KAPITEL 25

Es war eng und stickig in der beklemmenden Röhre des Piratenraumschiffes, und man fror und schwitzte gleichzeitig und hatte dabei das Gefühl, dicht vor einem Schreikrampf zu sein. Wir waren wahrscheinlich richtiggehend froh über die Ablenkung, als wir alle den Professor aus Cambridge, Großbritannien, anstarren konnten, der sich an dem roh eingeschweißten Guckloch festhielt und uns mit angriffslustig funkelnden Augen musterte.

»Wenn das einer Ihrer Scherze sein soll, Mister Jayakar«, sagte Moriyama streng, »dann habe ich diesmal die Pointe verpaßt.«

»Es ist kein Scherz«, versicherte Jayakar. »Mir war nie weniger nach Scherzen zumute.«

»Wissen Sie, was Sie da sagen? Sie beschuldigen sich eines Verbrechens, für das Sie den Rest Ihres Lebens eingesperrt werden können, wenn wir zurück auf der Erde sind.«

»Keine Sorge«, meinte Jay leichthin. »Wir werden nicht zurückkommen.«

Ich räusperte mich und spürte, daß meine Kehle sich rauh anfühlte. »Wie?« fragte ich. »Wie haben Sie es gemacht, Jay? Mit dem Computer?«

Er nickte. »Selbstverständlich. Ich hatte die Software so manipuliert, daß die Steuerung nicht funktionieren konnte. Es waren sehr raffinierte Manipulationen, in aller Bescheidenheit, die unter anderen Umständen jahrelang hätten unentdeckt bleiben können und selbst dann immer noch leicht als versehentliche Programmierfehler durchgegangen wären. Niemand hätte je Verdacht geschöpft, und der Energiesender hätte nie wieder funktioniert.«

Moriyamas Miene hatte sich bei diesen Worten sichtlich verdüstert. »Darauf sind Sie wohl auch noch stolz, was?« knurrte er. »Was war mit Iwabuchi? Ist er Ihnen auf die Schliche gekommen?«

»Ich war mir nicht sicher, ob er Verdacht geschöpft hatte. Jedenfalls war mir klargeworden, daß er ein technisches Genie war und befürchtete, daß er etwas finden würde, wenn er sich die Programme wirklich vornahm. Als gestern die Idee aufkam, uns die Software gemeinsam vorzunehmen, mußte ich ihn auf heute vertrösten und die ganze Nacht über arbeiten, um meine kleinen Tricks wieder zu entfernen.«

»Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht zufällig Nachtwache gehabt hätten?«

»Ich hätte es vom Terminal in meiner Kabine aus gemacht.«

Tanaka schüttelte den Kopf. »Das Betriebssystem des Computers registriert jede Änderung an einem Programmtext und vermerkt die entsprechende Uhrzeit und das Datum. Daran hätte jeder Laie sehen können, daß Sie die Programme nachts überarbeitet hatten.«

»Das ist prinzipiell richtig«, lächelte Jayakar überlegen. »Aber letztendlich ist nichts von dem, was der Computer gespeichert hat, in Stein gemeißelt. Jede Information existiert nur als äußerst flüchtiges, magnetisches Abbild – auch Datumseinträge von Programmfiles. Bei der hervorragenden Kenntnis des Betriebssystems, die zu besitzen ich mir schmeicheln darf, ist es zwar mühsam, aber möglich, diese Einträge zu manipulieren. Sie werden nichts finden, und auch Iwabuchi hätte nichts gefunden.«

»Und Sie wollten«, mutmaßte Yoshiko, »die Programme mit Iwabuchi zusammen durchgehen, um dann, wenn Sie beide keine Fehlerursache entdeckt hatten, den vorherigen Zustand wieder herzustellen?«

»Ganz genau«, nickte der Kybernetiker.

Moriyama schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber um alles in der Welt, warum?« rief er. »Was für einen Grund hatten Sie für das alles?«

Jayakar hob die Augenbrauen und sah uns der Reihe nach an. Dann, anstelle einer Antwort, hob er in einer gespenstisch langsamen Bewegung seine rechte Hand zu einer Geste, die jeder von uns schon einmal gesehen hatte: die Hand zur Faust geballt, nur den Zeigefinger schräg abwärts gerichtet, hob sich und hob sich, bis der Arm ganz ausgestreckt war und aussah wie der langgestreckte Hals eines Straußvogels, der von seiner erhöhten Position aus versuchte, hinter den Horizont zu spähen.

»Meine Güte«, sagte jemand. »GREENFORCE.«

Greenforce. Ich studierte die Gesichtszüge des in Kalkutta geborenen Mathematikers, und plötzlich kam er mir absolut nicht mehr so harmlos und umgänglich vor. Jayakar war ein Greenforce-Agent, ein aktives Mitglied jener radikalen, gewalttätigen Splittergruppe der altehrwürdigen Greenpeece-Bewegung, die im Gegensatz zu dieser nicht auf pazifistische, sondern auf terroristische Vorgehensweise vertraute.

