Uralte, vor unausdenkbaren Zeiten eingeübte und eingeschliffene Reflexe ließen mich handeln, ohne daß es des Nachdenkens bedurft hätte. Ich glitt behende aus meinem unbrauchbar gewordenen Versteck, schnellte mich durch das offenstehende Schott in den Raum dahinter und fing meine Bewegung an dem nächsten greifbaren Halt ab, während das Schott in seiner diensteifrigen Stumpfsinnigkeit wieder hinter mir zufuhr. Dann erst kamen die Gedanken. Dann erst begann ich zu zittern.
Es war aus. Es war aus und vorbei. Ich hatte meine Mission vermasselt; ich hatte die einzige Chance für einen kleinen Jungen in einer großen, fernen Stadt, den kommenden Tag noch zu erleben, verspielt. Ralf hatte mich entdeckt, und so blöde, das Auf- und Zufahren eines Schotts als Halluzination abzutun, war selbst er nicht. Ich hatte keine Chance mehr. Ich saß hier gefangen, hier, im materialwissenschaftlichen Labor der Solarstation NIPPON, das keinen zweiten Ausgang hatte, nur dieses eine Schott zum Knotentunnel, das sich von innen nicht abschließen ließ. Ich hatte den Plan des Propheten Abu Mohammed durchkreuzen wollen, doch ich war gescheitert. Und Ralf näherte sich unüberhörbar und unaufhaltsam. Ralf, der Killer. Und ich hatte keine Waffe, nicht einmal einen simplen Stock…
Eine Waffe. Moment mal. Kims Schwert fiel mir wieder ein. Das Habilitations-Schwert. Irgendwo in diesem Raum mußte er es untergebracht haben, das Schwert mit der Klinge aus monokristallinem Stahl.
Von draußen drangen dumpfe, klappernde Geräusche herein. Ralf kam näher. Es schien ihm schwerzufallen, sich von Haltegriff zu Haltegriff zu hangeln und dabei gleichzeitig seine unvermeidliche Pistole in der Hand zu behalten.
Ich öffnete fieberhaft Lade um Lade. Papiere, Hefter, Ordner, bizarre Metallproben quollen mir entgegen. Kein Schwert. Ich wollte nicht über die Möglichkeit nachdenken, daß Kim es womöglich an irgendeinem anderen Platz deponiert haben mochte, nachdem er es mir gezeigt hatte. Da waren noch viele Klappfächer, Schubladen und Schranktüren…
»Hallo…«, gurrte Ralf draußen im Tunnel. Er hatte das Schott beinahe erreicht, und er klang, als stünde er unter schweren Drogen. »Hallo, du Weltraumgeist, ich komme… und hole dich!«
Da. Ein längliches Gebilde, eingewickelt in dicken, weißen Stoff und mit viel zu vielen Kordeln verschnürt. Ich riß sie hastig auf, von panischer Angst getrieben, zerfetzte das Tuch, um an das Schwert heranzukommen…
Das Schott fuhr auf, zischend, majestätisch, endgültig. Für einen Moment herrschte Stille, war nichts zu sehen außer dem leeren Knotentunnel draußen und den anderen, geschlossenen Schotten auf dieser Ebene. Dann zuckte ein Arm durch die weite Öffnung; ein Arm, der eine dunkel glänzende Pistole hielt, auf deren Lauf ein monströs dicker, phallushafter Schalldämpfer geschraubt war. Ralf mochte ein Monstrum sein, ein verrückter Killer, aber er war auf seinem Gebiet ein absoluter Profi. Die Waffe sicherte nach rechts, den toten Winkel rechts neben der Tür. Dann, als klar war, daß sich dort niemand versteckt hielt, glitt der Arm mit der Waffe langsam herum, in einem langen, weiten Bogen durch den Raum, und suchte nach weiteren Zielen.
Aus jeder Bewegung sprach die unendliche Erfahrung eines Mannes, dessen Beruf das Töten war und der wohl sein Leben lang nichts anderes getan haben mochte, als Menschen zu jagen, zu stellen und schließlich umzubringen. Als er niemanden ausmachte, huschte er mit einer Behendigkeit, der das Auge kaum folgen konnte, auf die andere Seite des offenstehenden Schotts und sicherte den toten Winkel auf der linken Seite ab.
Auch hier war niemand. Der Arm mit der Waffe ließ wieder von der linken Ecke ab und wanderte einen Moment lang etwas unschlüssig und ohne konkretes Ziel hin und her. Im Hintergrund des Labormoduls gab es eine Reihe von Stahlschränken, jeder einzelne groß genug, um einem Menschen als Versteck dienen zu können. Ralf kam langsam herein, schußbereit, angespannt wie ein Tiger vor dem Sprung und jederzeit bereit, in Deckung zu gehen.
