Unsere Diskussion versandete ziemlich bald in unfruchtbaren Spekulationen. Gut, feststand, daß Khalid und seine Helfershelfer es offenbar für nötig befunden hatten, den geistigen Vater der Solarstation zu entführen und ihn mit in den Weltraum zu nehmen. Was sie nicht gewußt hatten – vielleicht hatten sie es auch gewußt, aber keine Rücksicht darauf genommen –, war, daß Yamamoto seit langem an einer chronischen Herzinsuffizienz gelitten hatte. Es war vorauszusehen gewesen, daß er die mörderischen Belastungen eines Raketenstarts nicht überleben würde. Khalid hatte die Raumstation erobert, aber er hatte niemanden mehr gehabt, der sich damit auskannte und wehrlos genug war, sein Wissen widerstandslos preiszugeben. Deshalb hatte er die Besatzung in zwei isolierten Gruppen untergebracht und Kim und Tanaka getrennt voneinander ausgefragt.
Was mir nicht ganz klar wurde, war, warum sich Khalid überhaupt so sehr für die technischen Einzelheiten der NIPPON interessierte. Schließlich reichte es für seine finsteren Zwecke doch völlig, wenn er die Funkanlage und die Waffen bedienen konnte, und für beides hatte er ja erstklassige Spezialisten mitgebracht. Schlichte Neugier wollte ich ihm jedenfalls nicht unterstellen – eher schlichtes Mißtrauen. Wahrscheinlich war es ihm unheimlich im Inneren der riesigen Maschinerie der Raumstation, von der er so wenig verstand und wir so viel. Allmählich wurde es tatsächlich wärmer im Inneren der Kapsel, aber die Luft wurde ebenso allmählich schlechter. Abgesehen von unseren eigenen Ausdünstungen stank es penetrant nach Öl, und an den nach wie vor eiskalten Außenwänden schlug sich Feuchtigkeit in Form von winzigen Wassertropfen nieder. Im Weltraum gibt es keine mittleren Temperaturen. Die Kapsel lag lediglich im Schatten ihrer eigenen Trägerrakete, und wir froren uns fast die Zehen ab. Wäre die Solarstation nur um wenige Grade geneigt gewesen, so daß die Sonne die dunklen Außenwände der Kapsel beschienen hätte, wir wären elend verschmachtet vor Hitze.
Tanaka und Kim lenkten sich mit einer in gedämpfter Lautstärke und auf Japanisch geführten technischen Fachsimpelei ab, während Moriyama sich auf einem Andrucksitz festgebunden und die Augen geschlossen hatte, zur Meditation vielleicht oder aus Gram. Jayakar hing an einem der winzigen Bullaugen und starrte hinaus, immer wieder den Beschlag abwischend. Und Yoshiko starrte nur die düstergraue Stahlwand an und rührte sich nicht.
Dieses Starren hatte ich schon einmal erlebt, aber das war an einem anderen Ort gewesen und bei einer anderen Frau. Es war einer jener Momente gewesen, die sich für alle Zeiten tief ins Gedächtnis, in die Seele, in das ganze Leben graben; einer jener Momente, aus denen sich Alpträume speisen und Selbstmordgedanken. Ich sah uns immer noch da stehen, Fatima und mich, im Wohnzimmer unseres Hauses in Huntsville, Texas, und sie starrte die Wand an, starrte sie einfach nur an. Das war der Moment, in dem das Schweigen Einzug hielt in unsere Ehe. Ich hatte ihr Herz gewonnen und ihre Hand, aber ich hatte sie nicht glücklich gemacht damit. Ich glaubte gewonnen zu haben, dabei hatte ich verloren. Sie war nicht glücklich mit mir, und es gab nichts, was ich hätte dagegen tun können.
Damals hatte ich nicht mehr gewußt, was ich sagen sollte, und ich hatte nichts gesagt. Vielleicht hätte ich es doch versuchen sollen. Vielleicht mußte ich es wenigstens jetzt versuchen. Zögernd und ungeschickt manövrierte ich mich näher.
»Hallo, Yoshiko«, sagte ich leise.
Erst schien es, als höre sie mich nicht, so fern und entrückt war ihr Blick. Dann wandte sie langsam den Kopf. »Hallo, Leonard-san.«
Ein herzzerreißend wehmütiges Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Fast schämte ich mich dafür, daß ich sie in diesem Augenblick begehrenswert fand. Bestimmt war ihr gerade überhaupt nicht danach zumute, begehrenswert auszusehen. »Eine dumme Situation, nicht wahr?«
Eine dumme Konversation, nicht wahr? Aber sie neigte zustimmend den Kopf und musterte mich dabei nachdenklich; so wie man jemanden mustert, an dem einem ganz neue Züge auffallen. Ich hoffte, daß es keine unangenehmen Dinge waren, die sie da an mir entdeckte.
»Was hast du da in der Hand, Leonard-san?« fragte sie.
Ich hob den zerknitterten Zettel, den ich seit einiger Zeit nervös zwischen meinen Fingern drehte. »Ein Brief von meinem Sohn. Ich lese ihn immer wieder…«
»Du hast mir nie viel von deinem Sohn erzählt«, meinte Yoshiko leise. »Ich weiß kaum, wie er heißt. Neil, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ja. Nach Neil Armstrong.« Ich lächelte verlegen. Daß das tatsächlich der Grund für die Namenswahl gewesen war, kam mir heute lächerlich vor.
