Die Raumstation ist ein Gebilde, zusammengesetzt aus zahlreichen zylinderförmigen Modulen, die jeweils eine Länge von maximal dreizehn Metern und einen Durchmesser von etwas mehr als vier Metern haben: genau die Dimensionen, die es erlauben, ein solches Modul fertig vormontiert mit einem Spaceshuttle in die Erdumlaufbahn zu transportieren. Das Herz der Station ist der sogenannte Knotentunnel, zwei Module, die der Länge nach aneinander befestigt sind und deren Verbindungsstelle besonders verstärkt ist, weil sie außerdem noch die gesamte, riesige Sonnenfläche trägt. Der Knotentunnel ist das, was in einem irdischen Gebäude das Treppenhaus wäre. Er ist zum größten Teil leer, bis auf einige kleinere Wandschränke oder in unwichtigen Ecken befestigte Gerätschaften, und ist durch insgesamt drei quer zu seiner Längsrichtung verlaufende Rippen versteift. Von diesem Tunnel, der die Längsachse der Station darstellt, führen Druckschotte in die verschiedenen Labor- und Wohnmodule. Diese Druckschotte sind normalerweise geschlossen, öffnen sich jedoch automatisch, wenn man sich ihnen nähert. Lediglich falls die Sensoren einen Druckabfall in einem der Module registrieren würden, würde das entsprechende Schott vom Computer verriegelt werden.
Das ist ein Grundprinzip jeder Raumstation, das aus der Seefahrt stammt. Man muß immer mit der Möglichkeit rechnen, von einem größeren Meteoriten getroffen zu werden, und bereits ein Gesteinsbrocken von der Größe eines Daumengliedes – was, wie man hinzufügen muß, extrem selten vorkommt – könnte bei den für diese himmlischen Geschosse üblichen Geschwindigkeiten enorme Beschädigungen anrichten. Wenn aber ein Leck in einer Außenwand entsteht, durch das die Atemluft ins All entweicht, kann durch Schließen der Schotte wenigstens der Rest der Station gerettet werden.
In der Schwerelosigkeit stellt der Gleichgewichtssinn seine Funktion zum größten Teil ein, was zur Folge hat, daß es keine Unterscheidungen zwischen oben und unten gibt. Das Auge dagegen (das unter Schwerelosigkeit interessanterweise sogar besser funktioniert) versucht nach wie vor, sich an gewohnten Strukturen zu orientieren. An Bord der NIPPON neigte man automatisch dazu, die große Solarfläche als ›Ebene‹ wahrzunehmen, über die sich die eine Hälfte der Station erhebt, während die andere Hälfte sich darunter zu befinden scheint. Ganz ›oben‹ war für uns das Crewdeck. Hier war das Modul angeflanscht, das die Steuerzentrale enthielt (die meistens ›Brücke‹ genannt wurde in Anlehnung an die Seefahrt), außerdem die beiden Wohnmodule. Das vierte Modul fehlte; während die beiden Wohnmodule einander genau gegenüber lagen, gab es gegenüber der Brücke nur einen kurzen Stummel, an dem zwei Manipulatorarme befestigt waren, die auf Sicht gesteuert werden konnten. Man benutzte sie meistens, um die Shuttles auszuladen, die an die Raumstation andockten. Die Koppelschleuse hierfür befand sich an der Stirnwand des Knotentunnels.
Das nächste Deck war das Labordeck. Hier waren alle Ausbaumöglichkeiten ausgeschöpft; vier Module ragten in alle vier Himmelsrichtungen. Das Modul, das unter den Manipulatoren lag, also dem Sonnenlicht fast voll ausgesetzt war – im Gegensatz zu den anderen Modulen, die im Schatten der darüberliegenden Wohnzylinder lagen –, beherbergte das biologische Labor, in dem Versuche an Pflanzen und Tieren vorgenommen wurden. Zur Zeit hatten wir zwar keine Tiere an Bord, aber es gab eine Menge Käfige und Instrumente für entsprechende Versuche. Ein großer Teil der übrigen Laboratorien befaßte sich mit Mikrogravitations-Forschung.
Etwas anderes, das man für viele wissenschaftliche Zwecke brauchen kann und das man im Weltraum praktisch kostenlos zur Verfügung hat, ist ein Vakuum von hervorragender Qualität. Am Ende eines der Module befand sich für Versuche im Vakuum eine freie Plattform, die über eine Schleuse bestückt und mit einem kleinen Manipulatorarm bedient werden konnte. Abgesehen davon brachte fast jedes Shuttle neue Versuche und die dazu erforderlichen Geräte mit; das zog immer ausgedehnte Umbauten in den Laboratorien nach sich und natürlich entsprechende Revierkämpfe zwischen Wissenschaftlern der verschiedenen Disziplinen. Zur Zeit beherbergten wir kleine Laboratorien für Strahlenphysik und Atmosphärenforschung.
