Als ich erwachte, war es still um mich herum, so, als wäre alles, was geschehen war, nur ein böser Traum gewesen. Dann spürte ich den brennenden Schmerz in meinem rechten Arm, und alles fiel mir wieder ein, während meine linke Hand die Wunde abtastete.
Es tat höllisch weh, und mein Overall war blutverschmiert, aber inzwischen schien das Durchschußloch nicht mehr zu bluten. Während ich mich langsam um mich selbst drehte, entdeckte ich einen regungslos treibenden blauen Raumanzug am unteren Ende des Knotentunnels. Sehr gut. Ich hatte ihn also doch erwischt. Dann fielen mir die roten Warnlampen über allen Schotten auf, die die immer noch bestehende Alarmblockade anzeigten. Sehr lange konnte ich nicht bewußtlos gewesen sein. Wahrscheinlich war es der Schmerz im Arm gewesen, der mich geweckt hatte. Außerdem konnte man in der Schwerelosigkeit ohnehin nicht sehr lange ohnmächtig bleiben, da das Blut ohne Schwerkraft dazu tendiert, sich in der oberen Körperhälfte anzusammeln, vor allem im Kopf.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Meine Bewußtlosigkeit konnte nicht länger als ein paar Minuten gedauert haben. Es waren noch vierzig Minuten bis Mekka. Ich hatte den Wettlauf mit der Zeit mit haushohem Vorsprung gewonnen.
Ein salziger, tauber Geschmack im Mund ließ mich prüfend ins Gesicht fassen. Meine Nase schien geblutet zu haben, wahrscheinlich infolge des plötzlichen Druckabfalls. Ich sah mich nach dem Einschußloch um. Es war ungefähr so groß wie eine Dollarmünze, und inzwischen hatte sich eine grauschwarze, wulstige Masse darin gebildet, die zwar aussah wie eine häßliche Krankheit, die das Loch aber wirksam abdichtete. Alle Außenwandungen der Solarstation waren in doppelschaliger Bauweise ausgeführt, und in den beiden Schalen befanden sich zwei verschiedene Komponenten eines Kunststoffes, die für sich genommen von flüssiger bis geleeartiger Konsistenz waren. Durchschlug nun ein Meteorit – oder eine Pistolenkugel – die Wandung, flossen die beiden Komponenten durch die dabei geschaffene Öffnung zusammen und verbanden sich zu einem zähen, stabilen Endprodukt.
Mir fiel wieder ein, daß akuter Handlungsbedarf bestand. Es war noch nicht ganz geschafft. Jeden Augenblick konnte die Alarmblockade der Schotten wieder aufgehoben werden. Jeden Augenblick konnte das Brückenschott wieder auffahren, und dann würde ich mich den letzten beiden Piraten gegenübersehen, die beide bewaffnet und höchstwahrscheinlich nicht gut auf mich zu sprechen waren.
Ich fing den Schraubenzieher ein, mit der linken Hand, dann schraubte ich mit zitternden Fingern die Klappe des Wartungsluks vollends ab. Ein Griff, und das Schott zur Brücke war lahmgelegt. Ein weiterer Griff kappte die Stromversorgung, und schließlich zog ich noch den breiten Stecker der Steuerleitungen. Fertig. Jetzt saßen Sven und Sakai im Dunkeln, blind, taub, stumm und machtlos.
Ich spürte die Erleichterung in allen Zellen meines Körpers. Es war vollbracht. Das Unglaubliche war vollbracht. Ich hatte die Piraten besiegt, die ersten Verbrecher, die jemals eine Raumstation überfallen und gekapert hatten, und ich hatte den heimtückischen Angriff auf die Heilige Stadt des Islam verhindert, der zweifellos einen verheerenden Wendepunkt in der Geschichte dargestellt hätte. Und ich hatte meinen Sohn gerettet, und nur darauf war es mir im Grunde angekommen.
Ein paar Kleinigkeiten waren noch zu regeln. Ich ließ mich geruhsam hinübertreiben zur Steuerung der Manipulatorarme, schnallte mich an dem ausklappbaren Sitz fest und schaltete das Steuerpult ein. Durch die Sichtluken sah ich Spiderman, der noch immer auf der Plattform vor dem Mikrogravitationslabor saß und mit maschinenhafter Geduld auf den nächsten Auftrag wartete. Dann richtete ich meine Konzentration auf die dunkle, klobige Raumkapsel, die inzwischen leicht schräg an der Leine hing, mit einer Seite im direkten Sonnenlicht. Wahrscheinlich waren die anderen darin schon am Verschmachten.
Wenn ich das rechte Handgelenk direkt vor dem Steuerhebel auf das Pult legte und mich bemühte, die Muskeln des Oberarms nicht anzuspannen, dann tat es fast nicht weh, wenn ich die Hand benutzte. Ich fuhr einen der beiden Manipulatorarme aus und näherte ihn behutsam der Kapsel. Die Länge des Drahtseils war verblüffenderweise genau berechnet; die Kapsel hätte keine zwei Meter weiter entfernt sein dürfen, sonst wäre der Greifarm nicht lang genug gewesen.
Als ich die Greifzange erst einmal angebracht hatte, zog ich die Kapsel näher heran, bis dicht vor die Hauptschleuse. Dann blockierte das Drahtseil die Dichtungskupplung.
