Es war noch stockdunkel, als das Telefon John nach einer unruhigen Nacht aus dem Schlaf riss. Für einen Augenblick orientierungslos schoss er hoch und tastete nach dem Lichtschalter. Halb sechs Uhr morgens! Ein Anruf um diese Stunde konnte nichts Gutes bedeuten. Mit wenigen Schritten war er im Flur und hob mit klopfendem Herzen den Hörer ab.
„Guten Morgen, Mackenzie! Ich habe Sie hoffentlich nicht aufgeweckt? Ich brauche Ihre Hilfe in einer delikaten Sache.“ Als John die muntere Stimme seines Kommandanten vernahm, wurden ihm vor Erleichterung fast die Knie weich.
„Chief? Ich dachte, Sie wären auf einer Konferenz?“
„Bin ich auch. Aber gerade kam ein Anruf vom Außenministerium. Die Eltern unserer Toten treffen heute Vormittag auf dem Flughafen Heathrow ein. Sie haben den ausdrücklichen Wunsch geäußert, den Ort des Geschehens sehen zu dürfen. Damit sie nicht von Reportern belästigt werden, werden sie mit einem zivilen Geleitschutz wie normale Touristen in den Tower kommen. Ich möchte, dass Sie Mr. und Mrs. Feldmann in Empfang nehmen und herumführen. Mir wurde gesagt, dass die Herrschaften kaum Englisch sprechen, daher werden sie sich bei jemandem, der sich mit ihnen auf Deutsch unterhalten kann, am besten aufgehoben fühlen. Also, kann ich auf Sie zählen?“
„Selbstverständlich, Sir.“
„Gut. Halten Sie sich ab neun Uhr im Byward Tower bereit. Für heute sind Sie vom normalen Dienst befreit. Und sobald ich wieder da bin, melden Sie sich bei mir zum Rapport.“
Nachdem John aufgelegt hatte, ließ er sich in einen Küchenstuhl sinken und fuhr sich durch den vom Schlaf zerzausten Haarschopf. Er beschloss, dass es keinen Sinn mehr hatte, ins Bett zu gehen, also nutzte er die Zeit und widmete sich einmal wieder eingehend seinen Pflanzen. Zufrieden bemerkte er, dass auch der Mangokern, den er vor Wochen in die Erde gesteckt hatte, einen zarten Trieb gebildet hatte. Nachdem alle Topfpflanzen versorgt waren, kramte er den Berg an Weihnachtssachen heraus, die er bei Edwina erworben hatte. Als er sein Werk vollendet hatte, prangte die Wohnung in Rot-, Grün- und Goldtönen und John brummte fröhlich, „Oh come, all ye faithful“, sein Lieblingsweihnachtslied, vor sich hin. Als letztes hängte er den prächtig geschmückten Kranz an die Eingangstür seiner Wohnung. Er nahm sich vor, noch Tannenzweige zu besorgen, deren harzigen Duft er liebte.
Beschwingt setzte er sich mit einer Tasse Tee an den Tisch und begann zu überlegen, welche Geschenke er besorgen wollte.
Sein Neffe Tommy würde sich über neue Turnschuhe freuen, hatte Maggie ihm verraten. Tommys ältere Schwester Maureen würde gleich zu Jahresbeginn für einige Monate nach Südafrika gehen, um dort in einem sozialen Projekt mitzuarbeiten und konnte ein gutes Moskitonetz gebrauchen. Für seinen Vater hatte er einen neuen Bildband über die Ausgrabungen argentinischer Dinosaurier im Auge. Maggies jüngste Tochter Bella war glücklich über alle Dinge, die irgendetwas mit Pferden zu tun hatten. Fast hätte John über derlei angenehmen Gedankengängen die Zeit vergessen. Kurz vor neun Uhr schreckte er hoch, griff nach seinen Wohnungsschlüsseln und machte sich zum Towereingang auf. Auf die Beefeater-Uniform hatte er verzichtet. Er wusste, dass er sonst beständig von Besuchern angesprochen werden würde und sich dem deutschen Ehepaar nicht in Ruhe widmen könnte.