»Ganz recht«, nickte der Kybernetiker. »Und Sie brauchen dieses Wort nicht so verächtlich auszusprechen. Wir sind nicht die Öko-Terroristen, als die uns die Medien immer so gerne hinstellen; wir sind eher eine Art Fünfte Kolonne der Vernunft in einer vollkommen selbstmörderisch gewordenen Welt.«

»Greenpeace hat sich von Ihnen wiederholt distanziert«, meinte Tanaka »Nur mit friedlichen Mitteln kann eine friedliche Welt geschaffen werden.«

Jay lachte auf, aber es war eher ein verzweifeltes Lachen. »Entschuldigen Sie, Tanaka-san, aber die Greenpeace-Leute sind Träumer. Es geht nicht um eine friedliche oder unfriedliche Welt, es geht um das schlichte Überleben der Menschheit als Art, und wer immer noch nicht gemerkt hat, daß die Methoden von Mahatma Gandhi hier nichts fruchten, der tut mir leid. Wie war das letztes Jahr im Frühsommer? Tausende von friedlichen Demonstranten besetzen ein Schiff im Hafen von Rotterdam, die AMOCO TAN, werden Stunden später ebenso friedlich durch Polizisten von Bord geschafft, so daß das Schiff ungehindert auslaufen kann und dann jenseits der Hoheitsgrenzen seine Ladung – verdünnte, aber hochgiftige Chemieabfälle – ungestört mitten in der toten Nordsee von Bord pumpen kann. Und nun das Gegenbeispiel: ein einzelner Mann – meine Wenigkeit – arbeitet bei einer Tochterfirma der British Petroleum Company, und als er hochgeachtet und gut bezahlt ausscheidet, hat er in den weltweit vernetzten Computersystemen des Unternehmens Auswerteprogramme hinterlassen, die es BP unmöglich machen werden, noch ein einziges neues Erdölvorkommen aufzuspüren. Was über kurz oder lang den Untergang dieser Firma bedeutet.«

Es klang beeindruckend, wie er das erzählte, und ich glaubte ihm jedes Wort. Es war offensichtlich, daß wir diesen Mann bisher sträflich unterschätzt hatten. Wenn er jetzt mit einer Sammelbüchse und Einschreibeformularen herumgegangen wäre, hätte er gute Chancen gehabt, neue Mitglieder zu werben.

»Aber warum die Solarstation, Jayakar?« ächzte Moriyama. »Kein Kernkraftwerk, keine Giftmülldeponie… ausgerechnet die Solarstation – warum?«

»Weil die Solarstation«, erklärte Jayakar mit raschen, harten Worten, die er abfeuerte wie Salven aus einem Maschinengewehr, »ein gefährliches, größenwahnsinniges Projekt ist; ein letzter irrwitziger Versuch, die verfahrene Situation der Menschheit mit rein technischen Mitteln zu retten – ein Versuch, der alles nur noch schlimmer machen wird. Die Solarstation ist nichts weiter als eine neue Manifestation jenes Aberglaubens, der das Heil in technologischen Großprojekten sucht. Und das ist ein gefährlicher Aberglaube, vielleicht der verhängnisvollste überhaupt.«

»Sie sind verrückt.«

Jayakars Gesicht schien beinahe zu leuchten, glänzte von Schweiß und Angriffslust. Das hier waren keine seiner üblichen Witzchen. Das hier war sein heiliger Ernst. »Bitte, wir können auch gern mehr ins Detail gehen. Offenbar ist Ihnen nicht klar, in welch drastischem Maß die Solarstation in die Biosphäre eingreifen kann und dies bereits tut. Haben Sie eine Vorstellung davon, was für Energien hier im Spiel sind? Was diese Energien bedeuten? Da unten bei Hawaii ist nicht einfach nur eine Empfangsstation, dort ist ein ökologisches System mit all seinen vielfältigen Formen. Ich könnte Ihnen Fotos zeigen von Vögeln, die in den Übertragungsstrahl geraten sind und die regelrecht gebraten vom Himmel fielen. Nach jedem unserer Übertragungsversuche werden auffallend viele tote Fische an die Küste gespült. Fische, deren Körper nicht mehr Gift enthält, als heutzutage üblich ist – deren Muskelfasern aber weich und tot sind und bei der kleinsten Berührung zu Brei zerfallen. Und so könnte man immer weitermachen. Niemand hat je untersucht, welche Auswirkungen der Energiestrahl auf die Ozonschicht hat. Niemand hat je gefragt, ob die Luft dadurch chemisch verändert wird. Keinen interessiert der Elektrosmog, der den Strahl begleitet. Keine Fragen, keine Antworten. Nun, wir fragen – aber die Antworten, die wir erhalten, sind absolut unbefriedigend.«