Seufzend wechselte ich zur Steuerung des zweiten Manipulatorarms. Das war zu erwarten gewesen. Ich packte das Seil und rollte es so auf, wie man widerspenstige Spaghetti aufrollt. Am liebsten hätte ich es einfach gekappt, aber die Greifarme verfügten nicht über irgendwelche Werkzeuge, und den Versuch, es einfach abzureißen, wollte ich nicht wagen. Aber schließlich gelang es mir, das Seil in den Spalt zwischen der Hauptschleuse und der Schleuse der Raumkapsel zu stopfen, so daß es nicht mehr im Weg war. Nun war nur noch ein halber Meter zu überbrücken, und das Kopplungsmanöver gelang auf Anhieb. Mit unüberhörbarem Schaben von Metall auf Metall rasteten die Kupplungen der beiden Schleusen ineinander ein, und dann schloß sich zischend der Dichtungsverschluß.
Den Rest überließ ich den anderen. Vielleicht war es doch nicht nur Erleichterung, was sich in allen Fasern meines Körpers breitzumachen begann; es schien auch ein Gutteil Erschöpfung dabei zu sein. Ich blieb einfach auf meinem Sitz hängen und wartete ab.
Moriyama war der erste, der an Bord kam. Die Innenluke der Hauptschleuse öffnete sich, ein wirres Bündel Stahlseil wurde aus der Öffnung gestoßen, und dann kam das graue Haupt des Kommandanten zum Vorschein. Er sah sich vorsichtig um und schien nicht wenig erleichtert zu sein, mich zu sehen und nicht einen von Khalids Männern.
»Carr!« rief er. »Sie leben noch?«
»Ja«, nickte ich. »Khalid ist tot, Ralf ist tot, und die anderen beiden sind auf der Brücke eingesperrt und wissen nicht, wie ihnen geschieht.«
»Und Sie sind verletzt.«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Er kam vollends aus der Schleuse. Yoshiko folgte ihm, dann Tanaka. Yoshiko sah ziemlich zerzaust und verschwitzt aus, und tatsächlich kam ein spürbarer Hauch stickiger, heißer Luft aus der Schleuse.
Ich berichtete so kurz wie möglich, was geschehen war. Meine Wunde begann, wie um mich Lügen zu strafen, schmerzhaft zu pochen, aber ich versuchte, nicht darauf zu achten.
»Das heißt«, faßte Moriyama zusammen, »wir müssen noch die Brücke zurückerobern. Das sollte kein großes Problem sein.«
Tanaka verzog das Gesicht. »Aber die beiden sind bewaffnet.«
»Wir auch.« Moriyama fing den Revolver ein, der immer noch taumelnd umhertrieb, neben dem Seil, den Schrauben und dem Deckel der Wartungsluke. »Und wir sind in der stärkeren Position. Wir werden die Brücke einfach mit reinem Stickstoff fluten, und kurz bevor sie ersticken, öffnen wir das Schott und überwältigen sie.«
»Haben sie nicht Raumanzüge an?«
»Ja, aber keine Helme.« Die Helme hatten die Piraten in ihrer Kapsel zurückgelassen.
Yoshiko war in das biologische Labor gegangen und hatte den Verbandskasten geholt. Sie war sehr blaß, als sie zurückkam, aber sie kümmerte sich trotzdem fürsorglich um meine Wunde. Inzwischen hatten auch Jayakar und Kim die Schleuse passiert. Moriyama wandte sich an seinen Stellvertreter. »Tanaka, Sie und Kim kümmern sich bitte um die Belüftung der Kommandozentrale. Leonard-san hat schon genug geleistet. Und besorgen Sie auch gleich ein paar Stricke, damit wir die Ganoven fesseln können, falls sie den Stickstoff überleben.« Er sagte das in einem Ton, als sei ihm das Schicksal der beiden letzten Piraten mehr als gleichgültig.
»Gehen Sie möglichst nicht ins materialwissenschaftliche Labor«, warf ich müde ein. Yoshiko hatte mir den Ärmel des Overalls aufgeschnitten und war dabei, die Einschußlöcher mit einer scharf brennenden Flüssigkeit zu desinfizieren.
Tanaka sah mich verwundert an.
»Warum nicht?«
»Es ist dort gerade etwas unaufgeräumt.«
Der Energieingenieur nickte, immer noch verständnislos, und setzte sich zusammen mit Kim in Bewegung. »Bringen Sie auch Khalids Revolver mit!« rief Moriyama ihnen nach.
Dann musterte der Kommandant mich aufmerksam. »Wir gehen jetzt kein Risiko mehr ein«, sagte er grimmig. Ich nickte nur matt, während Yoshiko anfing, meine Wunde zu verbinden. Schließlich hatte ich alle nur denkbaren Risiken bereits hinter mir, erledigt und abgehakt. Das einzige Risiko, das man jetzt noch hätte eingehen können, wäre gewesen, das Schott zur Brücke aufs Geratewohl zu öffnen und es auf eine wilde Schießerei ankommen zu lassen.
In diesem Augenblick hörten wir Tanaka von den unteren Decks her etwas rufen, was wir nicht verstanden. »Kommandant!« hörte ich heraus, und wir sahen ihn uns heftig zuwinken, wir sollten kommen.
Ich schnallte mich los und folgte den anderen, die sich eilig den Tunnel hinabhangelten. Und ich war noch nicht ganz unten, da verstand ich schon, was Tanaka so aufgeregt hatte werden lassen, und auch mir wurde plötzlich heiß und kalt zugleich.
Das, was ich vorhin für Khalids Leichnam gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur sein Raumanzug. Sein leerer Raumanzug. Khalid selbst war verschwunden.