KAPITEL 33

Der Raumanzug hing leer und verlassen in der Luft, und die beiden Teile, Oberteil und Beinteil, wurden nur noch vom Rückentornister zusammengehalten, den abzulegen Khalid sich nicht die Mühe gemacht hatte. Er schien es ziemlich eilig gehabt zu haben.

Moriyama packte den Revolver fester. »Gehen Sie in Deckung«, befahl er halblaut. »Er muß sich irgendwo hier versteckt haben.«

Ich warf einen Blick in die Runde. Die vier Schotten zu den angrenzenden Modulen des Maschinendecks wirkten plötzlich wie die geschlossenen Augen einer schlafenden Bestie.

»Leonard?« fragte der Kommandant. »Haben Sie den Schraubenzieher noch?«

»Ja«

»Schrauben Sie die Wartungsklappen ab. Blockieren Sie alle Schotte auf dieser Ebene.«

»Und dann?«

»Wir nehmen uns ein Modul nach dem anderen vor. Und ich will nicht, daß er uns dabei in den Rücken fallen kann.«

Ich nickte langsam. Die anderen hatten in der Nähe der Wände Schutz gesucht, und in ihren Augen sah ich Angst. Sie waren Wissenschaftler, keine Soldaten. Das Ganze begann, über ihre Kräfte zu gehen. Und mit meinen eigenen Kräften war es auch nicht mehr so weit her. »Khalid kann sich in keinem der Module versteckt halten«, erklärte ich.

Tanakas Stimme bebte vor Anspannung. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Als ich aus der Bewußtlosigkeit erwachte, war die Alarmblockade aller Schotte noch wirksam. Sie wurde erst aufgehoben, als ich schon dabei war, die Raumkapsel anzudocken. Das heißt, ich hätte es gehört, wenn Khalid eines der Schotte geöffnet hätte.« Da war doch eben noch eine gute Idee gewesen. Meine Gedanken bewegten sich wie durch zähen Sirup, und ich hatte das deutliche Gefühl, daß das gar nicht gut war. »Außerdem hätte er den Raumanzug nicht auszuziehen brauchen, um sich zu verstecken.«

Ich hangelte mich hinab auf die vierte Ebene und begann, die sackartigen Plastikbehälter zu öffnen, in denen wir unsere Raumanzüge aufbewahrten. Ich brauchte nicht lange zu suchen. »Einer unserer Raumanzüge fehlt.«

»Er hatte Angst vor der Dekompression«, mutmaßte Tanaka. »Und da sein Raumanzug keinen Helm hatte, zog er einen von unseren an.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Ich glitt hinüber zu der kleinen Mannschleuse und legte die Hand auf die beiden Vakuumpumpen rechts und links der Einstiegsluke. Sie fühlten sich warm an, als seien sie vor nicht allzu langer Zeit in Betrieb gewesen. »Er hat die Station verlassen. Ich kann mir beim besten Willen nicht denken aus welchem Grund, aber er ist durch diese Schleuse hinausgegangen.«

Wir sahen einander ratlos an.

»Vielleicht ein Trick?« vermutete Moriyama schließlich, aber es klang nicht so, als sei er davon überzeugt.

Auch Jayakar war anzusehen, wie sehr er sich sein hochkarätiges Hirn zermarterte. »Wohin kann er wollen da draußen?« fragte er sich im Selbstgespräch. »Zur Brücke? Die ist von außen nicht zugänglich. Außerdem liegt sie auf der anderen Seite der Solarfläche. Die Raumkapsel auch, und sie ist jetzt auch nicht zugänglich, weil sie an der Hauptschleuse angekoppelt ist.«

»Vielleicht hat er Selbstmord begangen?« warf Kim hoffnungsvoll ein.

»Dazu hätte er wohl kaum einen Raumanzug angezogen«, knurrte Moriyama.

»Aber irgend etwas muß er vorhaben«, beharrte Jayakar. »So gut kennen wir ihn doch inzwischen.«

Tanaka meinte zögernd: »Vielleicht ist er auf den Turm geklettert.«

»Auf den Turm?«

»Auf den Turmausleger. Zum Energiesender.«

»Was soll er dort wollen?«

»Vielleicht will er den Energiesender mit der Handsteuerung bedienen.«

»Handsteuerung?« echote ich verständnislos. Wovon faselte der Mann? »Was für eine Handsteuerung?«

»Die Handsteuerung des Energiesenders.«

Ich starrte ihn fassungslos an. »Soll das heißen, es gibt auf dem Turm eine Möglichkeit, den Energiestrahl von Hand zu lenken?«

Tanaka nickte ausgesprochen unglücklich. »Hai. Es ist ein kleines Schaltpult mit einem Zielfernrohr und einem einfachen Steuerknüppel, wie bei einem Videospiel…«

»Und Khalid weiß das?« Ich schrie es fast. »Das wußte ja nicht einmal ich!«

»Er hatte mich danach gefragt…«

Ich sah auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Mekka. Fünfundzwanzig Minuten, dann würde Mekka am Horizont auftauchen, und Khalid würde sein großes Videospiel spielen…

Ich faßte den stellvertretenden Kommandanten scharf ins Auge. »Ich hoffe doch, wir können ihm wenigstens von hier aus den Saft abdrehen?«