Das nächste Deck war das Maschinendeck, und das lag nun schon ›unterhalb‹ der Solarfläche – ›auf der dunklen Seite‹, wie wir zu sagen pflegten. Wenn man dort aus dem Luk schaute, war wirklich alles dunkel: kein Sonnenlicht erreichte diese Module, es war praktisch nur die Nachthälfte der Erde zu sehen, und die riesige Rückseite der Solarfläche war von erdrückend stumpfem, bleigrauem Glanz. Auch hier gab es vier Module. In einem waren die Anlagen zur Versorgung der Station mit Atemluft und Wasser untergebracht (natürlich gab es außerdem in jedem einzelnen Modul entsprechende Notaggregate, die so ausgelegt waren, daß sie das Überleben der Besatzung bis zum Eintreffen eines Rettungsshuttles ermöglichen konnten), in einem zweiten die Aggregate, die mit der Erzeugung der Sonnenenergie und der Übertragung auf die Erde zu tun hatten. Ein Modul beherbergte die Anlage, mit der die Solarfolie hergestellt werden konnte. Und es gab auch ein Labor hier, nämlich das zur Erd- und Raumbeobachtung. Die Raumstation bot jedoch, seit die Solarfläche so über alle Maßen gewachsen war, daß sie nun, egal wo man aus dem Fenster sah, die Hälfte des Sichtfeldes in Anspruch nahm, keine besonders guten Bedingungen für entsprechende Forschungsarbeiten. Sie waren auf der dunklen Seite untergebracht, weil auf der hellen Seite der Raumstation der strahlendweiße Glanz der Solarfläche die Beobachtungen noch mehr beeinträchtigt hätte. Für Beobachtungen des tieferen Weltraums stand ein fernsteuerbares Radioteleskop zur Verfügung, das in etwa zehn Kilometer Entfernung frei im Raum schwebte. Ich hatte allerdings noch nicht gehört, daß irgend jemand damit irgendwelche besonders aufregenden Dinge entdeckt hätte; die Beobachtung war wohl doch eher ein ungeliebtes Stiefkind der Raumstation.
Am unteren Ende des Knotentunnels war der Turmausleger befestigt, ein fragiles, kirchturmgroßes Stahlrohrgebilde, an dessen Ende wiederum der Energiesender saß. Man hätte noch eine vierte Ebene einrichten können, bisher war dies aber noch nicht geschehen. In der ›untersten‹ Ebene gab es nur eine kleine Mannschleuse, ansonsten waren die entsprechenden Anschlußstellen des Knotentunnels noch verschlossen. Wir bewahrten die Raumanzüge hier unten auf, weniger aus praktischen Überlegungen heraus als vielmehr infolge unserer Platzprobleme. Abgesehen von dem einigermaßen geräumigen Knotentunnel fühlte man sich überall in der Raumstation, als krabble man von einem überfüllten Camping-Wohnwagen in den nächsten.
Als ich das Versorgungsmodul erreichte, in dem ich auch meine Reinigungsgeräte aufbewahrte, fand ich Tanaka vor, den stellvertretenden Kommandanten. Er verharrte vor den Anzeigekontrollen der Bord-Luftversorgung und studierte sie mit einer merkwürdig unangemessenen Intensität. Vielleicht war es aber auch nur ein Vorwand, um meine Anwesenheit ignorieren zu können. Seine Familie stammte ursprünglich aus Nagasaki, und er war auf Amerikaner nicht gut zu sprechen. Ich öffnete den Wandschrank und holte den Dampfreiniger heraus sowie eine Anzahl von Wischtüchern und einen Beutel für Abfälle, den ich am Gürtel befestigen konnte. Tanaka starrte noch immer auf die Kontrollen. Vielleicht hatten sie ihn hypnotisiert. Außerdem, zum Teufel, was hatte er hier unten eigentlich zu suchen? Er war Operator für Energiesysteme, und die Lebenserhaltungsaggregate waren verdammt noch mal mein Gebiet.
»Stimmt etwas nicht, Sir?« fragte ich.
Er wandte den Blick von den bunten Leuchtbalken ab und sah mich an, und er schien nicht ausgesprochen glücklich, mich zu sehen. »Die Luft auf der Brücke«, begann er zögernd. »Sie ist… stickig. Woran kann das liegen?«
Stickig? Es klang, als hätte er eigentlich nach einem anderen Wort gesucht, das ihm aber nicht eingefallen war.