»Schlagworte«, stellte der Kommandant grimmig fest. »Nichts als Schlagworte. Sie enttäuschen mich, Professor Jayakar. Wenn wir wieder auf der Erde sind, werde ich dafür sorgen, daß man Sie zur Rechenschaft zieht.«

Jayakar ließ die Sichtluke los und griff sich mit beiden Händen in den Nacken, um ihn zu massieren. »Kommandant, Sie verstehen immer noch nicht. Dabei ist es so einfach.«

»Dann erklären Sie mir es bitte so, daß ich es auch verstehe«, bat Moriyama gereizt.

»Nun gut.« Jayakar hielt mit seiner Massage inne und faßte den Kommandanten scharf ins Auge. »Welche Leistung kann die Solarfläche der NIPPON maximal erzeugen?«

»Rund ein Gigawatt.«

Jayakar nickte. »Ein Gigawatt. Eintausend Megawatt. Eine Million Kilowatt. Anbei bemerkt kann man die Kraftwerke auf der Erde, die eine vergleichbare Leistung erbringen, buchstäblich an den Fingern abzählen. Können Sie sich vorstellen, Moriyama-san, was passiert, wenn ein Energiestrahl mit einer Leistung von annähernd einem Gigawatt nicht auf einem dafür vorbereiteten Empfängergitter auftrifft, sondern statt dessen munter über Land und Meer wandert?«

»Es wäre eine Katastrophe, das weiß ich auch«, versetzte Moriyama ärgerlich. »Damit das nicht passiert, gibt es vielfach gestaffelte Schutzmechanismen, die den Strahl bei der kleinsten Abweichung einfach abschalten.«

»Ah ja«, nickte Jay. Und nach einer Weile fuhr er fort: »Das setzt voraus, daß sich fachkundiges und verantwortungsvolles Bedienungspersonal an Bord der Solarstation aufhält. Wie wir aber wissen, ist das gegenwärtig nicht der Fall…«

Ein Ausdruck jähen Begreifens tauchte in Moriyamas Gesicht auf. Seine Augen wurden größer und größer, während er den Mathematiker mit wachsendem Entsetzen anstarrte.

»Sie meinen doch nicht etwa, daß Khalid…«

»Allerdings meine ich das«, sagte Jayakar. »Was glauben Sie, aus welchem Grund er Professor Yamamoto entführt hat? Wozu er Tanaka und Kim verhört hat? Jemand wie Khalid braucht doch nicht die Hilfe eines alten Professors, um eine Lösegeldforderung zu stellen. Jemand wie Khalid ist doch nicht auf den Rat von zwei Ingenieuren angewiesen, um eine Regierung zu erpressen. Ja, er hat uns eine Menge wilder Geschichten von Lösegeld und Milliarden Dollar in Gold erzählt, aber ich bin überzeugt, daß das alles gelogen war. In Wirklichkeit weiß Khalid genau, daß die Solarstation, wenn er alle Sicherheitsmaßnahmen ausschaltet, sich in eine monströse, unglaublich gefährliche Waffe verwandelt. Und diese Waffe will er benutzen, darauf wette ich meinen rechten Arm.«

»Sonna bakana!« Tanaka verzog abfällig das Gesicht.

Moriyama schüttelte ganz unmerklich den Kopf, als bringe er zu mehr die Kraft nicht mehr auf. »Nein, Tanaka-san, er hat recht. Es wäre möglich. Er könnte die Sicherungen abschalten, und dann würde die Solarstation einen konzentrierten Mikrowellenstrahl aussenden, wohin auch immer er ihn richten würde, eine Million mal stärker als ein Mikrowellenherd.« Sein Atem ging plötzlich schwer. »Das wäre… verheerend.«

»Was würde passieren?« wollte Yoshiko wissen. Ihre Stimme klang erstickt.

»Genau kann ich es Ihnen nicht sagen, weil es noch nie ausprobiert worden ist«, erklärte Jayakar, »aber wenn Sie sich in Erinnerung rufen, was in einem normalen Mikrowellenherd passiert, dann können Sie es sich ungefähr vorstellen. Die NIPPON sendet ihre Energie mit prinzipiell genau den gleichen Mikrowellen, nur eine Million mal stärker. Selbst wenn man die Übertragungsverluste mit einrechnet, selbst wenn man berücksichtigt, daß der Strahl, wenn er auf die Erde auftrifft, eine Querschnittsfläche von einem Quadratkilometer hat, ist er immer noch absolut tödlich. Ein Mensch, der in den Bereich des Strahls käme, würde in kürzester Zeit sterben, weil das Wasser in seinem Körper explosionsartig anfangen würde zu kochen. Es wäre ein unsichtbarer, tödlicher Strahlenfinger, der unaufhaltsam und unablässig über Land und Meere streichen könnte und der eine grauenhafte Spur der Verwüstung in die Erde brennen würde.«