Yoshiko schwieg, und ich wußte auch nicht, was ich sagen sollte. In meinem Hirn war Funkstille, völlige Leere. Man hätte in diesem Moment die Theorie der Schwarzen Löcher darin beweisen können.
»Vermißt du ihn sehr? Oder denkst du selten an ihn?«
»Ob ich ihn vermisse?« Einen Moment lang mußte ich fast lachen, und es wäre ein absurdes, bitteres Lachen gewesen. Ob ich ihn vermißte. Mein Gott, was für ein erbärmliches Wort für das, was ich empfand, wenn ich an ihn dachte. Ja, ich dachte tatsächlich selten an ihn. Ich dachte selten an ihn, weil sich immer, wenn ich an ihn dachte, ein Abgrund im Inneren meiner Seele auftat, ein alles verzehrender Mahlstrom, eine schwarze, unendlich tiefe Schlucht. Ich dachte selten an ihn, weil dann immer ein Gericht über mich zusammentrat und mich wieder und wieder schuldig sprach dafür, daß ich ihm ein schlechter Vater gewesen war, daß ich als Vater versagt hatte, daß ich ihn in diese feindliche Welt gesetzt und dann allein gelassen hatte. »Ja«, hörte ich mich sagen, »ich vermisse ihn sehr.« Ich hatte ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Bei meinem letzten Besuch in Saudi-Arabien war er sieben Jahre alt gewesen, dann hatte die arabische Regierung ein Einreiseverbot für Amerikaner verhängt, und schließlich war Krieg ausgebrochen.
Vermißte ich ihn? Ich kannte ihn doch kaum noch. Und er kannte mich kaum noch. Da war nur etwas in meinem Herzen, das weh tat und das ich trotzdem für Liebe hielt.
Yoshiko streckte die Hand aus, und ich reichte ihr den Brief. Sie faltete das Blatt mit ihren grazilen Bewegungen auf und las, was Neil geschrieben hatte in der krakeligen Handschrift eines Jungen, der seit Jahren hauptsächlich Arabisch schrieb. Als sie das Ende erreicht hatte, sah sie mich an, und ihre Augen glänzten feucht, wie von Tränen.
»Er liebt dich sehr«, sagte sie mit belegter Stimme.
Sie gab mir den Brief zurück, und als ich ihn wieder an mich nahm, begriff ich, daß zwischen uns immer nur Begehren gewesen war, ein Spiel zweier Erwachsener, aber nichts weiter. Ich war für sie der gaijin gewesen, den sie sich gönnte, und sie für mich die schöne, begehrenswerte Asiatin mit dem traumhaften Körper, eine Eroberung, auf die ein Mann stolz sein konnte. Aber wir hatten gerade einen Blick in unsere wahren Gesichter erhascht, und damit war das Spiel vorbei.
Im Grunde wußte ich nichts über Yoshiko. Sie hatte von ihrem Vater erzählt, der streng und aufbrausend und auf eine Weise den alten Sitten verhaftet war, die im modernen Japan fast grotesk wirkte, aber ich war nur froh gewesen, daß sie sich nach Freiheit sehnte und nicht nach Romantik. Sie konnte von Quasaren, Pulsaren und Protogalaxien schwärmen, aber ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Ich wußte, daß sie drei wesentlich ältere Brüder hatte, die Ingenieure und einflußreiche Bankiers waren, aber ich kannte nicht einmal ihre Namen. Ich steckte Neils Brief zurück in meine Tasche und fragte mich, ob ich überhaupt schon einmal eine Frau wirklich geliebt hatte. Im Augenblick kam es mir so vor, als ob Neil der einzige Mensch auf der Welt war, den ich liebte.
Tanaka und Kim hatten ihr Gespräch beendet, und eine Weile war es still in der Kapsel bis auf das asthmatische Surren der Luftversorgung.
Moriyama öffnete die Augen wieder, und sein Blick kreuzte sich mit dem von Jayakar, der sich gerade von seiner Sichtluke abgewandt hatte und uns alle nachdenklich betrachtete.
»Wie denken Sie inzwischen über meine Schuld, Kommandant?« fragte er halb spöttisch, halb ernst.
Moriyama wölbte fragend die Augenbrauen und räusperte sich.
»Ich habe Ihnen bereits zu erklären versucht, wie leid es mir tut, daß ich Sie ungerechtfertigt verdächtigt habe.«
Jayakar zögerte, dann schien er sich einen Ruck zu geben. »Ich muß Ihnen etwas gestehen«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Der Kopf des Kommandanten ruckte verblüfft nach vorn. »Sie müssen mir – was?!«
»Ihr Verdacht gegen mich«, bekannte Jayakar unbehaglich, »war nicht gänzlich ungerechtfertigt.«
»Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Professor?« fragte Moriyama gereizt.
Jayakar neigte den Kopf zur Seite. »Sie hatten unrecht, als Sie mich des Mordes an Iwabuchi verdächtigten«, erklärte er. »Aber Sie hatten recht, als Sie mich verdächtigten, der Saboteur zu sein. Ich war es tatsächlich.«