Ich nahm den Abfallsack mit in das gegenüberliegende Bordversorgungsmodul, sortierte seinen Inhalt in die verschiedenen Deponier-und Kompostiereinrichtungen, reinigte das Innere des Sacks und verstaute ihn im Vorratsbehälter. Tanaka fiel mir wieder ein.
Vielleicht war es an der Zeit, einmal auf der Brücke nach dem Rechten zu sehen.
Das Schott zur Steuerzentrale stand sperrangelweit offen, als ich dort ankam. Und es roch tatsächlich etwas merkwürdig. Tanaka hatte sich ungenau ausgedrückt: die Luft war nicht muffig oder abgestanden – sie war vielmehr von einem eigenartigen Geruch durchdrungen.
»Es ist besser geworden, seit wir lüften«, erklärte Tanaka. »Eine Zeitlang war es nicht auszuhalten.«
Ich schnüffelte, kam aber nicht darauf, woran mich der Geruch erinnerte. Es roch staubig, wie im Inneren einer Gruft, die seit Jahrhunderten nicht geöffnet worden war, gleichzeitig aber auch wie Holz, wie ein Lagerfeuer aus Sargbrettern. Merkwürdig. Ich glitt zu den Zuführungsschlitzen der Lüftung und strich mit den Fingern daran entlang. Kühle Luft wehte heraus, wie immer, und als ich mit der Nase näher kam, roch ich nichts Besonderes. Es war einfach ganz normale, frische Luft – soweit man im Zusammenhang mit unserer künstlich erzeugten, vielfach aufbereiteten, sauerstoffangereicherten Unterdruck-Bordatmosphäre von frischer Luft reden durfte.
»Alles normal«, sagte ich und überlegte.
Unter anderen Umständen wäre das kein besonders aufregender Vorfall gewesen, und ich hatte dergleichen auch schon oft erlebt. An Bord einer Raumstation gab es buchstäblich Tausende von möglichen Ursachen für eigenartige Gerüche, und die weitaus meisten davon waren harmlos. Zu den ernsteren Ursachen zählten schmorende Kabel oder durchbrennende Bauteile, aber das waren Gerüche, die man kannte und die sich auch in Funktionsstörungen niedergeschlagen hätten. »Funktionieren alle Geräte?« fragte ich trotzdem.
»Ja«, sagte Tanaka.
»Hmm«, machte ich. Ich war einigermaßen ratlos. Noch einmal glitt ich schnüffelnd die ganzen Kontrollpulte und Schaltschränke ab, in der Hoffnung, die Quelle des rätselhaften Geruchs ausfindig zu machen, bevor dieser sich ganz verflüchtigt hatte. Ohne Erfolg. Das Schott zum Büro des Kommandanten ging auf, und Moriyama streckte den Kopf heraus. »Sind Sie das, Leonard?«
»Ja.«
»Dieser Geruch – haben Sie eine Idee, woher der kommen könnte?«
»Bis jetzt nicht«, gestand ich. »Aber ich arbeite daran.«
Moriyamas Gesicht wirkte etwas verquollen. Vielleicht hatte er gerade ein Nickerchen gemacht. Es gingen Gerüchte, daß er sich manchmal zu diesem Zweck in seinem Büro einschloß.
»Halten Sie mich auf dem laufenden«, meinte er und wollte sich wieder zurückziehen.
» Sumimasen, Kommandant, diese Meldung kam vorher von NASDA«, rief Tanaka hastig und kam mit einem kleinen Blatt Papier angepaddelt, das er Moriyama reichte.
Der las, was darauf stand, und seine Miene verdüsterte sich. Sie wechselten ein paar Sätze in schnellem, für mich nahezu unverständlichem Japanisch, dann meinte Moriyama: »Man kann nichts machen. Geben Sie es der Crew bekannt.«
Damit verschwand er wieder in seinem Verschlag.
Tanaka kehrte gemächlich zurück an seinen Platz. Er mußte meinen fragenden Blick im Rücken brennen gespürt haben, denn er drehte sich um, ehe er sich festschnallte, und erklärte: »Es gibt Probleme mit dem Shuttle. Der Start wird sich wahrscheinlich um mindestens eine Woche verzögern.«
Nun ja, auch das kam häufig vor. Da waren zunächst einmal die Wirbelstürme. Wirbelstürme liebten Japans Küsten. Wenn ein Taifun mit Windgeschwindigkeiten von zweihundert Stundenkilometern über den Osaki-Startkomplex hinwegdonnerte, dann war es nicht ratsam, ein Shuttle an der Startrampe stehen zu haben, geschweige denn zu versuchen, damit zu starten.