Er war mittlerweile schon recht lange im Weltraum gewesen, aber doch noch nicht lange genug. Sein Körper hatte sich an die Bedingungen der Schwerelosigkeit angepaßt, aber sein Verstand noch nicht. Und er würde es auch nicht mehr.
Ich hatte mich oberhalb der Tür versteckt gehabt. Auf diese Idee war er nicht gekommen, aber tatsächlich ist es in der Schwerelosigkeit genauso leicht oder schwer, sich oberhalb einer Tür zu verstecken, wie rechts oder links davon. Aber Ralf dachte noch in den Begriffen von Schwerkraft, und auch die Einrichtung des Labors, die er durch das Schott erblickt hatte, mit dem Gitterboden, den Tischen und Geräten rechts und links und den Neonröhren, hatte so vertraut-irdisch gewirkt, daß sie ihn nicht hatte an Schwerelosigkeit denken lassen und an die Möglichkeiten, die diese bot. Ich hatte seine Absicherungsbewegungen aus meinem Versteck mit angehaltenem Atem verfolgt und mit zunehmend fassungslosem Staunen, daß mein Plan tatsächlich aufzugehen schien. Und als ich jetzt auf ihn herabstürzte wie ein Habicht auf seine Beute, das blanke Schwert stoßbereit in der Hand, geschah dies nahezu lautlos und für ihn vollkommen überraschend.
Mein Ziel war, mit dem ersten Streich und bevor er überhaupt mitbekam, was geschah, sein Funkgerät auszuschalten, das er immer noch als Nackenteil trug wie eine fette blaue Wurst. Das hatte alleroberste Priorität: ich mußte dieses Gerät zerschmettern, noch bevor Ralf dazu kam, auch nur einen einzigen Laut auszustoßen, der seine Spießgesellen auf der Brücke hellhörig machte. Und so schoß ich heran, die Augen unverwandt auf das klobige, wulstige Gerät gerichtet, und ich führte den Schlag mit aller Kraft, die mir zu Gebote stand. Ich hatte an dem Raumanzug, in dem ich zurück in die Station gekommen war, das gleiche Funkgerät gehabt, und es hatte sich unerhört massiv und widerstandsfähig angefühlt, alte russische Wertarbeit eben, stabil genug gebaut, um einen Sturz aus dem Weltraum hinab auf die sibirische Tundra zu überstehen. Aber als ich jetzt mit Kims Schwert zuschlug, glitt die Klinge durch den Stahl hindurch wie durch flüssige Butter, und danach noch durch Ralfs Wirbelsäule, seinen Hals und seine Kehle, schwang dann in einem weiten Bogen durch die Luft und schlug noch eine Ecke von einem Tisch ab, ehe ich die Bewegung zum Stillstand bringen konnte.
Mit gleichmütigem Zischen schloß sich das Schott, während ich fassungslos betrachtete, was ich vollbracht hatte. Ralf war tatsächlich nicht mehr dazu gekommen, seine Kumpane zu warnen; mein Schlag hatte ihm mühelos den Kopf vom Rumpf getrennt. Es war gespenstisch anzusehen, wie der bleiche, ausgezehrte Schädel, die fettigen schwarzen Haare wirr nach allen Seiten abstehend, unschlüssig durch die Luft rotierte, während der Rumpf langsam vornüberkippte und das Blut in zwei pochenden Fontänen aus den Halsschlagadern schoß und zu einer immer dichter und größer werdenden roten Wolke zerstäubte, in der sich der abgehauene Kopf verstecken zu wollen schien.
Ich sah das Schwert an, an dessen Klinge nicht einmal ein Blutstropfen hing. Mehr noch, es hatte massiven Stahl durchschlagen und nicht einmal eine Scharte davongetragen. Kim wäre begeistert gewesen.
Der kopflose Körper zuckte sterbend vor sich hin. Der Druck, mit dem das Blut aus den Adern getrieben wurde, ließ rasch nach. Mittlerweile war der Kopf völlig blutverschmiert; nur die großen, leeren Augen blickten noch bleich und anklagend umher. Wesentlich lebendiger hatten sie zu Ralfs Lebzeiten auch nicht gewirkt.
Ich muß gestehen, ich spürte nicht den Hauch irgendeiner Gewissensnot bei diesem Anblick. Im Gegenteil, auf einmal erfüllte mich eine tiefe, geradezu schöpferische Befriedigung. Ich hing da, an eine Rohrleitung geklammert, betrachtete die riesige Blutwolke und den geköpften Ralf, und ich hätte keine größere Zufriedenheit empfinden können, wenn ich gerade unter dem Beifall der Welt die Sixtinische Kapelle neu ausgemalt, eine unsterbliche Symphonie komponiert oder ein ergreifendes Gedicht geschrieben gehabt hätte. Er sah seine Werke, und er sah, daß sie gut waren. Genau so war mir zumute.