Bereits kurz nach neun wurden die Eltern von Julia Feldmann hereingeleitet. Es könnten auch ihre Großeltern sein, ging es John durch den Kopf, während er mit ausgestreckten Armen auf das ältere Ehepaar zuging. Sie sahen aus, als hätten sie ihr Leben lang hart gearbeitet.
Er schüttelte beiden die Hand. Raue, kräftige Hände. Nachdem er sich vorgestellt hatte, drückte er den beiden sein aufrichtiges Beileid aus. Die Frau wandte ihm ihr zerfurchtes Gesicht mit den verweinten Augen zu. „Haben Sie vielen Dank.“
„Darf ich Ihnen erst einmal eine kleine Stärkung in unserer Cafeteria anbieten? Oder möchten Sie den Ort sehen, an dem Ihre Tochter … gefunden wurde?“ Nach einem stummen Blickwechsel mit seiner Frau bat Mr. Feldmann ihn darum, sie sogleich zum Verrätertor zu führen.
Sie traten hinaus in die Water Lane. An diesem verhangenen Dezembermorgen hatten bisher nur wenige Touristen den Weg in den Tower gefunden, wofür John dankbar war.
Schweigend standen sie vor dem Verrätertor. Genauso wie an dem Abend, als Julia Feldmann gestorben war, herrschte Niedrigwasser. Minutenlang starrten die Feldmanns eng aneinander geklammert hinunter auf die Stelle am Fuß der kleinen Steintreppe, wo Julia gefunden worden war. Dann brach es aus Julias Mutter hervor.
„Mein Mädchen! Oh Gott, Julia, Julia…“, schluchzte sie.
John überlegte fieberhaft, ob er die beiden lieber wegbringen sollte, als ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Ein junger Mann, den Fotoapparat im Anschlag, eilte aus Richtung des Eingangs auf sie zu.
„Sind Sie nicht die Eltern der Ermordeten? Matt Burke von der Sun. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie hier stehen, wo Ihre Tochter ermordet wurde? Bitte einen kurzen Kommentar für unsere Leser.“ Nun richtete er die Kamera auf die Feldmanns.
Obwohl die beiden wohl nicht verstanden hatten, was der Reporter gesagt hatte, stand ihnen blankes Entsetzen ins Gesicht geschrieben. John, der soeben noch wie gelähmt gewesen war, überraschte sich selbst, indem er den Reporter wegstieß und gleichzeitig nach dessen Kamera griff. Dann brüllte er nach seinen Kollegen. Binnen kürzester Zeit fand sich der Zeitungsreporter, wüste Verwünschungen ausstoßend von mehreren Beefeatern zum Tor hinausbugsiert.
Als die Flüche des Mannes verklangen, wandte John sich an das Ehepaar. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir dieser Vorfall tut. Wir bemühen uns, alle Hereinkommenden streng zu kontrollieren, aber dieser … Mensch … hat es leider doch hereingeschafft.“ Mr. Feldmann nickte nur, während seine Frau ihr Gesicht an seiner Brust versteckt hatte. Ihre Schultern bebten. Sanft legte John seine Hand auf den Arm des Mannes.
„Bitte, Herr Feldmann, ich denke es wäre besser, wenn wir Ihre Frau an einen ruhigen Ort bringen. Meine Wohnung ist gleich auf der anderen Seite des Innenhofes, dort mache ich Ihnen gerne einen Tee, wenn Sie möchten.“ Nach kurzem Zögern nickte Julias Vater wiederum und sie führten Mrs. Feldmann, die nun völlig willenlos erschien, vorbei am Tower Green und zu Johns frisch geschmückter Wohnungstür.
John platzierte seine Gäste am Küchentisch und beschäftigte sich damit, den Tee zu bereiten. Mr. Feldmann redete leise auf seine Frau ein. Schließlich ebbte ihr Schluchzen ab und sie fasste sich wieder. Als John Tee und einen Teller von Edwinas Keksen servierte, nahm sie die dampfende Tasse dankbar entgegen.