Selbst bei Windstille blieben so viele Möglichkeiten, die eine Startverzögerung verursachen konnten, daß man sich nachgerade wundern mußte, daß überhaupt jemals ein Shuttle von der Erde wegkam. Das reichte vom Auftreten handfester Funktionsstörungen beim Probelauf der Triebwerke über die Entdeckung von Haarrissen in den wichtigen Bauteilen, die routinemäßig mit Ultraschall untersucht wurden, bis hin zu verwaltungstechnischen Banalitäten wie dem verspäteten Eintreffen der zu transportierenden Fracht. Die Lieferanten, die die Raumstation belieferten, erstarrten inzwischen keineswegs mehr vor Ehrfurcht ob der Ehre, daß ihr Milchpulver, ihre Bananen, ihre Handtücher oder ihr Klopapier mit Millionenaufwand an den exklusivsten Arbeitsplatz der Welt transportiert wurden. Da wurde hart verhandelt und gefeilscht, und manchmal stellte es sich heraus, daß ein Einkäufer der NASDA Lieferanten mit etwas zu großzügiger Einstellung ausgewählt hatte, was Liefertermine anbelangte.
Und, alles in allem, es war ja nicht meine Ablösung, auf die wir warten mußten.
Tanaka machte eine entsprechende Durchsage über die Bordsprechanlage.
Währenddessen fiel mein Blick auf den großen Wandbildschirm mit der Weltkarte, auf dem ein großes Fadenkreuz den Punkt auf der Erdoberfläche markierte, den wir im Moment überflogen. Wir waren gerade über Neuseeland. Das hieß, wir mußten vor kurzer Zeit den Funkbereich der japanischen Post passiert haben…
Ich hangelte mich rasch hinüber zu Sakai, der reglos an den Kommunikationsanlagen saß, die Kontrollen im Auge behielt und dabei die Gelassenheit eines schlafenden Ochsenfrosches ausstrahlte. Mit seinem schütteren Haar erinnerte er mich an einen Zen-Mönch bei einer Meditationsübung, und er ließ mit keiner Miene erkennen, ob er meine Annäherung registrierte. Vielleicht meditierte er tatsächlich. Mein hoffnungsvoller Blick erspähte einige Faxe, die neben ihm in einer speziellen Klammer an der Wand hingen.
Private Briefe an die Besatzungsmitglieder der Raumstation wurden per Fax übermittelt. Im Prinzip konnte uns jeder schreiben – die Raumstation hatte sogar eine eigene Postleitzahl –, aber in der Praxis war es eine Sekretärin der NASDA, die alle Briefe öffnete und diejenigen aussortierte, die tatsächlich an Bord übertragen wurden, wenn die NIPPON in den japanischen Funkbereich kam. Alle übrigen Briefe bekamen wir nach der Rückkehr auf die Erde in einem mehr oder weniger handlichen Bündel überreicht. Wir blieben also von Werbesendungen und anderer Alltagspost verschont; nur die Briefe eines von uns zu benennenden Personenkreises – und gegebenenfalls termingebundene Mitteilungen wie Zahlungsbefehle, Mahnungen oder dergleichen – erreichten uns direkt. Eine der zahllosen Unterschriften, die vor jedem Start zur Raumstation zu leisten waren, bestätigte unsere Einwilligung zu dieser teilweisen Aufhebung des Fernmeldegeheimnisses. »Haben Sie Post für mich, Sakai-san?« fragte ich. Jeden Tag fragte ich, und jeden Tag wurde ich enttäuscht.
Auch heute war ein ganz normaler Tag.
»Tut mir leid, Leonard-san«, entgegnete Sakai gleichgültig.
Es gab mir einen Stich. Es gab mir immer einen Stich, und er ging von Tag zu Tag tiefer. Und es machte mir angst.
»Danke«, sagte ich, obwohl mir eher nach Schreien zumute war.
Mein Blick blieb an einem träge glitzernden Tropfen hängen, der am Schaltschrank neben Sakais Kommunikationseinrichtungen hing, ungefähr in Kniehöhe, genau in der Ritze zwischen zwei Schalttafeln. Er sah aus wie Kondenswasser. Kondenswasser? In unserer chronisch zu trockenen Bordluft? Ich löste meinen Clip von der Brust und fing den Tropfen vorsichtig damit auf.
Er hatte eine eher ölige Konsistenz, und als ich daran schnupperte, roch er auch irgendwie… ölig. Er blieb gut an meinem Namensclip haften.