In Gedanken ließ ich das komplexe Geflecht der zur Bordversorgung gehörenden Atemluftleitungen vor meinem inneren Auge vorüberziehen. Es gab tausend Dinge, an denen das liegen konnte. »Haben Sie Zirkulation auf der Brücke?« fragte ich.
»Zirkulation?«
»Ich meine, kommt Luft aus den Gittern der Klimaanlage?«
Tanaka zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein und stieß sie wieder aus. Er sah aus wie der typische karrierebesessene Japaner, mager, nervös und immer angespannt. »Ich weiß nicht«, gestand er.
Ich glitt näher und ließ meinen Blick über die Kontrollinstrumente gleiten. Luftdruck war überall normal, Durchfluß ebenfalls, die Temperatur war in Ordnung, und alle Querventile waren geöffnet. Es gab keinen sichtbaren Grund, warum die Luft in der Steuerzentrale stickig sein sollte und sonst nirgends. »Ich kümmere mich darum, Sir«, meinte ich schließlich. »Hier ist nichts außergewöhnlich. Ich komme nachher auf die Brücke und schau es mir an.«
»Das wäre sehr freundlich«, nickte Tanaka. Ohne ein weiteres Wort hangelte er sich an mir vorbei und glitt hinaus.
Ich starrte selber noch eine Weile auf die Kontrolltafel. Die Bordversorgungssysteme waren robust und ausgereift und hatten einen Perfektionsgrad erreicht, von dem die Astronauten der ersten Raumflüge nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Es war in den letzten Jahren kein Fall mehr bekanntgeworden, in dem die Lebenserhaltungssysteme irgendwelche ernsthaften Probleme bereitet hätten.
Würde ein Saboteur an der Versorgung mit Atemluft herumfingern? Welchen Sinn konnte so etwas haben? Schließlich hing sein eigenes Leben ebenso davon ab wie das unsere.
Ich griff nach meinem Dampfreiniger, der immer noch in der Nähe des Schotts durch die Gegend schwebte, und fing die umherdriftenden Wischtücher wieder ein. Zwecklos, sich verrückt zu machen. Ich betätigte den Schalter, der das Schott auffahren ließ.
Draußen fing mich Yoshiko ab. Schon beim Herunterkommen war mir aufgefallen, daß das Schott zum Raumbeobachtungslabor offengestanden hatte; sie mußte mich bemerkt haben.
»Und?« wollte sie wissen. »Was hat Moriyama gesagt?«
»Daß ich mehr putzen soll«, log ich trocken.
Sie sah mir mißtrauisch ins Gesicht. »Es ging nicht um uns?«
Ich hielt ihrem Blick stand. Ich kann gut lügen, wenn ich es drauf anlege. »Das dachte ich zuerst auch, aber er hat es mit keinem Wort erwähnt. Dafür hat er mir eine Liste vor die Nase gehalten, so lang wie mein Unterarm, was er alles am Zustand der Station zu bemängeln hat.«
»So desu ka? Na ja, um so besser.«
Ich beschloß, das Thema zu wechseln. »Was treibst du gerade?«
»Ach, ich starre mit dem Radioteleskop Cygnus A an und finde nichts, was nicht schon tausend Leute vor mir gefunden haben«, meinte sie geistesabwesend. »Ich hänge grade ein bißchen durch, was meine Arbeit betrifft.«
»Das kann ich mir leider nicht erlauben. Aber vielleicht hast du ja Lust, mir zu helfen?«
Sie lächelte ihr sanftes asiatisches Lächeln. »Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht…«
Ich konnte sie nicht ansehen, ohne daß mein Körper sich an unsere gemeinsamen Ekstasen erinnerte. Aber es war eine unausgesprochene Regel unserer Beziehung, daß die Initiative von ihr ausgehen mußte.
»Na ja«, sagte ich mit unbeholfenem Lächeln. »Ich muß an die Arbeit.«
»Ja«, erwiderte sie. »Ich wohl auch. Mata.« Wenigstens einen Kuß hätte sie mir geben können. Wenigstens eine kurze Berührung. Aber sie angelte nur nach dem nächsten Haltegriff, warf mir einen letzten Blick zu und schwebte davon, und ihr herrliches langes Haar wirbelte hinter ihr her, als wäre sie Arielle, die Meerjungfrau.
Also gut, ich wußte ja, daß Yoshiko außerhalb des Liebesnestes niemals küßte. Und außerdem hatte ich jetzt wirklich andere Sorgen. Ich öffnete das Schott zum Solarenergiemodul, wo ich Iwabuchi wußte.