„Sie sind wirklich sehr freundlich. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass jemand unser braves Mädchen umgebracht hat.“ Wieder wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt, während ihr Mann ihr unbeholfen über den Rücken strich. Dann jedoch kramte sie ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig.
„Wissen Sie, an Weihnachten wollte Julia endlich wieder einmal heimkommen. Wir hatten sie seit dem Sommer nicht gesehen. Hans, weißt du noch? Wir hatten gerade den Weizen abgeerntet, als sie heimkam.“
„Sie betreiben eine Landwirtschaft?“
„Zweiundzwanzig Hektar. Getreide und Zuckerrüben. Dazu noch Wald und eine kleine Rinderzucht.“ Aus der Stimme des Mannes klang Stolz.
„Unser ältester Sohn wird den Hof übernehmen. Er arbeitet jetzt schon fleißig mit.“
„Die mittlere Tochter hat einen Bauern aus dem Nachbardorf geheiratet, auf seinem Hof ist sie für den Stall verantwortlich. Das hat sie von mir gelernt.“ Auch seine Frau hörte sich nun lebhafter an.
„Es ist schön, dass die Kinder die Familientradition fortführen.“, meinte John freundlich und nahm sich ein Stück Zucker. Da verdüsterte sich das Gesicht von Mrs. Feldmann wieder.
„Nur unsere Julia, die hat gar nichts von der Landwirtschaft wissen wollen. Immer nur Bücher, Bücher, Bücher. Aber sie war ein sehr gescheites Mädel und ist als Erste in der Familie zur Universität gegangen.“ Sie schluckte. „Wäre sie nur daheimgeblieben, dann wäre sie jetzt noch am Leben…“ John wartete, bis ihre neuerlichen Tränen versiegt waren.
„Sie hat Wirtschaft studiert, habe ich gehört.“
„Mhm. In gut einem Jahr hätte sie ihr Studium abgeschlossen. Sie hatte ihre Zwischenprüfungen so gut bestanden, dass sie ein Stipendium bekommen hat, um für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Ansonsten hätten wir uns das gar nicht leisten können. Die ersten Monate hier hat sie uns regelmäßig geschrieben, aber in den letzten Wochen haben wir kaum noch etwas von ihr gehört. Wenn sie doch einmal angerufen hat, hat sie sich oft müde angehört. Es wäre so viel zu tun, sagte sie, dass sie kaum zum Schlafen käme. Aber sie hatte sich ganz fest vorgenommen, den bestmöglichen Abschluss zu machen und sie war bereit, hart dafür zu arbeiten.“ Stumm bekräftigte Mr. Feldmann die Worte seiner Frau mit einem heftigen Nicken und schnobte dann kräftig in ein Taschentuch. In der folgenden Stille klang das Klingeln des Telefons überlaut. John entschuldigte sich für einen Moment und hob ab.
„Mackenzie? Jemand von Scotland Yard will dich sprechen, bleib einen Moment dran.“ Frank Abbott, der heute am Eingang im Byward Tower Dienst tat, reichte den Hörer weiter.
„Hier Constable Hewitt, Sir. Superintendent Whittington lässt anfragen, wann Mr. und Mrs. Feldmann bereit sind für die Vernehmung im Yard. Wir haben eine Limousine hier, um sie hinzubringen.“ Als John die Frage an das Ehepaar weitergab, kehrte der verschreckte Ausdruck in das Gesicht von Mrs. Feldmann zurück.
„Oh, die Polizei, natürlich. Oh je. Wir hatten noch nie in unserem Leben etwas mit der Polizei zu tun.“
„Aber Maria, die Herren wollen uns nur ein paar Fragen zu Julia stellen, das haben sie uns doch heute Morgen am Flughafen schon erklärt.“ Julias Vater wandte sich an John. „Richten Sie bitte aus, wir sind gleich da.“ Seine Frau griff sichtlich nervös nach ihrer Handtasche und erhob sich unbeholfen. Dann sah sie John plötzlich mit einem hoffnungsvollen Ausdruck im Gesicht an.
