Ich wich zurück, und Khalid setzte mir nach, mit heftigen, watenden Bewegungen. Immer wieder stieß er mit dem Messer zu, und ich zuckte jedesmal unwillkürlich zurück in der Erwartung der tödlichen Berührung. Jedesmal blieb sie aus, und jedesmal floh ich weiter, hangelte mich von Strebe zu Strebe. In meinem rechten Arm pochte dumpfer Schmerz, und mein Zeigefinger schien abgestorben zu sein, doch ich versuchte, mich davon nicht bremsen zu lassen. Vor meinem inneren Auge flammte nur die Vision meines nahen Endes, das unweigerlich eintreten würde, sobald Khalid mit seinem Messer irgendeine Stelle meines Raumanzuges aufschlitzte.
Ein Raumanzug ist nichts anderes als ein kompliziert geformter, komfortabel ausgestatteter Luftballon – ein Riß, und die Luft würde entweichen und mein Tod nur eine Frage von wenigen Augenblicken sein. Ich würde nicht ersticken, nein. Ich würde nicht lange genug leben, um zu ersticken, weil mich der Druckverlust schon vorher umbringen würde.
Ohne den atmosphärischen Druck würde das Blut in meinen Adern zu kochen beginnen, würden meine Augäpfel platzen, meine Lungen sich mit kochendem, sprudelndem Blut füllen – der einzige Trost war, daß mich zu diesem Zeitpunkt längst ein abrupter Gehirnschlag getötet haben würde.
Wahrend ich floh, galt mein verzweifelter Blick der Erde. Wir waren noch nicht weit genug gekommen, näherten uns noch dem Roten Meer, Mekka war noch nicht einmal in Sicht. Mindestens noch fünf Minuten mußte ich durchhalten, und diese letzten fünf Minuten meines Lebens, das erkannte ich jetzt atemlos, würden zugleich die längsten fünf Minuten meines Lebens werden.
Ich versuchte, Khalid von der Plattform wegzulocken, aber er schnitt mir den Weg ab. Urplötzlich war er heran und über mir und führte einen gewaltigen Hieb mit dem Messer gegen meinen Helm. Doch auch über die Helme japanischer Raumanzüge läßt sich nur Bestes berichten: das Messer glitt ab und ließ nichts zurück außer einer breiten Schramme, in der sich das Licht der gleichgültig zuschauenden Sterne brach.
Es gelang mir wegzutauchen, und der nächste Schlag traf nur eine Strebe. Auch das Messer war bedauerlicherweise von vorbildlicher Qualität; es brach nicht. Ich ging hinter einem Versteifungsblech in Deckung, keuchend, und beobachtete Khalid, der wieder näher kam. Die Zeit hätte eigentlich auf meiner Seite sein sollen, aber sie schien sich mit meinem Gegner verbündet zu haben, denn die Sekunden vergingen unendlich zäh und langsam. Ich wartete, bis ich an seiner Bewegungsrichtung sah, auf welcher Seite er mit meinem Ausfall rechnete, und stieß mich dann schwungvoll zur anderen Seite hin ab.
Ein Schlag aus dem Nichts bremste mich jäh ab. Ich mußte gegen ein sehr dünnes, in der Dunkelheit nahezu unsichtbares Hindernis geprallt sein – ein Spannseil oder dergleichen – und taumelte einen Moment hilflos umher, ehe ich einen Halt fand. Aber da war Khalid schon heran, das blitzende Messer hoch erhoben, und ich erblickte mit ungläubigem, atemlosen Staunen mein eigenes kleines Spiegelbild in seinem dunklen Helmvisier.
In einer reflexhaften Abwehrbewegung zog ich meine Beine an und stemmte sie gegen seine Brust, was völlig unvernünftig war: denn ob er mir den Raumanzug am Unterschenkel aufschlitzte oder an der Brust, war im Endeffekt einerlei. Ich starrte nur diese gesichtslose Gestalt im Raumanzug an, hielt den Atem an – was genauso unvernünftig war – und wußte, daß mich nur noch eine winzige Bewegung seiner Klinge von meinem Tod trennte.