»Und Sie glauben wirklich, daß Khalid das vorhat?« fragte Yoshiko mit weit aufgerissenen Augen. »Warum?«

»Weil er«, meinte der Mathematiker freudlos, »die Rolle des geldgierigen Erpressers einfach unglaubwürdig spielt.«

»Finden Sie?«

»Ja. Erst tischt er uns diese Idee auf, ein Shuttle mit einer Ladung Gold kommen zu lassen, und dann unternimmt er plötzlich alle Anstrengungen, normalen Stationsbetrieb vorzutäuschen – anstatt sein Ultimatum so schnell wie möglich hinauszuposaunen. Warum? Da paßt nichts zusammen. Sein Verhalten erscheint unsinnig, solange man davon ausgeht, daß er Lösegeld erpressen will.«

»Aber was hat er davon?« überlegte Moriyama laut. »Was hat er davon, irgend jemand anzugreifen?«

»Darüber bin ich mir auch noch nicht im klaren«, gab Jayakar zu. »Ich habe keine Idee, wen er angreifen können wollte. Sicher ist nur, daß es jeder beliebige Ort auf der Erde sein kann – da die Solarstation sich auf einer Bahn über die Pole bewegt und sich die Erde sozusagen unter uns weiterdreht, wir also bekanntlich innerhalb von zwei Tagen jeden Fleck Erde einmal überflogen haben. Die Auswahl ist also wahrhaftig groß.«

»Ich weiß, was er vorhat«, hörte ich mich sagen.

»Wie bitte?«

»Ich weiß, was Khalid vorhat.«

Sie sahen mich alle an. Ich bot wahrscheinlich keinen besonders eindrucksvollen Anblick, wie ich mich da an die Sichtluke klammerte, durch die zuvor Jayakar geschaut hatte. Vermutlich war ich weiß wie eine Wand. Ich hatte hinausgespäht und etwas entdeckt, das alle Fragen beantwortete und alle Puzzleteile sich zu einem sinnvollen Bild zusammenfügen ließ. Es war etwas, das auch Jay schon hätte sehen können, aber nicht bemerkt hatte. Deswegen zitterte jetzt auch meine Magengrube und nicht seine.

Ich konnte nur wortlos hinausdeuten, und sie drängten sich alle um das eine Bullauge wie Gymnasiasten um das einzige Schlüsselloch zum Umkleideraum der Mädchen.

Die Japaner sahen es natürlich fast sofort.

»Die Fahne!« sagte Tanaka. »Sie ist nicht mehr da.«

Die japanische Fahne, die seit der Inbetriebnahme der Station an einem weit hinausragenden, dünnen Mast befestigt gewesen war, hing nicht mehr an ihrem Platz. An ihrer Stelle befand sich jetzt ein blutrotes Tuch mit weißen, kunstvoll verschlungenen Schriftzeichen.

»Was steht auf diesem Tuch?« fragte Moriyama. »Es sieht aus wie Arabisch.«

»Bismi llahi rachmani rachmini«, zitierte ich, ohne daß ich deswegen hätte hinaussehen müssen. Ich war mit einer Araberin verheiratet gewesen und hatte mir trotzdem nicht mehr als ein paar Brocken dieser schwierigen Sprache angeeignet – diese Worte aber kannte ich.

»Was heißt das?«

»Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen… Das ist die sogenannte Basmala, die Formel, mit der jede einzelne Sure des Korans beginnt. Und«, fügte ich hinzu, »es sind die Worte, die auf der Fahne der Dschijhadis stehen.«

»Tatsächlich!« stieß Jayakar hervor. »Sie haben die Fahne der Dschijhadis gehißt! Das heißt… das kann nur heißen…«

Ich nickte. Ich dachte an Fernsehbilder, die ich gesehen hatte, von einer großen weißen Stadt mit glänzenden Dächern, die in der flirrenden Hitze der Wüste lag, von ameisengleichen Panzern und Geschützen eingekesselt und von ihren Bewohnern mit Zähnen und Klauen verteidigt. Und ich dachte an einen kleinen schwarzhaarigen Jungen, der einst auf meinen Knien gesessen hatte und der über das Leben Bescheid wissen wollte und der seit Beginn der Belagerung mitten in dieser Stadt lebte, nicht weit von der Kaaba entfernt, dem schlichten, würfelförmigen Heiligtum, das Zentrum und Herz dieser Stadt war.

»Mekka«, sagte ich tonlos. »Sie wollen Mekka zerstören.«

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