„Herr… Mackenzie, könnten Sie uns vielleicht begleiten? Sie könnten für uns übersetzen.“
„Sehr gern, Frau Feldmann, aber die Kriminalpolizei hält mit Sicherheit einen Dolmetscher für Sie bereit. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
„Ich hätte aber lieber Sie dabei. Sie waren so nett zu uns, Ihnen vertraue ich.“
Eine halbe Stunde und einige Telefongespräche später saß John zusammen mit dem Ehepaar im Fond eines geräumigen Wagens mit abgedunkelten Scheiben. Ein größeres Aufgebot an Beamten der Metropolitan Police hatte sie im Laufschritt vom Tower bis zum Wagen eskortiert und sie so gut es ging vor den wartenden Presseleuten abgeschirmt.
In der nüchternen Eingangshalle des New Scotland Yard nahm der Superintendent sie persönlich in Empfang. Während er den Feldmanns die Hand schüttelte, hatte John die Gelegenheit, sich an einem widerwärtig aussehenden Pickel am Kinn seines Cousins zu erfreuen, der Whittingtons sonst so gepflegtes Erscheinungsbild beeinträchtigte.
Ich wette, der kommt von diesem grässlichen Schal, in den er sich bei der Schlüsselzeremonie gehüllt hat, fiel es ihm ein.
Whittington, der Johns belustigten Blick bemerkte, hob unwillkürlich die Hand an sein Kinn und wandte sich ihm mit säuerlichem Gesichtsausdruck zu.
„Welch außerordentliche Freude, dich hier zu sehen. Ich respektiere selbstverständlich den Wunsch dieser trauernden Eltern. Du wirst verstehen, dass unser eigener Dolmetscher dennoch bei der Vernehmung anwesend sein wird. Außerdem weise ich dich auf deine Schweigepflicht über alles, was du hier hörst, hin.“
John hielt seinem Blick stand, deutete auf den Pickel und erwiderte ungerührt, „Hast du es schon mit Zahnpasta versucht? In unserer fernen Jugendzeit hat das Wunder bewirkt gegen diese Dinger.“
Bei der folgenden Vernehmung erlebte John seinen Cousin zu seinem großen Erstaunen von einer völlig neuen Seite: Ernsthaft und ohne eine Spur seiner sonst üblichen Arroganz führte er die Befragung von Julias Eltern durch, zudem erwies er sich als guter Zuhörer. Wie ein Kaleidoskop entstand allmählich ein Bild der Persönlichkeit, die Julia Feldmann gewesen war.
Das ruhige und lernbegierige Mädchen, das am liebsten die Nase in ihre Bücher steckte, schien von Anfang an kaum in ihr ländlich geprägtes Umfeld gepasst zu haben. Ermutigt von einer verständnisvollen Lehrerin, hatte sie sich gegen ihre Eltern durchgesetzt und hatte nach der Grundschule täglich den weiten Weg mit dem Bus in die nächste Kreisstadt auf sich genommen, um auf das Gymnasium gehen zu können. Nach einem glänzenden Abschluss war sie auf die Universität gegangen, obwohl ihr Vater anfangs strikt dagegen gewesen war.
Mit den Jahren hatte er jedoch erkannt, dass dieser Weg für seine jüngste Tochter der Richtige war und er war stolz auf ihre Leistungen. Dass sie das Stipendium einer renommierten Studienstiftung erhalten hatte, war der Heimatzeitung ihres Ortes sogar eine Meldung wert gewesen, schilderte er bewegt.
„Und dabei hat sie zusätzlich zum Studium sogar noch gearbeitet, um uns nicht auf der Tasche zu liegen. Sie hat geputzt, gekellnert, alles. Für nichts war sie sich zu schade.“, ergänzte seine Frau.