Trotzdem war es natürlich eine riesige Sauerei, was sich hier anbahnte. Der Nebel aus Blut, der aussah wie dunkelroter Dampf, geriet allmählich in den Einflußbereich der Belüftungsanlage. Die ersten Tröpfchenschwaden wurden in Entlüftungsschlitze gesogen, und im Bereich der Luftzufuhr bildeten sich wilde Wirbel.
Der Hausmeister, der dieses ganze Chaos einmal aufzuräumen haben würde, konnte einem jetzt schon leid tun.
Ich bemühte mich, an Ralfs Revolver heranzukommen, ohne in das Blut hineinzugeraten. Die toten Finger hielten den Griff der Waffe natürlich immer noch fest umklammert. Ich zerrte den enthaupteten Leichnam in eine einigermaßen saubere Zone und öffnete einen Finger nach dem anderen. Dabei überlegte ich, ob die Belüftungsanlage das Blut wohl bis in andere Räume transportieren konnte. Ich malte mir Khalids Gesicht aus, wenn plötzlich dunkelrote Schwaden aus den Lüftungsgittern drangen. Vielleicht würde er überschnappen.
Aber das war unwahrscheinlich. In den Schächten der Klimaanlage strömte die Luft sehr rasch und turbulent, weil sie aus Platzmangel eng gebaut waren. Das Blut würde sich rasch an den Schachtwänden absetzen, und es würde eine Schweinearbeit werden, es von dort wieder wegzuputzen.
Ich sah auf die Uhr. Bisher hatte ich reichlich Zeit gehabt, weil es nur darauf angekommen war, meinen Plan zu realisieren, ehe die Solarstation Mekka erreichte. Jetzt aber mußte ich mich beeilen, weil Khalid demnächst seinen Killer vermissen würde. Seit Ralfs Enthauptung waren erst einige Minuten vergangen, aber es würde nicht lange dauern, bis den Männern auf der Brücke auffallen würde, daß sie schon lange nichts mehr von Ralf gehört hatten. Einer von ihnen würde dann eine Frage an ihn in sein Funkgerät sprechen, und Ralf würde nicht antworten. Dann würden sie ihn suchen und ziemlich rasch finden. Und wenn sie ihn gefunden hatten, würden sie wissen, daß irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging auf dieser Raumstation.
Eile war also geboten. Ich schob mir Ralfs gewaltigen Revolver in den Gürtel, packte das Schwert und verließ das Labor. Das Licht löschte ich vorher. Sollte der nächste, der hier hereinkam, auch seine Überraschungen erleben.
Der Knotentunnel lag immer noch still und leer. Ich huschte rasch und leise zum gegenüberliegenden Schott, das sich bereitwillig vor mir öffnete, zog mich hindurch und wartete, bis es hinter mir wieder zugefahren war.
Auch hier brannte Licht. Strom war das einzige, womit man an Bord der Solarstation nicht sparen mußte. Ich sah mich um. Es kam mir vor, als sei es Ewigkeiten her, seit ich Jayakar und Iwabuchi hier bei ihrem Gespräch belauscht hatte. Hier war die gesamte Energieversorgung zusammengefaßt, die Transformatoren für den Strom aus der Solarfläche ebenso wie die Steuerung und Beschickung des Energiesenders. Ein feines, nervöses Summen lag in der Luft, ein hoher Ton, kaum noch hörbar. Die Solarstation war ein Kraftwerk, gegen das einem die meisten Kraftwerke unten auf der Erde wie trübe, funzelige Fahrraddynamos vorkamen. Wenn man die langgestreckten Aggregate mit der bloßen Hand berührte, spürte man sie kraftvoll vibrieren und konnte sich einbilden, das gewaltige Energiepotential des Solarspiegels am eigenen Leib zu erfahren.
Mein Plan war schon einfach gewesen, als ich aufgebrochen war, und inzwischen war er noch einfacher geworden. Ich brauchte nur ungefähr zweieinhalb Minuten.
Zweieinhalb Minuten später – zweieinhalb Minuten, die die japanischen Steuerzahler die unbedeutende Kleinigkeit von einer Milliarde Yen gekostet hatten – kehrte ich zurück in den Knotentunnel. Nun war mir wesentlich wohler zumute. Ich hatte das Schwert zurückgelassen, nur den Revolver behalten. Und ich hatte einen Schraubenzieher gefunden und eingesteckt.
Mit dieser lächerlichen Ausstattung gedachte ich, den übrigen drei Halunken das Handwerk zu legen.
Noch hatte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Wenn ich mich beeilte, mochte es mir gelingen. Und wenn ich Glück hatte. Wenn die anderen tatsächlich alle noch auf der Brücke waren. Wenn die Überwachungskameras ausgeschaltet waren. Es gab noch eine ganze Menge anderer ›Wenns‹, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielten, aber ich ignorierte sie einfach.
Es mochte gelingen. Vielleicht gelang es auch nicht. Irgendwie war mir das jetzt nicht mehr so wichtig.