»Was ist hinter diesen Schalttafeln?« fragte ich.
Sakai musterte mich unwillig. »Die Reservesteuerung für die Montageplattform, ein Reservecomputer zur Meßdatenauswertung – lauter Reservegeräte.«
»Kann man sie aufschrauben?«
»Sicher«, erwiderte er trocken. »Wozu wären sonst all die Schrauben da?«
Tanaka mischte sich ein und wollte wissen, was ich gefunden hatte. Ich zeigte ihm den Tropfen auf meinem Clip.
»Mich interessiert, woher der kommt«, erklärte ich. »Er scheint hier aus der Ritze herausgequollen zu sein.«
»Sie glauben, er kommt aus einem der Geräte?«
»Vielleicht.«
Tanaka musterte mich zweifelnd. Eigentlich musterte er mich, wenn ich zurückdachte, fast immer zweifelnd – gerade so, als frage er sich, was jemand wie ich an Bord dieser Raumstation, unter all diesen fähigen und intelligenten Menschen, verloren hatte.
Was ihn in diesem Augenblick zweifeln ließ, war meine Idee, die Schalttafeln abzuschrauben. Man schraubte nicht einfach Schalttafeln ab. Wie dies zu geschehen hatte, dafür gab es genaue Vorschriften; es gab Handbücher und technische Dokumentationen, die vor einem solchen Schritt zu konsultieren waren, die Arbeit mußte ferner von einem zugelassenen Raumingenieur ausgeführt werden, und beim Wiedereinbau galt es eine Fülle von Sicherheitsvorkehrungen zu beachten, Checklisten waren abzuhaken und dergleichen. Kurzum, mein Vorhaben war eines, das einen hochqualifizierten, hochbezahlten und wichtigen Mann wie zum Beispiel Iwabuchi, Tanaka oder Sakai mehrere Stunden in Anspruch nehmen würde.
»Ist Ihnen klar, was das für ein Aufwand wäre?« fragte Tanaka also. Seine Nasenflügel bebten dabei nervös. Alles an diesem Mann schien dünn und nervös zu sein.
»Ja.«
»Was rechtfertigt diesen Aufwand?«
Tja. Das wußte ich auch nicht. Ich hatte keinen logisch stichhaltigen, rational zwingenden Grund vorzuweisen. Es war nur ein Gefühl, nur… dai rokkan.
»Ich weiß nicht, ob der Aufwand zu rechtfertigen ist«, gestand ich. »Nicht, ehe wir die Tafel abgeschraubt haben.«
Tanaka sah mich an, als habe er es mit einem tollwütigen Schimpansen zu tun. »Sonna bakana!« zischte er durch die geschlossenen Zähne. »Die Schalttafeln bleiben, wo sie sind, wakatakka?«
»Hai«, nickte ich ergeben. Er war der Boß. Zumindest der zweite Boß.
»Wahrscheinlich«, warf Sakai ein, »handelt es sich um einen Tropfen meines Hautöls.« Wir sahen ihn überrascht an, und er wirkte ungewöhnlich nervös, als er Tanaka gegenüber eine devote Verbeugung andeutete und an ihn gerichtet fortfuhr: »Domo sumimasen. Als Sie vorhin im Maschinendeck waren, habe ich für einen kurzen, aber selbstverständlich unentschuldbaren Moment meinen Posten verlassen, bin in meine Kabine gegangen und habe mir Gesicht und Hände eingecremt. Ich wollte diese nichtswürdige Verfehlung gestehen, ehe aufwendige, aber sinnlose Maßnahmen eingeleitet werden.«
Die verschraubten Phrasen japanischer Höflichkeit faszinierten mich immer wieder.
»Nun, Carr«, meinte Tanaka, schon weit weniger höflich – aber ich war ja auch nur ein blaßgesichtiger, ungehobelter gaijin –, »da hören Sie es. Hautöl. Ich denke, damit ist der Fall erledigt.«
»Hai, Kommandant«, nickte ich. Den Clip mit dem fraglichen Tropfen in der Hand, verließ ich ohne ein weiteres Wort die Brücke. Mein Ziel war das materialwissenschaftliche Labor im Maschinendeck. Dort wußte ich Dr. Chong Woo Kim von der Universität von Seoul. Kim hatte eines der modernsten Analysegeräte, das für Geld zu kaufen war, in seinem Labor stehen, und er würde mir sicher den Gefallen tun, den Tropfen zu analysieren.
Und fuck you, Kommandant Isamu Tanaka, wenn es etwas anderes war als Hautöl!