„Hmm. Wirklich ein sehr zielstrebiges und fleißiges Mädchen. Hatte sie denn bei alledem je Zeit für Freundinnen oder Freunde?“
Diese Frage des Superintendenten hatte auch John sich insgeheim schon gestellt. Julias Eltern sahen sich eine Weile stumm an. Schließlich antwortete Mrs. Feldmann.
„Wissen Sie, das hat uns auch schon lange Sorgen gemacht. Julia hatte schon in der Schule kaum Freundinnen, weil die anderen Mädchen meistens andere Interessen hatten. Als sie angefangen hat, zu studieren, hat sie zuerst in einer Wohngemeinschaft gelebt, weil das preisgünstig war. Aber nach kurzer Zeit ist sie dort ausgezogen und hat sich ein kleines Apartment in einem Wohnheim gemietet. Die anderen würden sie mit ihren dauernden Partys vom Schlafen und Lernen abhalten, hat sie uns gesagt. An ihren Arbeitsstellen und bei den Praktika, die sie für das Studium gemacht hat, ist sie mit allen gut ausgekommen. Aber sie hat nie davon erzählt, dass sie sich auch in der Freizeit mit den Kollegen getroffen hätte.“
„Bis auf das eine Mal, Maria, kannst du dich erinnern? Als sie bei dieser Autofirma war.“
„Du hast recht, Hans, da hat sie sich wohl ein paar Mal mit einem Kollegen getroffen.“
John konnte das Glitzern in den Augen des Superintendenten sehen. „Bei welcher Firma war das?“
Herr Feldmann nannte den Namen eines bekannten deutschen Autoherstellers.
„Sie war dort direkt in der Konzernzentrale.“
Whittington wühlte sichtlich erregt in seinen Unterlagen und zog dann ein Foto heraus.
„Hat Ihre Tochter je den Namen Markus von Düntzen erwähnt?“ Verwirrt schüttelten beide Feldmanns den Kopf.
„Nein. Sie dürfen mir glauben, wenn Julia den Namen eines Mannes erwähnt hat, dann habe ich mir das gemerkt.“, sagte Frau Feldmann ein wenig verlegen. Whittington sah enttäuscht aus. Nun zeigte er den beiden das Foto, das er in der Hand gehalten hatte.
„Das ist der Mann – haben Sie ihn oder ein Bild von ihm je bei Julia gesehen?“
„Nein, tut mir leid. Wer ist das?“ Bevor der Superintendent Mrs. Feldmanns Frage beantworten konnte, war John mit einem Mal klar, wer dieser Mann war: Mr. Wichtig! Nun fiel ihm auch wieder ein, dass dieser ihm erzählt hatte, er wäre CFO bei just jenem Autobauer, bei dem Julia Feldmann ein Praktikum absolviert hatte. Bevor John diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, ließ Whittington die nächste Bombe platzen.
„Wir haben im Rucksack Ihrer Tochter Spuren von MDMA – also Ecstasy – gefunden. Hat sie Ihres Wissens je Drogen konsumiert?“
John zog scharf die Luft ein. Nach einem vernichtenden Blick seines Cousins beeilte er sich, zu übersetzen. Die Feldmanns sahen ihn an, als wäre er von einem anderen Stern. Dann erhob sich Mr. Feldmann unvermittelt.
„Ich weiß zwar nicht, was das ist, das Sie da gefunden haben wollen. Aber meine Tochter hat mit Sicherheit nie Drogen oder sonst ein Teufelszeug genommen. Und wir werden uns auch nicht länger anhören, wie Sie ihr so etwas unterstellen. Maria, wir gehen.“ Damit zog er seine Frau von ihrem Stuhl hoch.
Whittington schaute einen Augenblick verdutzt, dann nickte er dem Sergeant zu, der Protokoll geführt hatte. „Murdoch, lassen Sie die Limousine bereitstellen und bringen Sie diese Herrschaften zum Flughafen.“ Mit einem versöhnlichen Ausdruck wandte er sich an das Ehepaar, das unschlüssig im Raum stand.
