Moriyama schien regelrecht enttäuscht zu sein, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Er wird das Richtige tun«, sagte er in die angespannte Stille. »Ich weiß es.«
»Tanaka?« Jay ließ sein meckerndes Lachen hören. »Kommandant, Sie wissen genau, daß er das nicht wird. Jedenfalls nicht so, wie Sie sich das vorstellen.«
In Moriyamas Augen trat ein trüber Schimmer. »Wir müssen die Solarstation retten, und dabei dürfen wir keine Rücksicht auf unser eigenes Leben nehmen.« Er schien es eher zu sich selbst als zu uns zu sagen, wie eine Beschwörungsformel.
Jayakar und ich schwiegen.
»Vielleicht sollten wir einen Ausbruch versuchen, wenn das Schott das nächste Mal geöffnet wird«, überlegte Moriyama halblaut. »Sie sind immer zu zweit draußen, und wir sind zu dritt oder zu viert…«
»Und unbewaffnet«, meinte Jay trocken. »Und dieser Ralf macht auf mich den Eindruck, als würde er es nur zu gern mit einer ganzen Armee unbewaffneter Wissenschaftler aufnehmen.«
Moriyama legte seufzend die Hände auf die Augen und massierte seine Augenbrauen. »Sie haben recht. Es wäre Unfug.« Eine Weile war es still; eine niedergedrückte, mutlose Stille. Die chromblitzenden Stangen und Hebel der Kraftgeräte um uns herum schienen sich in die bizarren Gitterstäbe eines bizarren Gefängnisses verwandelt zu haben.
»Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen«, verkündete Moriyama schließlich. »Wecken Sie mich, falls sich etwas ereignet. Und wenn Ihnen etwas Konkretes einfallen sollte, was wir tun können, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«
Damit zog er sich in den Gang zu den Kabinen zurück, wo er nach kurzem Zögern in Kims Kabine verschwand.
Jay stierte eine Weile unschlüssig vor sich hin. Dann manövrierte er sich gemächlich hinüber zum Laufband, schnallte sich die elastischen Gurte um, die dazu da waren, den Läufer in der Schwerelosigkeit auf das Band zu drücken, und ließ den Motor mit der niedrigsten Geschwindigkeit laufen, so daß er nur eine Art gemütlichen Spaziergangs machte. Er harte mir einmal erzählt, daß er in Cambridge immer Spaziergänge unternommen hatte, wenn er gründlich nachdenken wollte.
»Was ist mit Ihnen, Carr? Haben Sie eine Idee? Ich nicht, muß ich zugeben.«
Ich musterte die zylindrischen Wände des Moduls, dachte an die endlose Leere dahinter und fand die Vorstellung immer noch tröstlich. »Ideen habe ich schon, aber sie laufen alle mehr oder weniger auf Selbstmord hinaus.«
»Unserem Kommandanten zufolge muß das ja kein Hinderungsgrund sein. Lassen Sie hören.«
»Zum Beispiel befinden sich im Depot des biologischen Labors zwei kleine, rosafarbene Gasbehälter, die hochwirksames Betäubungsgas enthalten und von denen bereits einer ausreichen würde, um die gesamte Station zu fluten.«
Der Kybernetiker stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Verlockende Vorstellung. Ich wußte nicht, daß wir so etwas an Bord haben.«
»Als Hausmeister weiß man so manches… Ab und zu brauchen wir Tiere im Labor, auch größere, Menschenaffen zum Beispiel. Wenn ein Tier ausbrechen sollte, könnte es sehr großen Schaden anrichten und sehr schwer zu finden sein – deshalb das Gas.«
»Und die Mannschaft müßte Raumanzüge tragen bei der Suche?«
»Eine Sauerstoffmaske würde reichen. Vier Stück liegen in der Schublade, in der auch die Gaspatronen aufbewahrt werden.«
»Fragt sich nur, wie einer von uns unbemerkt in die biologische Abteilung kommen könnte.«
»Genau«, nickte ich. »Das ist der schwache Punkt.«
Jayakar schwieg nachdenklich, während er gleichmäßig weiterlief. Irgendwann schaltete er das Laufband ab und schnallte sich wieder los, und danach wir hingen einfach nur herum und sahen der Zeit beim Verstreichen zu.
Später öffnete sich das Schott wieder, und sie brachten Tanaka zurück – bleich, aber wohlbehalten, wie es schien. Er tastete als erstes nach einem festen Halt. In manchen Situationen geht einem die Schwerelosigkeit, dieses Gefühl ewigen Fallens und Fallens, ziemlich auf die Nerven, und Tanaka sah so aus, als sei er ziemlich durch die Mangel gedreht worden.