Tanakas Gesicht hatte inzwischen einen ausgesprochen ungesund aussehenden, grauen Farbton angenommen. »Ich fürchte, nein.«

»Aber wieso denn nicht? Die ganze Energie, die der Solarspiegel erzeugt, geht durch unsere Transformatoren, unsere Schaltschränke und unsere Steuerung. Wir drehen ihm einfach den Hahn zu, und dann kann er da auf dem Turm sitzen, bis er schwarz wird.«

»So ist das nicht. Wir können nicht ein Gigawatt durch die Station führen – allein der Elektrosmog würde uns umbringen. Nur ein geringer Teil der Energie kommt an Bord.«

»Und der Rest? Wie fließt der zum Energiesender?«

»Durch viele einzelne Leitungen, die außen am Turm entlanggeführt sind.«

Das durfte doch nicht wahr sein. Das war doch ein böser Alptraum, den ich hier erlebte.

»Was sind das für Leitungen? Kann man die kappen?«

»Kappen?«

»Durchtrennen.« Ich dachte an Kims Schwert und was es aus dem Steuerungscomputer gemacht hatte.

»Wenn kein Strom darin fließt, kann man sie kappen. Aber wenn er die Handsteuerung schon aktiviert hat, fließt bereits so viel Strom, daß jeder Versuch, eine Leitung zu trennen, tödlich wäre.«

Großartig. »Ich dachte immer, der Energiesender wird von hier aus beschickt und gesteuert?«

»Nur gesteuert. Es gibt nur eine Steuerleitung zum Sender, die gesendete Energie kommt direkt aus der Solarfläche.«

»Können wir die Handsteuerung von hier aus ausschalten?«

»Nein. Wir könnten sie höchstens stören, aber da der Steuerungscomputer kaputt ist…« Er vollendete den Satz nicht.

»Mit anderen Worten«, mischte sich Moriyama ein, »Khalid sitzt oben auf dem Turm und wird Mekka mit dem Energiestrahl zerstören – und es gibt nichts, was wir dagegen tun können?«

Tanaka schüttelte den Kopf. »Nichts.«

Dumpfes Schweigen. Ich sah Tanaka an. Ich sah Moriyama an. Ich sah in die Runde, in lauter betretene, von Niederlage gezeichnete Gesichter. Und meine Wunde brannte wie Feuer, wie ein Schwelbrand, der meine ganze Schulter sich zu verzehren anschickte.

Nicht schon wieder. Das war alles, was ich denken konnte. Nicht schon wieder. Ich war müde, am Ende meiner Kräfte. Niemand hätte mir einen Vorwurf daraus gemacht, wenn ich einfach aufgegeben hätte. Aber ich wußte, daß es keinen anderen Ausweg gab und daß ich es tun mußte.

»Doch«, seufzte ich. »Eine Möglichkeit gibt es.«

Ich zog einen der anderen Raumanzüge aus seinem Behälter und begann, ihn anzulegen.

»Yoshiko, ich brauche eine schmerzstillende Spritze für meinen Arm. Die stärkste, die du findest.«

Sie sah mich erschrocken an. »Tut er so weh?«

»Nein. Aber er wird vielleicht weh tun. Sehr wahrscheinlich sogar.« Er tat sogar jetzt schon weh, während ich mit dem linken Arm in das Oberteil schlüpfte.

»Leonard-san, du wirst deinen Arm ruinieren, wenn ich dir eine Spritze gebe«, erwiderte Yoshiko besorgt. »Du mußt ihn schonen, ihn ruhigstellen…«

»Die Spritze, onna! « sagte ich so scharf wie möglich, und es funktionierte. Ein kulturelles Erbe von Jahrhunderten, in denen die japanischen Frauen den Männern widerspruchslos gehorcht hatten, ließ sich eben nicht in wenigen Jahrzehnten abschütteln. Yoshiko öffnete hastig die Notfalltasche, holte eine kleine Fertigspritze heraus, prüfte noch einmal die Aufschrift und injizierte mir dann die hellgelbe Flüssigkeit in den Oberarm. Ich spürte die Wirkung fast sofort.

»Geben Sie mir bitte den Revolver, Kommandant?« wandte ich mich an Moriyama, während ich in den rechten Ärmel des Raumanzugs schlüpfte und begann, die Verschlüsse zuzumachen.

»Das hat doch keinen Zweck, Leonard. Es ist zu spät. Ihnen bleiben gerade einmal zwanzig Minuten. «

»Es muß reichen.«

»Khalid wird Sie einfach abknallen.«

»Er wird mich nicht kommen sehen.« Ich streckte verlangend die Hand aus. »Die Waffe, kudasai. «

Er gab sie mir, widerwillig. Ich befestigte sie mit mehreren langen Leukoplaststreifen aus der Medizintasche an meinem rechten Oberschenkel.

»Sie sind verletzt«, redete mir Moriyama weiter Mut zu. »Sie sind erschöpft. Sie werden sterben, wenn Sie da rausgehen!«

»Dann werde ich eben sterben«, sagte ich, setzte den Helm auf und drückte den Knopf, der die Innenluke der Mannschleuse auffahren ließ.

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