumhelm aufsetzen, die Gaspatrone öffnen und dann gemütlich losgehen, Schurken einsammeln. So mußte ich eben zu meinem ursprünglichen Plan zurückkehren. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Es gab keinen Grund zu unnötiger Eile, aber ich hatte mich schon länger mit der Suche nach dem Betäubungsgas aufgehalten, als ich eigentlich vorgehabt hatte.

Und es gab auch keinen Grund mehr, länger diesen klobigen Raumanzug zu tragen. Ich löste die Verschlüsse der Handschuhe und zog sie aus, entledigte mich des Rückentornisters, öffnete dann die Dichtungen am Gürtel, streifte das Oberteil ab und schlüpfte zuletzt erleichtert aus dem Hosenteil. Es war eine Wohltat, sich wieder ungehindert bewegen zu können. Nach einem letzten prüfenden Blick in die Runde – manchmal sucht man ja stundenlang nach etwas, das die ganze Zeit groß und breit direkt vor der Nase liegt – löschte ich die Beleuchtung wieder und ließ das Schott auffahren. Immer noch Stille. Ich streckte den Kopf hinaus in den Knotentunnel. Immer noch Leere. Vielleicht hatten sich die Piraten in der Zwischenzeit heillos betrunken und schliefen irgendwo ihren Rausch aus? Oder, was mir natürlich am allerliebsten gewesen wäre, sie hatten sich gegenseitig die Schädel eingeschlagen?

Dann schalt ich mich einen Narren. Es gab einen ganz anderen Grund, warum keiner von ihnen durch die Station geisterte: inzwischen saßen sie alle einträchtig an den Schaltpulten der Brücke und fieberten dem Moment entgegen, in dem die Heilige Stadt in die Reichweite des Energiesenders kam.

Anstatt mich hier in albernen Phantasien zu verlieren, tat ich gut daran, mich zu beeilen, ihnen einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen.

Ich ließ das Schott hinter mir, das sich mit einem asthmatischen Schmatzen wieder schloß, und machte mich an den Abstieg ins Maschinendeck. Das war jetzt nichts, wo man eben mal schnell hinhuschen konnte; da das Maschinendeck bereits auf der ›dunklen Seite‹ des Solarspiegels lag, war dieser logischerweise an dem entsprechenden Zwischenstück des Knotentunnels befestigt, das wiederum massiv verstärkt war – wesentlich massiver, als eigentlich notwendig gewesen wäre; die Solarstation wäre auch mit einem noch wesentlich größeren Solarspiegel zurechtgekommen. Dadurch bildete sich in der Mitte des Knotentunnels eine Art verengte Röhre, die es unbeschadet zu passieren galt.

Ich stieß mich von einem Haltegriff ab, ohne meinen klobigen Raumanzug nun so elegant, wie es die Übung eines jahrelangen Aufenthalts in der Schwerelosigkeit möglich machte, und war gerade auf halbem Weg durch den Tunnel, als ich ein anderes Schott sich öffnen hörte. Und jetzt, als ich nicht selber Urheber dieses Geräuschs war, kam es mir noch viel lauter und alarmierender vor als bisher. Ich reckte mich in einer panischen Bewegung nach dem nächsten Haltegriff, packte ihn und turnte an ihm hastig in die lächerliche Deckung der unteren Tunnelmündung.

Keinen Augenblick zu früh. Ich hörte Stimmen. Jemand kam, kam heraus in den Knotentunnel. Ich wagte nicht nachzusehen und bemühte mich, so flach wie möglich zu atmen und kein Geräusch zu machen. Und die Deckung, die der wulstige Rand des verstärkten Mittelteils gegen Sicht von oben bot, war so lächerlich gering, daß ich mich mit aller Macht gegen die Wand preßte, als hoffe ich, sie nach außen beulen zu können mit bloßer Körperkraft.

Es war Ralf. Ralf, das Monstrum. Ralf, das Tier.

»Da ist was«, hörte ich ihn knurren, als spräche er mit sich selbst. »Ich hab’s genau gehört. Da unten irgendwo…«

Ich verschmolz mit der Wand. Ich wurde eins mit ihr. Ich begann zu verstehen, wie sich ein Stück Preßaluminium fühlen mußte.

Jemand anders sagte etwas, das ich nicht verstand. Es klang wie eine abfällige Kritik an Ralfs Beobachtungsgabe. Zumindest redete ich mir das ein. Aber dann fuhr das Schott schnaubend wieder zu, und ich hörte Ralf schwerfällig durch den Knotentunnel rumpeln. Dabei brummelte er unaufhörlich vor sich hin, ab und zu wie irre in sich hineinkichernd, und ich wurde den Eindruck nicht los, daß er sich in meine Richtung bewegte.

Ich preßte mich noch flacher an die Wand und hörte vollends auf zu atmen.

Aber Ralf kam tatsächlich immer näher; das war auf die Dauer keine Lösung.

Mir mußte etwas einfallen. Ich hatte gehofft, Ralf würde, was immer er aus den Augenwinkeln noch gesehen haben mochte, für eine Einbildung halten, für eine Halluzination seines durch die Schwerelosigkeit in Mitleidenschaft gezogenen Körpers, und es ignorieren. Ich hatte solche Sinnestäuschungen selber erlebt, und ich entsann mich, daß Ralf, als er mich abholte, um mich auf die Brücke zu bringen, sich ebenfalls eingebildet hatte, Bewegungen im unteren Teil des Knotentunnels zu sehen. Aber ausgerechnet diesmal schien er entschlossen zu sein, der Sache auf den Grund zu gehen.

Da geschah, was nicht hätte geschehen dürfen. Mein rechter Fuß geriet in dem Bemühen, mich auf der Wand unterhalb der Tunnelmündung zu verteilen, in das Erfassungsfeld des Sensors des Schotts direkt unter mir, und mit einem lauten, dreisten, rücksichtslosen Zischen, das in meinen Ohren dröhnte wie der Einsturz des Assuan-Staudamms, fuhr das Schott unter mir auf und gähnte unbekümmert in den Knotentunnel.

»Ah!« hörte ich Ralf frohlocken. »Da ist tatsächlich was!«

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