»Na«, forderte Jayakar ihn dann auf zu erzählen, »was haben die mit Ihnen gemacht?«
Tanaka zuckte unschlüssig die Schultern. »Sie wollten Nachhilfeunterricht. Sie haben mich über die technischen Einzelheiten der Station ausgequetscht, wollten ganz genau wissen, wie man alles bedient… die Lebenserhaltungssysteme, das Radar, den Energiesender, die Transformatoren, die Schmelzanlage, die Montageplattform – einfach alles.«
»Kein Gespräch mit der Erde?«
Der stellvertretende Kommandant schüttelte heftig den Kopf, als befürchte er, wir würden ihm nicht glauben. »Nein. Darum ging es überhaupt nicht. Vielleicht haben sie auch gerade irgendwelche Probleme mit ihrem Funkgerät. Jedenfalls bastelte der blonde Mann, den sie Sven nennen, daran herum. Aber sie wollten mich nur ausfragen.«
»Und? Was haben Sie ihnen erzählt?«
»Alles, was ich wußte. Khalid erklärte mir, sie hätten vor mir bereits Kim befragt, und wenn sie mich bei einer Lüge ertappten, würden sie eine der Frauen erschießen.« Dabei warf er mir einen kurzen Blick zu, als wolle er prüfen, ob ich zusammenzuckte. Der blöde Kerl.
Jayakar wiegte nachdenklich den Kopf. »Merkwürdig. Sie haben die technischen Handbücher, sie haben Sakai… Was soll das?«
»Was glauben Sie, was die vorhaben?« wandte ich mich an Tanaka.
»Keine Ahnung.«
Moriyama war von den Geräuschen aufgewacht, die das Öffnen des Schotts verursacht hatte, und gesellte sich wieder zu uns. Er hörte sich an, was Tanaka berichtete. So ganz wach wirkte er allerdings noch nicht.
»Gab es irgend etwas, was sie speziell interessierte?« wollte er wissen.
»Nein«, schüttelte der Energieingenieur den Kopf. »Sie wollten einfach alles wissen. So, als wollten sie mich prüfen. Oder als wollten sie die Station nachbauen.«
»Na, darum geht es ihnen bestimmt nicht«, meinte der Kommandant grübelnd.
»Vielleicht sagen sie sich, wenn wir schon einmal hier sind, dann schauen wir uns auch die Sehenswürdigkeiten an?« versuchte Jay zu scherzen. »Reisen soll ja bekanntlich bilden…«
Moriyama ging nicht darauf ein. »Unsere Chancen werden immer besser, je länger es dauert«, überlegte er laut. »Irgendwann werden sie mich mit Tanegashima sprechen lassen müssen. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich morgen einen Besprechungstermin mit Akihiro. Das ist ein schlauer Fuchs, und wir kennen uns gut – möglicherweise kann ich ihm eine versteckte Botschaft zukommen lassen; ihn warnen, ohne daß Khalid etwas davon merkt.« Er starrte konzentriert vor sich hin, während er im Geist die verschiedenen Möglichkeiten durchging. »Aber das ist erst morgen. Das kann zu spät sein. Bis dahin kann der Shuttle schon gestartet sein…«
Er hielt inne, dann warf er mir einen jähen Blick zu. »Leonard – Sie werden die Erde warnen.«
Ich zuckte zusammen. »Ich?«
»Mir ist gerade eingefallen, daß der Shuttle auf keinen Fall starten wird, ehe der Versorgungsleiter nicht mit Ihnen die Ladeliste abgestimmt hat. Vor allem, nachdem das letzte Mal alles drunter und drüber gegangen ist.«
Ich starrte ihn an und suchte nach Gegenargumenten, aber er hatte recht. Moriyama hatte recht. Der letzte Versorgungsflug war alles andere als glatt verlaufen. Die Piloten hatten eine komplette Versuchseinrichtung vergessen auszuladen, und statt einer Kiste mit Pflanzenproben, die von Universitäten in aller Welt sehnsüchtig erwartet worden waren, hatten sie die Kiste mitgenommen, in der wir unsere MMUs verstaut hatten, unsere man manoeuvring units. Natürlich waren die Pflanzen inzwischen verdorben. Außerdem hatten sie die Hälfte des Abfalls dagelassen. Und eine Reihe von dringend benötigten Dingen – wie Pfeffer, Flüssigseife, Waschpulver, Aktivkohle – überhaupt nicht mitgebracht. Und so weiter. Unter Garantie würde kein Shuttle starten, ohne daß vorher ein geradezu generalstabsmäßiger Ladeplan besprochen wurde. Mit mir. Mir wurde flau im Magen.
»Was schlagen Sie vor, daß ich sage, wenn es soweit ist?« fragte ich gefaßt.
»Ich weiß nicht. Stellen Sie irgendwelche absurden Forderungen. Fangen Sie Streit an. Irgend so etwas. Etwas, das die unten zumindest glauben läßt, wir hätten den Verstand verloren.«
»Sakai wird dabeisein. Die anderen können nicht beurteilen, ob ich Unsinn rede, aber er kann es.«
»Hai«, nickte Moriyama schwer. Er sah mich einen unerträglich stillen Moment lang an, als suche er nach Worten, dann sagte er leise und wie unter Schmerzen: »Leonard – ich verlange nichts von Ihnen, was ich nicht selbst zu tun bereit wäre. Nicht einmal das verlange ich von Ihnen. Aber es geht um die Solarstation. Es geht um weit mehr als unser Leben.«
Eine halbe Stunde später kamen sie, um Kommandant Moriyama und mich abzuholen.