Aber Khalid schien sich dessen nicht bewußt zu sein. Entweder waren ihm die physikalischen Zusammenhänge des Aufenthalts im freien Weltraum grundsätzlich nicht ganz geläufig – was ich mir nicht vorstellen konnte –, oder er war so von wilder, ungestümer Wut erfüllt, daß diese Wut über alles angelernte Wissen hinweg sein Handeln bestimmte. Jedenfalls war er versessen darauf, mir sein Messer direkt ins Herz oder in die Kehle zu rammen, als käme es darauf an. Und so rangen wir miteinander, aber diesmal war es nur ein pures Kräftemessen auf Leben und Tod. Ich hielt seine Messerhand umklammert und drückte mit aller verzweifelten Kraft, die mir noch geblieben war, dagegen, während er sich mit aller Wucht, die er aufzubringen imstande war, in den Stoß hineinlehnte. Und seine Kräfte schienen unerschöpflich zu sein, die Kräfte eines Giganten, die Kräfte einer seelenlosen Mordmaschine. Ich umklammerte sein Handgelenk mit beiden Händen und schrie, während ich mich dagegenstemmte, weil in meinem rechten Arm etwas zu reißen und zu zerbrechen schien. Aber es war, als stemmte ich mich mit bloßen Händen gegen den Druck einer hydraulischen Presse. Unerbittlich senkte sich das Messer tiefer und tiefer, und es zielte unverwandt auf die Mitte meiner Brust.
Das also war das Ende. Ich wußte nicht, ob ich lange genug durchgehalten hatte. Ich dachte nicht an Mekka, nicht einmal an Neil. Ich dachte überhaupt nichts. Da war nur dieser undurchdringlich dunkle, spiegelnde Helm über mir, in dem ich nur meinen eigenen undurchdringlich dunklen, spiegelnden Helm sah, und da war die schwarz behandschuhte Hand, die sich mit langsamer, aber unaufhaltsamer Kraft auf mich niedersenkte. Und das Messer, das diese Hand hielt, eine lange, glänzende Klinge. Ich sah Sterne, die sich in dieser Klinge spiegelten, und sah das Rote Meer darin, über dem gerade die Sonne aufging zu einem Tag, der unsichtbare Zerstörung bringen würde, und der seltsam verzerrte Widerschein dieses Sonnenaufgangs wanderte wie ein schmaler, heller Streifen die Messerschneide entlang, vom Heft weg auf die Spitze zu, wobei der Streifen immer kleiner und heller wurde. In dem Augenblick, in dem die Spitze meinen Raumanzug durchstoßen würde, würde sich das Licht genau auf ihr gesammelt haben.
Plötzlich hörte ich, nach all dem Keuchen und Schreien, wieder Khalids Stimme in meinem Kopfhörer. Sie war heiser, atemlos, zitterte vor Wut.
»Dschijhad…«
Damit stieß er zu.
In einem letzten, verzweifelten Auflehnen gelang es mir nur noch, den Stoß abzulenken, weg von meinem Herzen, doch nicht weit genug. Die Klinge drang in meine rechte Schulter ein, mit einem häßlichen Geräusch wie reißender Stoff.
Der Schmerz war unglaublich. Wie ein elektrischer Schlag schoß eine Flutwelle von Schmerz durch meinen Körper, heiß, brennend, jenseits jeder Beherrschbarkeit. Ich war nur noch Schmerz, nur noch Schrei, nur noch wildes, selbstzerstörerisches Aufbäumen. Und dann brach der Lärm über mich herein.
Zuerst ein lautes, hohles Fauchen, das Geräusch von Gas, das unter hohem Druck entweicht. Dann der Alarmton der Anzugsautomatik, laut, ohrenbetäubend laut, ein durchdringender Signalton von markerschütternder Regelmäßigkeit, der laut genug gewesen wäre für einen Flugzeugträger. Ich taumelte, flog frei, stieß mit meinem tauben, kaputten rechten Arm gegen einen Widerstand und krallte mich fest, ganz automatisch. Als ob ich mich dadurch retten könnte. Der Alarmton dröhnte weiter, dröhn, dröhn, dröhn.
Vor meinen Augen tanzten rote Schleier, und dahinter glaubte ich Khalid zu sehen, ohne Halt durch den Raum schwebend. Ich blinzelte, vertrieb die wogenden Nebel für einen Augenblick: tatsächlich. Er trieb, sich langsam überschlagend, davon, auf die riesige, stahlgrau schimmernde Solarfläche zu.
Ich preßte die linke Hand auf die Stichwunde, auf das Loch in meinem Anzug, aber es half nichts. Die Luft entwich, schoß als feiner heller Nebel in die unersättliche Leere. Ich konnte dabei zusehen. Ich sah dabei zu, und meine Gedanken wälzten sich mühsam im Kreis wie gestrandete, halbtote Wale. Khalid. Irgendwie hatte ich es geschafft, Khalid in den Raum hinaus zu stoßen. Vielleicht war er unvorsichtig gewesen. Vielleicht hatte mein geschundener Körper im letzten Augenblick noch ungeahnte Kräfte entwickelt. Jedenfalls trieb er jetzt da draußen, mitsamt seinem Messer.