„Wenn ich Sie schockiert haben sollte, bitte ich um Entschuldigung. Sie werden verstehen, dass ich allen Hinweisen nachgehen muss, wenn ich den Mord an Ihrer Tochter so schnell wie möglich aufklären soll. Wir werden Ihnen Bescheid geben, wenn wir noch Fragen haben. Einstweilen wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise.“ Er signalisierte John, das Ehepaar hinaus zu bringen.
John bemühte sich nach Kräften, die aufgebrachten Eltern ein wenig zu beruhigen. Beide bedankten sich höflich noch einmal für seine Hilfe und stiegen in den Wagen. John sah ihnen lange nach, auch als die Limousine aus seinem Blickfeld verschwunden war.
„Obwohl wir alles tun, was in unserer Macht steht, bleibt doch angesichts einer solchen Tragödie immer das Gefühl von …. Unzulänglichkeit, nicht wahr?“
John konnte nicht glauben, dass Simon Whittington diese Worte ausgesprochen hatte. Langsam drehte er sich um. Sein Cousin stand, eine Zigarette in der Hand, an einen Pfeiler gelehnt.
„Ja“, erwiderte er schließlich schlicht. Simon hatte ihm aus der Seele gesprochen. „Nichts, was wir tun, wird diesen Eltern ihre Tochter zurückbringen können.“
„Das Mindeste, was wir tun können, ist ihren Mörder zu finden. Und das werde ich.“ Damit drückte Simon entschlossen seine Zigarette aus und wandte sich um. „Komm noch einen Augenblick herein, John.“ Sie gingen nicht zurück in das Vernehmungszimmer, sondern in das Büro des Superintendenten.
Dieses entlockte John ein Schmunzeln: Hinter dem Schreibtisch hatte Simon nicht nur eine ganze Reihe Pokale aufgereiht – im Tennis und Golf war er immer schon ein Ass gewesen – sondern auch unzählige, liebevoll gerahmte Fotos aufgestellt. Bis auf eines, auf dem seine Frau Patricia an der Reling eines Schiffes zu sehen war, stand auf jedem Bild eine Person im Mittelpunkt: Simon Whittington. Simon mit dem Bürgermeister, Simon mit diversen weniger bekannten Angehörigen des Königshauses, immer wieder Simon auf Siegerpodesten von Sportwettkämpfen, Simon mit – John riss die Augen auf: Elton John! Sein Cousin hatte ihn mit einem überlegenen Lächeln beobachtet.
„Das ist auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für die Aids-Hilfe entstanden. Patricia hatte eine große Tombola dafür organisiert.“
Beide setzten sich. Angesichts der chronisch klammen Finanzen der Metropolitan Police musste Simon wohl selbst für die stilvolle Einrichtung seines Büros mit den dunklen Holzmöbeln und den breiten Ledersesseln gesorgt haben, dachte John bei sich, als er den Blick durch das Zimmer schweifen ließ.
„Patricias Innenarchitekt hat den Raum hier eingerichtet.“, beantwortete Whittington Johns unausgesprochene Frage. Dann wurde er wieder geschäftsmäßig.
„Schildere mir bitte den Besuch der Feldmanns im Tower von Anfang bis Ende. Jede Information kann wichtig sein.“
John überlegte ein wenig und bemühte sich dann, seine Gespräche mit dem Ehepaar möglichst vollständig wiederzugeben.
„Ihre Mutter sagte noch, dass Julia in den letzten Wochen seltener mit ihnen Kontakt aufgenommen hätte und dass sie dann oft übermüdet geklungen hätte.“, schloss er. Nachdenklich spielte Whittington mit seinem edlen Füller.
„Auch wenn ihre Eltern das nicht glauben können: Vielleicht hat das Mädchen ja doch auf chemische Substanzen wie MDMA zurückgegriffen, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen.“ John nickte zustimmend.
