KAPITEL 19

Tanaka fing wieder an, seine geschundene Unterlippe zu bearbeiten.

»Wieso? Denken Sie, das ist wichtig?«

»Darauf können Sie einen lassen, daß das wichtig ist«, erklärte Jayakar. »Das heißt nämlich, die Startverzögerung des Shuttles hat Khalid einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und es heißt, daß er Sie angelogen hat.«

»Angelogen?« echote Tanaka. Er verstand nichts. Er regte mich auf.

»Khalid wartet auf den Spaceshuttle«, erklärte ich mit mühsam gebändigtem Ärger. »Er hatte seinen Überfall so arrangiert, daß er kurz vor dem Shuttle hier eingetroffen wäre, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Er wollte die Station besetzen und kurz danach die Besatzung des ankommenden Shuttles überwältigen. Aber es ging nicht nach Plan, und jetzt muß er sich anstrengen, unten keinen Argwohn zu erregen, bis ihm der Shuttle in die Falle gegangen ist.«

»Aber wozu braucht er den Shuttle?« wunderte sich Tanaka.

»Um wieder zur Erde zurückkehren zu können!« rief ich. »Haben Sie einmal einen Blick auf das abenteuerliche Gefährt geworfen, mit dem er hier angekommen ist? Das ist doch nicht mehr als ein einigermaßen druckdichter Behälter mit Steuertriebwerken. Kaum ausreichend, um damit in die Umlaufbahn zu kommen – aber völlig ungeeignet, um damit zur Erde zurückzukehren: keine aerodynamische Form, kein Hitzeschild, kein Bremstriebwerk, keine Fallschirme. Selbst wenn er es fertigbrächte, sich damit auf den Rückweg zu begeben, würde er sang- und klanglos verglühen. Nein, Khalid braucht den Shuttle, sonst sitzt er hier fest.«

Tanaka sah mich an, dann Jayakar, dann wieder mich. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Immerhin war er Raumfahrer genug, um meine Argumente sofort zu kapieren. »Er wollte doch, daß der Shuttle Gold mitbringt«, überlegte er laut. »Wäre es da nicht angebracht gewesen, das Ultimatum so früh wie möglich zu stellen – ehe der Shuttle startet?«

»Das war die Lüge«, meinte ich.

»Welche Lüge?«

»Ich weiß nicht, warum er uns diese Geschichte erzählt hat«, sagte ich. »Aber in Wirklichkeit ist Khalid nicht an einem Shuttle voll Gold interessiert. Überlegen Sie mal, wie lange es allein dauern würde, Goldbarren im Werte von einer Milliarde Dollar heranzuschaffen und im Nutzlastraum des Shuttles zu verstauen. Wochen. Bis dahin wären wir hier oben am Verhungern.«

»Wahrscheinlich will er viel mehr Geld«, mutmaßte Jay. »Und er wird es sich auf irgendwelche dubiosen Konten bei irgendwelchen dubiosen Banken überweisen lassen, von wo es dann in undurchschaubare dunkle Kanäle verschwindet. Und erst wenn ihm seine Geldwäscher ihr Okay geben, macht er sich auf den Rückweg zur Erde.«

»Was Khalid nämlich großzügig unterschlagen hat, als er uns unseren luxuriösen Arbeitsplatz unter die Nase rieb«, gab ich zu bedenken, »ist, daß auch sein kühner Handstreich nicht allein Köpfchen, sondern auch eine Menge Geld gekostet haben muß – enorm viel Geld. Er mußte den europäischen Raketenstartplatz in Französisch-Guayana überfallen, um sich dort einer Rakete zu bemächtigen. Er mußte seine tollkühne Raumkapsel bauen. Er brauchte Raumanzüge – na gut, die hat er offenbar aus russischen Beständen, die werden so teuer nicht gewesen sein. Aber er muß noch jede Menge Spießgesellen in Kourou sitzen haben, und die wollen sicher auch ein Stück vom großen Kuchen. Da kommt er mit einer schlichten Milliarde nicht sehr weit.«

Tanaka sah mich an, und in seinen Augen sah ich schon wieder die wohlbekannte Verachtung für die Yankees und überhaupt alle Nicht-Japaner aufglimmen. »Na schön«, meinte er, »und was nützt uns diese Einsicht?«

Jayakar lächelte nur, und somit blieb es mir überlassen, zu antworten.