Und immer noch der Alarm, und das kalte, unheimliche Zischen. Jetzt erst begriff ich, daß das nicht das Geräusch der entweichenden Luft war – die hätte ich nicht gehört –, sondern der aus dem Lebenserhaltungssystem nachströmende Sauerstoff, mit dem die Sicherheitsautomatik des Raumanzugs den Druckabfall auszugleichen versuchte. Vergebens natürlich, denn auch er entwich ins All. Im Inneren meines Helms, unübersehbar über meinen Augen, begann das erste von fünf roten Leuchtelementen alarmierend zu blinken. Das war die Anzeige der verbleibenden Sauerstoffreserve.
Da war doch etwas gewesen, eine flüchtige Idee. Ach ja. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte, meine rechte Hand, diesen toten, zerschmetterten Fleischbrocken, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Im selben Moment wußte ich, daß das keine gute Idee gewesen war. Die Stichwunde in meiner Schulter war wie das Epizentrum eines Bebens, das meinen Körper erschütterte, nur daß es keine Erdstöße waren, die davon ausgingen, sondern lähmende, atemberaubende Wellen von Schmerz.
Aber es mußte sein. Von allem, was mir geblieben war, war das das einzige, was wenigstens wie eine letzte Chance, wie ein dünner rettender Strohhalm aussah. Selbst wenn es sich dabei um eine Täuschung handelte, konnte ich doch meine letzten Augenblicke ebensogut daran verschwenden wie an irgend etwas anderes. Und so biß ich meine Zähne zusammen in einer Weise, die mein Zahnarzt bestimmt nicht gut gefunden hätte, und schaffte es, die rechte Hand in die Nähe meines rechten Oberschenkels zu bekommen. Während mein Oberarm vollends zu bersten schien, weil er alles war, womit ich mich an meiner Strebe festklammerte, gelang es mir, einige meiner Finger zu bewegen und ein Ende von einem der Klebestreifen zu erfassen, die immer noch auf meinem Oberschenkel klebten.
Hatte ich geglaubt, Schmerzen zu haben? Den wahren Schmerz lernte ich kennen, als ich die Hand mit dem ersten Klebestreifen nach oben beugte, zu meiner Schulter hin. Plötzlich war da ein daumendicker Strang reinsten glühenden Protoplasmas, so heiß wie reinste Sonnenmaterie, der sich alles versengend meinen rechten Arm entlang bohrte, durch die Schulter hindurch, und in meinem Kopf explodierte. Ich schrie, vierhundert Kilometer hoch über der Erdoberfläche, und niemand hörte mich schreien außer mir selbst. Ich schrie, aber ich packte den Klebestreifen mit der linken Hand und preßte ihn auf den Riß in meinem Raumanzug. Über meinem Kopf fing das zweite rote Licht an zu blinken.
Wieder nach unten zu greifen und nach dem nächsten Streifen zu angeln war die reinste Erholung. Wieder das glühende Plasma, aber diesmal achtete ich sorgfältiger darauf, das Loch vollständig zu bedecken. Ich bildete mir ein, daß das Zischen leicht nachließ, aber vielleicht kam das auch daher, daß ich von dem enervierenden Alarmton allmählich ertaubte.
Als ich den dritten und letzten Klebestreifen heranschaffte, tauchte ein dunkler Nebel in meinem Gesichtsfeld auf, der auf beunruhigende Weise realer wirkte als die übrigen Schleier, die meine Sicht trübten. Ich praktizierte das Leukoplast senkrecht zu den beiden übrigen Klebestreifen auf den Anzug, und dabei setzte sich der Nebel an der Innenseite meines Visiers ab. Es war Blut. Mein Blut.
Höchste Zeit, mich an den Abstieg zu machen. Inzwischen leuchtete das dritte rote Licht, und es handelte sich ja nur um die Kleinigkeit von hundertfünfzig Metern bis zur nächsten Schleuse. Ich würde es nicht schaffen. Mein Körper sagte es mir. Mein Instinkt wußte es. Und das, was von meinem Verstand noch übrig war, wußte es auch. Aber ich war zu erschöpft, um darüber nachzudenken, und machte mich einfach auf den Weg.