„Das ist durchaus vorstellbar. Beim Militär werden teilweise immer noch „Müdigkeitskontrollpillen“ eingesetzt, zum Teil mit fatalen Folgen. Amphetamine, Ecstasy, Speed… in einer Kaserne findest du alles, ob legal oder illegal. Oft sind es gerade die besonders leistungsorientierten und ehrgeizigen Soldaten, die der Verführung, tagelang fit zu bleiben erliegen. Auch wenn sie zuvor keine Drogenkonsumenten gewesen sind.“
Simon sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an.
„Hm. Das Labor hat keine aktuellen Hinweise auf einen Konsum gefunden. Aber das heißt ja nur, dass sie während der letzten paar Tage nichts zu sich genommen hat. Wir warten jetzt noch auf das Ergebnis der Haaranalyse, um einen womöglich länger zurückliegenden Konsum zu überprüfen. Allerdings wird dies noch einige Tage dauern.“ Er klappte die Akte zu.
„Was ist mit diesem Deutschen? Denkst du, er hat etwas damit zu tun?“, bemühte sich John hastig, noch ein paar Informationen zu ergattern, bevor ihn sein Cousin hinauskomplimentierte. Simons Gesicht erhellte sich.
„Das könnte eine vielversprechende Spur sein. Da die Eltern bestätigt haben, dass Miss Feldmann ihr Praktikum in der Konzernzentrale absolviert hat, in der auch von Düntzen beschäftigt ist, werde ich nun die deutsche Polizei um Amtshilfe bitten. Wenn ich Belege bekomme, dass die beiden sich kannten, kann ich ihn zum Verhör einfliegen lassen.“ In seinen Augen glitzerte es triumphierend.
„Wenn ich ihm nun noch nachweisen kann, dass er früher schon im Tower war und die örtlichen Gegebenheiten kannte, dann ist er dran.“
„War er aber nicht, genauso wenig wie die anderen, die am Mordabend bei der Schlüsselzeremonie waren. Wir haben das für alle Besucher geprüft. Mein Kollege Michael Conners hat die Aufzeichnungen der letzten fünfzehn Jahre durchgesehen, seit wir die Namen im Computer erfassen.“ Misstrauen keimte in Whittingtons Blick auf.
„Soso, da stellt ihr wohl eure eigenen Nachforschungen an, was? Wir werden das noch einmal überprüfen müssen.“ John zuckte mit den Schultern und lächelte unverbindlich.
„Ich wollte dir lediglich mit einer Information behilflich sein.“ Nun war Simon endgültig auf der Hut.
„Amateure, die meinen, sich in die Polizeiarbeit einmischen zu müssen, sind mir ein Gräuel. Ich habe die Sache im Griff und werde sie auch zu Ende bringen. Sollte ich Wind davon bekommen, dass du und deine Beefeater-Kollegen sich in meine Ermittlungen einmischen, werde ich rücksichtslos gegen euch vorgehen. Verlass dich drauf.“ Damit stand er auf. John erhob sich ebenfalls.
„Schade, dass der alte Simon nun wieder da ist. Heute hatte ich einige Momente lang doch noch die Hoffnung für dich, dass du dich zu einem menschlichen Wesen entwickeln könntest. Jemand, mit dem man sich wirklich auf einer Ebene austauschen könnte. Aber da bin ich wohl einer Illusion erlegen.“
Mit übertriebener Geste salutierte er.
„Sir. Bitte um Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen, Sir.“
Damit drehte er sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Kaum hatte John das Gebäude verlassen, bedauerte er seinen Ausbruch. Sehr erwachsen, John, wirklich sehr erwachsen, schalt er sich. Nun hatte er die Chance vertan, weitere Informationen über den Fall von seinem Cousin zu erhalten. Nachdem er heute durchaus geneigt gewesen war, John an den Ermittlungen teilhaben zu lassen, würde Simon sich von nun an mit Sicherheit wieder bedeckt halten. Verärgert über sich selbst stieg John in die U-Bahn und fuhr zurück zum Tower.