»Diese Einsicht«, erklärte ich mit einer Ruhe, die mich selber überraschte, »verrät uns, daß Khalid in einer sehr kritischen Situation steckt, solange der Shuttle noch nicht eingetroffen ist. Solange er seine Tarnung aufrechterhalten muß, kann er es sich nicht leisten, uns alle umzubringen – denn es könnte ja sein, daß jemand von der Erde einen von uns sprechen will. Sollte das der Fall sein, wird derjenige die sicher interessante Erfahrung machen, ein lockeres Gespräch fuhren zu müssen, während ihm die Mündung eines Revolvers in den Nacken gedrückt wird.«

»Also ganz einfach gesagt«, kam mir Jay nun doch noch zu Hilfe, »was immer wir gegen Khalid unternehmen wollen, wir müssen es tun, solange der Shuttle noch nicht da ist.«

Das begriff Tanaka. Besonders der Punkt, daß wir einstweilen relativ sicher waren, hatte ihm gut gefallen. Sein arroganter Gesichtsausdruck wurde ein wenig weniger arrogant, und er nickte.

»Derjenige, der diese Erfahrung machen wird«, mischte sich Moriyama ein, »werde wohl ich sein.«

Diesmal war die Reihe an mir, begriffsstutzig zu sein. »Welche Erfahrung?«

Der Kommandant machte eine unbestimmte Handbewegung. »Die, von der Sie gerade sprachen. Das lockere Gespräch. Der Revolver im Nacken.«

»Sie? Wieso?« Lange Leitung.

»Sie erwähnten«, wandte Moriyama sich an Jayakar, »daß Sakai versprach, mir etwas auszurichten. Was kann das gewesen sein? Doch wohl nur, daß jemand in Hawaii mich sprechen möchte. Also werden sie mich demnächst abholen, damit ich mit Hawaii spreche und dabei den Eindruck erwecke, alles sei normal.« Er machte eine bedeutsame Pause. »Und das ist die Chance.«

Während er das sagte, straffte sich sein Körper, als richte sich eine stählerne Feder in seinem Inneren auf. Mit einem Mal wirkte er zehn Jahre jünger, energiegeladen und zuversichtlich. Geradezu kamikazehaft zuversichtlich. Ich spürte einen Kloß in meinem Hals.

»Was haben Sie vor, Moriyama-san?«

»Den Revolver zu ignorieren. Die Erde zu warnen.«

»Sie werden sterben.«

»Dann werde ich eben sterben. Aber Khalid darf diesen Shuttle nicht in seine Gewalt bekommen.«

Mut. Ich hätte das sagen sollen. Ich, der ich einmal ein Sieger gewesen war. Aber irgendwann hatte ich aufgehört, ein Sieger zu sein und mich darauf beschränkt, nur noch überleben zu wollen. Ich schämte mich.

Einen Augenblick lang war es bedrückend still in dem engen Gang vor den Kabinen, in dem es nach nächtlichem Schweiß roch und nach ungelüfteten Schlafsäcken. Und nach Angst. Erst jetzt fiel mir auf, daß eine der Leuchtstoffröhren elend brummte. Wahrscheinlich würde sie demnächst ihren Geist aufgeben.

Im nächsten Augenblick hallten die inzwischen unverkennbaren kratzenden und zischenden Geräusche durch das Modul, die anzeigten, daß das Schott wieder im Begriff stand, geöffnet zu werden.

»Es ist soweit«, sagte Moriyama fest. »Laßt uns nach vorn gehen.«

Er hangelte sich den Gang entlang, und wir folgten ihm mit dem beklemmenden Gefühl, einen zum Tode Verurteilten auf dem Weg zum Schafott zu begleiten. Und er schien es kaum erwarten zu können, so kraftvoll schoß er davon.

Tanaka neben mir fing wieder an, nervös mit den Zähnen zu zischeln. »Sie werden uns alle töten«, hörte ich ihn murmeln. »Wenn sie erst in der Solarstation eingesperrt sind und kein anderes Druckmittel mehr haben…«

Wir hatten die Bodybuildinggeräte gerade erreicht, als die beiden Hälften des Schotts sich jammernd öffneten. Wieder einmal war es Ralf, der uns einen seiner Besuche abstattete. Er schwebte in der rechteckigen Öffnung wie ein Monster aus einem besonders widerlichen Videospiel, und seine Hand mit dem Revolver zuckte so bedenklich, als leide er schon unter Entzugserscheinungen, was das Umbringen von Leuten anbelangte.

»Wer von euch ist Tanaka?« krächzte er.

Wir sahen einander verblüfft an. Tanaka? Wieso Tanaka?

»Du«, fuhr er fort und deutete zielsicher auf den stellvertretenden Kommandanten. »Du bist Tanaka. Mitkommen.«

Tanaka riß entsetzt die Augen auf, und seine Stirn glänzte plötzlich naß vor Schweiß. Aber der Anblick der Waffe in Ralfs Hand und der unverhohlenen Bereitschaft in seinem Gesichtsausdruck, beim geringsten Anlaß hemmungslosen Gebrauch von ihr zu machen, wirkten ungemein überzeugend: er setzte sich ohne Widerspruch in Bewegung.

Das Schott schloß sich ächzend wieder, und wir übrigen blieben zurück mit einem Gefühl, als hätten wir gerade einer Deportation zugesehen.

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