Das Schlimmste war, mich aus meiner Verankerung an der Strebe zu lösen. Wenn ich meinen rechten Arm einfach abgerissen und dortgelassen hätte, wäre es auch nicht schmerzhafter gewesen. Aber als das einmal geschafft war, ging es leichter. Eigentlich war es ja kein Abstieg im herkömmlichen Sinn; nach ein paar Metern hatte ich es einigermaßen heraus, mich allein mit der linken Hand von Haltegriff zu Haltegriff zu manövrieren.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich plötzlich wieder Khalids Stimme in meinem Kopfhörer hörte. Einen Moment hielt ich inne, um mich nach ihm umzusehen. Er hatte inzwischen die Hälfte der Strecke bis zur Solarfläche zurückgelegt, drehte sich immer noch langsam um sich selbst und schüttelte mir dabei drohend seine Fäuste entgegen.
»Ich bin noch nicht fertig mit dir, Carr!« schrie er, laut genug, um den Alarm zu übertönen. »Ich komme zurück, und dann wirst du für alles bezahlen…!«
Er beeindruckte mich nicht besonders. Einen Moment lang fragte ich mich dumpf, wie er das anstellen wollte, dann setzte ich mich wieder in Bewegung und konzentrierte alle meine verbliebene Aufmerksamkeit auf die dünnen Streben des Turmauslegers.
Genauso dumpf wurde mir bewußt, daß wir Mekka überflogen. Ich war zu schwach, zu entkräftet, um über das bloße Registrieren dieser Tatsache hinaus noch zu irgendwelchen Gefühlsregungen imstande zu sein. Ich hätte Freude empfinden können oder wenigstens Genugtuung darüber, den heimtückischen Plan Khalids und seines Propheten endgültig vereitelt zu haben, aber da war nur stumpfe Leere in mir.
Irgendwann hatte das vierte rote Licht angefangen zu blinken, und es war noch so weit bis zur Schleuse. Meine ganze rechte Seite war wie betäubt, und meine Gedanken verwirrten sich zusehends. Es ging zu Ende mit mir.
Das fünfte, das letzte rote Licht. Unglaublicherweise verschärfte sich der schrille Diskant des Alarms noch. Ich fuhr hoch wie jemand, der eingenickt ist, und stellte fest, daß ich tatsächlich einige Zeit auf ein und derselben Stelle verharrt haben mußte. Mein Atem ging schnell und flach, ein hechelndes Schnappen nach Luft, die keinen Sauerstoff mehr zu enthalten schien, und auf den Lippen schmeckte ich salzigen Schweiß. Ich sah mich um, zu schwach, um mich weiterschleppen zu können. Vielleicht war es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied von dem weiten blauen Planeten tief unter mir. Abschied von den Sternen. Abschied von dem seltsamen Leben, das ich geführt hatte.
Ich hielt Ausschau nach der Stadt in der Wüste, in der jetzt gerade der einzige Mensch erwachte, von dem ich gern Abschied genommen hätte und der nichts von dem ahnte, was sich hier oben abgespielt hatte. Aber Mekka war schon auf die helle Seite entschwunden, nicht mehr sichtbar. Mein Blick irrte über die gewaltige graue Ebene der Solarfläche und blieb an dem winzigen hellen Punkt hängen, der Khalid war. Er hatte die Solarfläche fast erreicht.
»Leonard!« hörte ich ihn durch das Kreischen des Alarms hindurch schreien. »Ich komme…!«
In der lethargischen Schwerfälligkeit meiner Gedanken glomm müde die Erkenntnis auf, daß Khalid vorhatte, zurückzukommen, um wenigstens mir endgültig den Garaus zu machen, wenn er es schon mit der Heiligen Stadt nicht geschafft hatte. Ich verfolgte apathisch, wie er erwartungsvoll die Arme ausstreckte, als er den Solarspiegel berührte.
Er hätte ebensogut versuchen können, sich an Spinnweben festzuhalten. Die Solarfläche wirkte von fern betrachtet gewaltig und massiv wie Panzerstahl, aber in Wirklichkeit bestand sie aus einer Folie, die nicht einmal so dick war wie ein menschliches Haar. Khalid brach durch sie hindurch wie durch ein Trugbild, und wahrscheinlich hatte er nicht einmal einen Hauch von Widerstand gespürt.
Die zerrissene Folie rollte sich auf, langsam, wie in Zeitlupe, und das Sonnenlicht von der hellen Seite tanzte auf den Fetzen. Ich sah Khalid hindurchschweben, und ich hörte ihn fassungslos schreien, und ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen, und das Licht lockte und rief mich wie eine Verheißung, wie die Antwort auf alle Fragen, wie das Ende allen Leids…
Doch da waren plötzlich Arme um mich, die mich umfingen und mich hielten und an mir zerrten, mich zurückziehen wollten in die Dunkelheit.
Ich schrie auf, aber ich war zu schwach, um Widerstand zu leisten, und sie rissen mich mit sich in die Tiefe.